Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 28
Sechsundzwanzig
ОглавлениеDas Gesicht der Schneekönigin war abweisend wie das ewige Eis. Der Doktor, der so quälend wach war, als habe er literweise Kaffee in sich hineingeschüttet, wagte es erst in den frühen Morgenstunden nach langem, schweigendem Nebeneinander, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Kühle Hand auf kalter Haut.
„Du solltest dir das Kind ansehen“, schlug er zaghaft vor. Es ist winzig und schwach. Vielleicht wird es nicht leben.“
Sie öffnete die Augen. Die pupillenlose Schwärze überraschte ihn einmal mehr. Er verwarf den Eindruck, sie habe eine Sekunde lang erfreut ausgesehen, als absurd.
„Ein Mädchen?“ In ihrer dunklen Stimme war eine Erinnerung an grönländisches Inuktitut, auch wenn sie fliessend Englisch und inzwischen auch gebrochen Deutsch sprach. Inuktitut war eine seltsame und nicht zu erlernende Sprache, deren Klang er mochte.
„Ja!“, sagte er nur.
„Ist es hässlich?“, fragte sie.
„Nun, es ..., es ... sieht ein bisschen aus wie ein zwergenhaftes, rothaariges Schneewittchen, weißt du!?“, versuchte er zu beschönigen. Erst jetzt wunderte er sich selbst über Schneewittchens rote Haare. Der Doktor kam aus einer dunkelhaarigen Familie und die glatten, dicken Haare seiner Frau waren nachtschwarz mit einem Stich ins Blaue. Sie heftete ihren unerbittlich forschenden Blick auf ihn, sodass er klein beigab: „Ja, es ist hässlich.“
Sie schwiegen. Er zog seine Hand zurück und seine Seele kam ihm vor wie ein Haus mit mehr Zimmern, als man in einem Leben kennen lernen kann, mit endlosen Gängen, Treppen und dunkeln Winkeln, aber ohne Fenster und funktionierende Lichtschalter. Eine ganze Weile irrte er umher in den düsteren Kammern seines Ich und suchte nach einer sinnvollen Aufmunterung für seine Frau.
„Es sieht begabt aus“, flüsterte er schliesslich. Sie löste den Blick von der Zimmerdecke und starrte ihn böse an, und er begriff, dass sie nun auf der Hut war vor möglichen, später auftauchenden Talenten, die grösser sein mochten als ihre eigenen. Wie der Doktor war auch die Schneekönigin Forscherin mit Leib und Seele, und sie duldete keine Überlegenheit anderer.
Der Doktor stand auf und ging auf die Terrasse hinaus, um in der kühlen Nachtluft vor sich hin zu bibbern. Seine Augen brannten, blieben aber trocken, wie immer, wenn er gerne geweint hätte. Und wie stets nach einem ausführlicheren Gespräch mit der Schneekönigin quälte ihn die Überzeugung, eines übers andere Mal das Falsche gesagt zu haben. Er durchquerte weitere Zimmer und Gänge seiner Seele und verirrte sich hoffnungslos in sich selbst.