Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 7
Fünf
ОглавлениеDas war es, was man Meier immer vorwarf. Er war zu weich. Deswegen war er auch immer ein einfacher Wachtmeister geblieben. Einer, dem es nicht gelingt, Fälle wie Trophäen auf eine Schnur zu fädeln und mannhaft und stolz um den Hals zu tragen, kann nicht aufsteigen.
Meier hoffte, nie wieder auf diesen Hans Christian zu treffen, machte sich aber gleichzeitig wenig Hoffnung, dass ihm der Wunsch erfüllt werden würde. Stadtstreicher scheinen multiple Persönlichkeiten zu haben. Sie sind gleichzeitig überall. Wenn Meier die Augen schloss, sah er Hans Christian am Rheinufer, wo er Schuhe und Koffer flickte, die in den Müll gehört hätten. Er sah ihn schlafend unter Brücken, in Weidlingen. Vor allem aber sah er ihn gierig essend. Er sass an Parkbäume gelehnt und kaute, als habe er Angst um seine Beute. Einen solchen Hunger hatte Meier noch nie gesehen. Eine solche Magerkeit auch nicht. Hans Christians Hunger beschäftigte ihn, sobald ihn nichts anderes beschäftigte.
An einem kalten Februarsonntag, an dem er frei hatte, wollte es ihm ganz und gar nicht gelingen, die Gedanken von diesen mahlenden Kiefern loszureissen. Er war im Kino gewesen und die Handlung des Streifens war als spannend beschrieben worden, jedenfalls, wenn man ausnahmsweise der Zeitung glauben durfte, aber nun konnte er sich nicht an sie erinnern. Er kaufte eine grosse Tüte mit heissen Maroni und schlenderte ziellos geradeaus. Die Bewegung und die Maroniwärme in der Magengegend taten gut und er ging weiter und weiter, und obwohl er immer geglaubt hatte, seine Stadt wie seine Hosentasche zu kennen, fand er einen Hügel, wo er keinen vermutet hatte, eine Villa, die gut und gerne zehn oder mehr Menschen hätte Unterkunft bieten können und einen frostverhüllten Garten hinter einem kunstvoll geschmiedeten Tor. Er zuckte zusammen, als er das Knacken und Knirschen von Gelenken hörte und riss die Augen auf vor Staunen, als er sich unvermittelt einem grossen Ren gegenüber sah. Über einem aus Zotteln und Fransen bestehenden braunen Haarkleid wucherte zusätzlich ein kürzerer weisser Winterbehang, der lediglich den Rücken bedeckte. Meier hatte Rentiere lange für phantastische Kreaturen gehalten, sogar für eine Sinnestäuschung von Menschen, die monatelange Dunkelheit und extreme Kälte nicht vertrugen.
Jetzt musterten sich Mensch und Tier durch das mit einander zugewandten Fischen verzierte Tor, und Meier sagte sich klipp und klar, dass er entweder träumte oder dabei war, verrückt zu werden. Schliesslich streckte er dem Tier seine letzte Maroni entgegen, und das Ren biss entschlossen zu. Seine Zähne gruben sich in Meiers Handrücken, er glaubte das Zerreissen von zähem Fleisch, das Mahlen von Kiefern und ein würgendes Schlucken zu hören. Meier dachte voller Verwunderung daran, dass er einen reinen Pflanzenfresser vor sich hatte. Er fühlte keinen Schmerz, nur entsetztes Erstaunen, und während er sein Taschentuch um die blutende Hand wickelte und sich eilends auf den Weg zurück in die Stadt machte fragte er sich, was er seinem Hausarzt erzählen sollte. Würde der einen Patienten, der eine wirre Geschichte von einem fleischfressenden Ren erzählte, auf das er in Basels Aussenquartieren gestossen war, nicht in die Psychiatrie einweisen?
Wenigstens waren für den Moment der klapperdürre Hans Christian und sein Hunger vergessen.
Alles, was Meier sich wünschte, während er sein nicht ganz sauberes Taschentuch auf die Wunde presste war, die Villa nie wieder zu sehen. Und wie die meisten Wünsche Meiers sollte sich auch dieser nicht erfüllen. Tief in ihm drin war schon jetzt eine Ahnung von einer lebenslangen Aufgabe.