Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 16
Vierzehn
ОглавлениеWilliam war in Eile, wie immer, wenn er zu einem Schliessfach unterwegs war. Der Doktor fand, es sei offensichtlich, dass der alte Arzt über ein nicht unbeträchtliches Vermögen verfügte, denn er nannte mehrere Villen an der Côte d’Azur sein eigen, die er aber nur selten bewohnte. Einen Kleiderschrank oder einen Koffer aber besass er nicht, und meist war er damit zufrieden, als Gast des Doktors in der Villa zu leben. Was er hingegen hütete wie seinen Augapfel war ein dicker Bund mit Schlüsseln in allen Grössen und Formen, und nur ein einziges Mal, als der Doktor ihn in einer aussergewöhnlich dreisten Anwandlung scherzhaft gefragt hatte, wie viele Leichen er in wie vielen Kellern oder Schliessfächern in wie vielen Ländern aufbewahre, war ihre Freundschaft ernsthaft ins Wanken geraten. Was die Schliessfächer in aller Welt betraf, zu denen William die Schlüssel am Gürtel trug, verstand er keinen Spass, und so erzählte er dem Doktor die Wahrheit darüber; eine Wahrheit, die der Doktor für einen gelungenen Scherz eines geborenen Geschichtenerzählers und für eine haarsträubende Ausrede hielt. Er dachte nicht daran, William zu glauben, dass er seine blütenweissen Hemden, seine Unterwäsche, sein ganzes Geld, seine angefangenen Manuskripte und die Reiseschreibmaschinen, auf denen er sie verfasste, in Schliessfächern auf den Bahnhöfen und Flughäfen dieser Erde aufbewahrte. Williams Aussagen, er brauche ein Hemd, frische Unterwäsche oder Geld für Zigaretten, die ihn jeweils gehetzt aufspringen und überstürzt das Haus verlassen liessen, waren nach der Meinung des Doktors Euphemismen für „Jetzt hab ich aber genug! Ich muss endlich wieder mal weg hier!“
Nach der Geburt des Kindes war Williams Hemd mit Blutspritzern übersät. Er wusch sich in grösster Eile die Hände, und der Doktor sah missmutig zu, wie er dabei die Wand bekleckerte.
„Wo gehst du hin?“ fragte er und hob hilflos das leichte Bündel in seinen Armen an, als William mit grossen Schritten an ihm vorbeistürmte.
„Nach Prag!“ rief der alte Hausarzt über die Schulter zurück. „Ich brauche ein frisches Hemd.“
Er liess die Tür offen stehen und schlüpfte auf der Strasse in seine Schuhe. Die Pantoffeln blieben auf dem Gehsteig liegen. Frische Nachtluft strömte herein und sie und das leise Stöhnen der Frau, die aus dem Chloroformrausch erwachte, erinnerten den Doktor daran, dass der Tag noch immer nicht zu Ende war.