Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 31
Neunundzwanzig
ОглавлениеMit ungläubigem Staunen liess der Doktor immer wieder seine Zeit in Grönland Revue passieren.
Es war Ende Februar gewesen, als er ankam, und die ewige Nacht war seit einem Monat zu Ende; doch die kurzen Grüsse, welche die Sonne gegen Mittag über den Horizont schickte, hatten etwas Unwirkliches. Der Doktor brachte die grellen Strahlen, die auftauchten und gleich wieder verschwanden, nicht mit einem richtigen Tag in Zusammenhang. Zwar litt er als Neuankömmling unsäglich unter der Kälte, gleichzeitig aber fühlte er sich wohltuend konserviert. Selbst seine Verdauung war bei der konsequent fleischlichen Ernährung ohne Ballaststoffe zum Stillstand gekommen. Sparsam und geizig verwertete der Körper fast alles, was ihm zugeführt wurde. Abfallstoffe fielen kaum an, und im Bauch des Doktors tat sich wochenlang nichts. Beobachtend horchte er in sich hinein und füllte Seite um Seite seines Notizbuches mit detaillierten Aufzeichnungen.
Schon im März aber begann sich das Leben schneller abzuspulen, was ihn beunruhigte. Sicherheit holte er sich in der stoischen Ruhe der Schneekönigin, die er lange und unverwandt anstarrte. Dabei war er sich nicht sicher, ob er wünschte, dass sie ihn bemerkte oder ob es ihm lieber war, wenn sie seine Indiskretion ignorierte.
Im Juni, als das Eis aufbrach, die Hundeschlitten versorgt und die Boote hervorgeholt wurden, ahnte der Doktor, dass seine Tage in Grönland gezählt waren. Aber noch war ihm eine Pause vergönnt, noch klammerte er sich an die trügerische Hoffnung auf ewiges Leben.
Anfang November fror die See wieder zu. An ein Fortkommen war nun nicht zu denken, und die dunkle, eiskalte Orientierungslosigkeit, die erzwungene Bewegungslosigkeit behagten dem Doktor. Er horchte in sich hinein und hatte tatsächlich das Gefühl, weniger Leben zu verbrauchen. Im kommenden Frühling aber ging die leichte Unzufriedenheit der Kollegen mit seinen Leistungen in handfeste Kritik über. Sobald das Eis aufbrach und das Meer freigab, sobald der Winterwind nachliess und Flugzeuge starten und landen konnten, würde er Grönland verlassen müssen. Verzweiflung nagte am Doktor und liess ihn spindeldürr werden. Die Aussicht auf eine gefährliche Reise setzte ihm ebenso zu wie das Bedauern darüber, dass er das gute Gefühl von Konserviertheit würde zurücklassen müssen. Nun hoffte er mit aller Macht darauf, wenigstens ein Stück Ewigkeit mitnehmen zu können. Sobald er den Mut dazu aufbrachte, würde er seine Schneekönigin fragen, ob sie ihn als seine Frau nach Europa begleite.