Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 19
Siebzehn
ОглавлениеEthnologen sahen den Grund für die erstaunliche Tatsache, dass grönländische Kinder nicht weinen in der Geborgenheit, die sie erfuhren. Sie wurden sofort nach der Geburt in Tierfelle verpackt und ständig herumgetragen. Erwachsene ganzer Sippen rissen sich darum, die federleichten Bündel zu halten und zu schaukeln.
Die Frau des Doktors hatte davon gelesen.
Sie lächelte nie, aber in ihre Augen kam ein spöttischer Glanz, als sie darüber nachdachte, wie gründlich falsch die gelehrten Damen und Herren mit ihrer Annahme doch lagen. Nicht Geborgenheit liess die Kinder verstummen, sondern Ehrfurcht. Ehrfurcht vor der Ewigkeit, vor der in Polarnähe verhalten vorübertickenden Zeit verschloss die kleinen Münder und machte die Gesichtchen klug und wissend. Weinen, Lachen, laute Worte oder heftige Gefühle und plötzliche Bewegungen hätten das aus Milliarden von Eiskristallen bestehende Versprechen von Ewigkeit bersten lassen können.
Der Laute nähme sein eigenes Spiegelbild in der blauglitzernden Tiefe wahr und stünde gleich darauf, eines unbedachten Geräusches wegen, in tiefem Erschrecken vor einem leeren Rahmen aus trostloser Landschaft, die Zusicherung von der eisigen Konservierung allen Lebens und der Besiegbarkeit des Todes als Scherbenhaufen zu seinen Füssen. Laute Geräusche und die Ewigkeit schlossen einander aus.
Wenn Schneewittchen weinte, schmolzen die Hoffnungen der Schneekönigin darauf, dass die Ewigkeit eines Tages genug Kraft haben würde, um mit kalten Gletscherzungen die ganze Erde zu belecken, dahin wie Schnee an der Sonne. Schneewittchens Mutter hüllte sich in eine dicke Schicht ihrer eigenen Kälte, und das Weinen des Kindes wurde schwächer und vermochte bald gar nicht mehr zu ihr durchzudringen. Sie rührte sich nicht, und das langsame Kriechen ihrer Gedanken über gefrorene Oberflächen tröstete sie.