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Vier

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Wachtmeister Meier redete laut mit sich selbst. Er wandte sich an die kahlen Bäume, die schaukelnden Kähne auf dem Rhein. Von Einfühlungsvermögen sprach er, von Mitleid, von Intuition gar, ohne die sein Beruf.... Ach, was soll’s. Moser ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie waren wieder einmal aneinander geraten. Und Moser war beleidigend geworden. Wie immer. Eigentlich, sagte Meier zu den Kähnen, war die Tatsache, dass sie bei jedem Zusammentreffen aneinander gerieten, eine logische Folge der völligen Verschiedenheit ihrer Charaktere. Meier spuckte verächtlich übers Geländer. Genau genommen müsste Moser von Einfühlungsvermögen sprechen, von Mitleid, denn Moser war eine Frau, auch wenn Meier sich dies immer wieder bewusst vor Augen führen musste. Angesichts fast fehlender Brüste, eines so flachen Hinterns und so männlich-breiter Schultern dachte man nicht an eine Frau. Nicht sofort jedenfalls, sagte Meier laut und stieg schwerfällig die hohen Stufen hinunter, um sich nahe ans Wasser zu setzen.

Als er den langen Menschen sah, der hastig in Schuhe und Jacke fuhr und den ausgebeulten Koffer unter den Arm klemmte, als fühlte er sich schuldig und ertappt, seufzte der Wachtmeister. Ihm war nicht danach, ein verwahrlostes Subjekt zwecks Überprüfung anzuhalten.

„Hast du schon gegessen?“ fragte Meier stattdessen, und der Lange blieb stehen, drehte sich zögernd um und kam zurück, langsam, ängstlich wie ein zu oft geprügelter Hund. Meier fummelte in seinen Taschen. Er liebte es, nach der Spätschicht am Rheinufer zu essen und mit sich selbst zu sprechen.

„Schinken“, zählte er auf, „harte Eier, Salz, getrocknete Tomaten in Olivenöl, trockene Kekse. Mit Schokolade wären sie mir auch lieber“, gestand Meier, „aber wenn die schmilzt, ist die Uniform hin. Das Attribut ‚zartschmelzend’ wird, wenn es um Schweizer Schokolade geht, sonst zwar meist positiv gewertet.“

Er grinste vielsagend.

Das Brot zog er aus der Dienstmappe. Er wischte das Schweizer Taschenmesser an der Hose ab, bevor er den Laib in regelmässige Scheiben schnitt.

„Hast du Essiggurken?“ fragte er den Streuner, „auf Essiggurken hätte ich jetzt Lust.“

Der Lange antwortete nicht. Sein Blick hing so begehrlich an Meiers ausgebreiteten Vorräten, als esse er mit den Augen statt mit dem Mund. Meier belegte eine Brotscheibe mit Schinken und Tomaten und hielt sie ihm hin.

„Wie heisst du?“ fragte er.

„Hans Christian“, murmelte der Lange undeutlich. Er hatte bereits die Backen voller Brot.

„Er kaut, als hinge sein Leben davon ab“, dachte Meier.

Hans Christian rückte näher, und Meier reichte ihm mehr Brot, ein Ei und das Salzfässchen. Der Mann roch wie eine ganze Schusterwerkstatt, und Meier sah aus dem Augenwinkel eine frische Leimspur auf dem löchrigen linken Schuh und einen noch leimfeuchten, länglichen Flicken über einer sehr dünnen Stelle an der Schmalseite des Koffers.

„Schuster von Beruf, was?“ fragte Meier.

Der Lange schüttelte den Kopf. „Mein Vater“, sagte er und duckte sich, als erwarte er eine Ohrfeige. „Mein Vater ist Schuster.“

„Und du?“

„Nichts“, sagte der Lange träge und schuldbewusst.

Meier seufzte und räumte die Picknickreste in seine Dienstmappe. Nichts war wenig. Aber er hatte Feierabend.

Hans Christian, wenn er denn so hiess, stand hastig auf, wischte sich die Hände an der schmierigen Hose ab, vergass, sich fürs Essen zu bedanken und ging mit unbeholfen schlenkernden Schritten dem Rheinufer entlang davon.

„Ich erzähle Geschichten“, nuschelte er noch.

„Das ist fast so viel wie nichts“, dachte Meier verdutzt.

Nach wenigen Metern verschluckte die frühe Dunkelheit den Streuner.

Die Sanduhr

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