Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 12

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Die Stadt schlief und nur in der Villa auf dem Hügel brannte noch Licht.

„Konzentrier dich!“ befahl Williams schneidende Stimme. Mit einer raschen Bewegung liess er das schwarze Pferd vorpreschen und wischte den Läufer des Doktors vom Brett. Der Doktor seufzte schwermütig. Er suchte vergebens im braungebrannten, von unglaublich vielen Furchen und Fältchen durchzogenen Gesicht des alten Arztes nach einem Funken von Erbarmen. Und wieder steigerte sich die Stimme der Frau hinter der geschlossenen Tür zu schrillem, verzweifeltem Kreischen.

William sah sein Gegenüber strafend an. Spöttisch zog er eine fragende Augenbraue hoch.

„Nun gib ihr endlich etwas!“ verlangte der Doktor matt. „Hörst du nicht, wie sie sich quält?“

Doch William winkte ab, mit einer jener grossspurigen Gesten, die zu seinem beeindruckenden Äusseren passte.

„Theater“, sagte er, „ihr Schreien ist nichts als Theater. Das Kind, das sie erwartet, ist winzig. Es kann ihr keine grossen Schmerzen bereiten. Sobald sie bereit ist, es in die Welt zu setzen, wird es mühelos aus ihr herausflutschen.“

„Sicher täuschst du dich, und es ist grösser als du denkst. Vielleicht liegt es auch quer und kann gar nicht auf natürlichem Wege geboren werden“, sorgte sich der werdende Vater.

„Ich täusche mich nicht“, brauste William unwillig auf. „Damals, als ich auf meine Approbation hinarbeitete ...“

„Achtzehnhundertsechsundneunzig, ich weiss“, ergänzte der Doktor.

„... habe ich in zwei Monaten im Londoner East End zweihundertsiebenundachtzig Frauen entbunden. Dreissig Geburten wären vorgeschrieben gewesen. Aber die Sterne standen günstig für Geburten. Oder es hatte neun Monate vorher Stein und Bein gefroren sodass, wer nach dem wärmsten Zeitvertreib suchte, nicht lange überlegen musste. Ich habe geackert wie ein Gaul. Ich war mehr Stunden am Tag blutverkrustet und mit seltsam riechenden Flüssigkeiten parfümiert, als ich sauber war. Also erzähl du mir nicht, wie man die kleinen Racker auf die Welt holt.“

Der Doktor nickte unentwegt mit dem Kopf wie einer, der eine abgedroschene Geschichte zum tausendsten Mal hört. Noch dazu widerte ihn die Geschichte an, und er hätte viel darum gegeben, sie nicht wieder hören zu müssen. Gedankenverloren rückte er seinen Turm in eine höchst ungünstige Position.

„Wenn ich gewinne, gibst du ihr etwas“, wagte sich der Doktor in plötzlicher Eingebung vor.

William schlug sich amüsiert auf die Schenkel.

„Du hast noch nie gewonnen, mein Lieber!“

Er griff nach dem Turm und sagte beiläufig: „Schach!“

„Ich gebe auf“, sagte der Doktor. „Siehst du nun nach ihr?“

„Warum siehst du nicht nach ihr?“ fragte William, nachdem das Schreien der Frau wieder abgeklungen war. „Schliesslich bist du Arzt, und ein Arzt ist so schlecht wie der andere.“

„Ich kann kein Blut sehen“, gestand der Doktor bedrückt, und bei dem Wort ‚Blut’ verfärbte sich seine Nasenspitze ins Grünliche und er wurde noch blasser, als er schon war.

William zog erstaunt beide Augenbrauen bis an den schütteren Haaransatz hinauf. Er tat, als sei ihm diese Tatsache neu.

„Nun gut“, lenkte er ein, „wenn dir so viel daran liegt, sehe ich nach ihr. Weißt du, damals, im East End wurde ich einmal morgens um zwei Uhr zu einer Frau gerufen, die ...“

Beide standen auf, William mit energischem Ruck, der Doktor schwankend wie eine hohe Tanne im Wind. Der Doktor krallte sich an Williams Arm.

„Ich kenne die Geschichte. Bitte erspar mir die Details!“

William liess mit Knurren und leisem Bedauern die Erinnerung an den grauenhaftesten Fall seiner Laufbahn als Gynäkologe fallen. Er stand auf und streckte sich genüsslich. Nun konnte er bequem auf den um einen halben Kopf kleineren Doktor hinuntersehen, der mit seinen hundertachtzig Zentimetern selbst kein Zwerg war.

„Ich gebe ihr etwas“, versprach William listig, „- wenn du mitkommst. Sie ist schliesslich deine Frau, unsere Schneekönigin. Und sie bekommt dein Kind.“

Er öffnete schwungvoll die Tür. Der Doktor hielt sich am Türrahmen fest.

„Ich bin ...“

„... Forscher“, ergänzte William, „kein Praktiker. Das Leben interessiert dich nur theoretisch, und die Wirklichkeit ist dir zu blutig, zu klebrig, zu unappetitlich, zu bedrohlich, zu theatralisch und auch zu schnell vorbei. Aber an den Theorien, mein Lieber, hat die Menschheit weder gegessen noch ausgelitten.“

Er träufelte eine farblose Flüssigkeit auf eine Gazemaske und stülpte sie der Patientin übers Gesicht. Der Doktor schnüffelte prüfend in die Luft.

„Chloroform?“ fragte er fassungslos. „Bist du nicht etwas altmodisch?“

„Ich bin alt, nicht altmodisch“, belehrte ihn William. „Ich bin sogar sehr alt; sozusagen fossil. Ausserdem praktiziere ich ebenso wenig wie du. Ich habe meinen Beruf an den Nagel gehängt ...“

„Als du als Schriftsteller erfolgreich wurdest. – Und das war ein paar Wochen, nachdem du dein Diplom erhalten hattest“, ergänzte der Doktor mechanisch.

„Um aufs Chloroform zurückzukommen“, sagte William jetzt, „so hat es Vorteile. Es betäubt nicht nur den Schmerz. Es entkrampft auch die Muskeln. Und es lähmt den Willen.“

Der Doktor machte eine abwehrende Handbewegung. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber bevor er noch entschieden hatte, welche von ihnen er William zuerst stellen wollte, wandte ihm der Freund und Hausarzt den stechenden Blick zu.

„Sie will kein Kind. Ich nehme an, dass dir diese Tatsache bekannt ist. Sie will nicht, dass ihr ein Kind zwanzig Jahre lang das Leben schwer macht. Sie ist Forscherin – wie du. Sie ist beschäftigt, auch ohne Kind.“

Der Doktor sah stumm auf seine Schuhe hinunter.

Das Chloroform tat seine Wirkung. Die Atemzüge der Frau wurden ruhig, die Muskeln erschlafften, und ihr Körper gab das Baby mühelos frei. William wickelte das Kind, das leise gurgelte wie ein ertrinkendes Kätzchen, in ein Tuch. Er wischte ihm mit einer Zärtlichkeit, die den Doktor erstaunte, das Gesichtchen sauber und legte das Bündel dem frischgebackenen Vater in die unbeholfenen Arme. Der Doktor hatte eine Tochter, und sie war genau so winzig, wie William es vorausgesagt hatte.

Die Sanduhr

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