Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 21
Neunzehn
ОглавлениеNach Schneewittchens Geburt verharrte die Schneekönigin in regloser, vielleicht auch gedankenloser Starre, während der Doktor das Baby mit der Flasche fütterte. Einige Male schon hatte er sich seiner Frau unentschlossen genähert mit der Absicht, ihr prüfend an die Brüste zu fassen. Sie hätten so kurz nach der Geburt prall und voller Muttermilch sein müssen, aber der Doktor fürchtete sich dann doch vor der Empörung über solch einen Übergriff, und so liess er eine nähere Untersuchung bleiben.
„Was erwartest du?“ fragte William mit leisem Hohn. „Etwa eine warme Flüssigkeit wie Muttermilch?“
Der Doktor antwortete seinerseits mit einer Frage: „Was denkst du, nimmt sie wahr, wenn sie in diesen Zustand hinabsinkt?“
William, der ahnte, wie sehr es den Doktor reizte, Experimente an der Schneekönigin durchzuführen, die ihn in seiner Arbeit weiterbringen könnten, liess die Frage des Doktors lachend unbeantwortet. Seiner Meinung nach wäre es nutzlos gewesen, die Grönländerin in allgemeingültige Untersuchungen und Statistiken einfügen zu wollen, funktionierte sie doch so ganz und gar anders als jedes andere menschliche Wesen. Ihr Tod würde mit Sicherheit ein anderer sein als der des Doktors. Und ob ihre Lebensuhr während ihren Abwesenheiten weitertickte, würde nie jemand in Erfahrung bringen. Allerdings beschäftigte die Sache William nur am Rande, während sich der Doktor unentwegt fragte, ob man Lebensenergie einsparen konnte, indem man vorübergehend nichts oder wenig davon verbrauchte.
„Ich liebe sie trotz allem“, erklärte der Doktor unvermittelt.
William sah auf ihn hinunter, strafend und voller Mitleid. Aber bevor der Doktor noch die Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten, in Worte fassen konnte, erwachte die Schneekönigin aus ihrer Starre, und als das Bewusstsein in ihre Augen zurückkehrte, fielen ihre wissenschaftlichen Diplome von der Wand. Das Glas der Wechselrahmen barst, und als der Doktor sich bückte, um die Splitter aufzuheben, wunderte er sich, wie kalt sie waren.