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Neun

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Seit dem 17. Januar schon schaffte es die Sonne über den Horizont. Im März stand sie drei Stunden täglich am Himmel, aber die Temperaturen verharrten bei minus 30 Grad. Der Doktor, der zu Beginn unsäglich unter der Kälte gelitten hatte, genoss diese nun. Er fühlte sich wohl und irgendwie konserviert, was er als tröstlich empfand. Im April störte ihn die zunehmende Helligkeit, und im Mai bedrohte sie ihn. Grönland erwachte. Das Leben spulte sich von Tag zu Tag schneller ab. Dicke Fliegen surrten an den Fensterscheiben des Container-Guest-Houses, wo die Forscher ihre kargen quadratischen Zimmerchen mit persönlichen Noten versehen hatten, weil sie länger zu bleiben gedachten. Alle hatten sie sich ein behelfsmässiges Labor eingerichtet, zwei besassen teure Mikroskope, einer versuchte über allerlei geheimnisvolle Drähte europäische Radioprogramme zu empfangen, vier hatten ihre Zimmerchen mit Nachschlagewerken vollgestopft, nur dem Doktor genügten Papier und spitze Bleistifte.

Im Juni kamen unzählige junge Tiere zur Welt. Walrosse und Seehunde guckten neugierig aus den Löchern im aufbrechenden Eis. Lärmige Zugvögel kehrten aus dem Süden zurück in ihre nicht mehr so kalte und lebensfeindliche Heimat, und auch sie wurden in aller Eile – ein arktischer Sommer ist kurz – Eltern von unzähligen lauten Jungen. Der Doktor dachte vor allem beim Anblick von Insekten unweigerlich an Fortpflanzung, und der Gedanke widerte ihn an.

Ende Juni war der Fjord soweit vom Eis befreit, dass er mit Schiffen befahren werden konnte. Im Dorf gab das Eis eine schmutzverkrustete Geröllhalde frei, und die strahlenden Farben der bunten Häuschen wirkten wie eine fade Entschuldigung für so viel Unrat und üble Gerüche.

Wo das Leben schnell abläuft, kommt der Tod schnell und unaufhaltsam näher. Kälte konserviert Leben, während Sonnenwärme seinen Zerfall beschleunigt, und den Doktor schmerzte alles Heiter-Sommerliche; flatternde Wäsche, spielende Kinder, lachende und feiernde Menschen, üppige Sommermahlzeiten, tollpatschige junge Tiere und vor allem Sonne im Übermass. Ihre Strahlen waren tatsächlich warm und so grell, dass das Tragen von dunklen Brillen zur Pflicht wurde.

Der Doktor suchte seine Schneekönigin jeden Tag unzählige Male mit dem Blick und holte sich Sicherheit und Trost in ihrer stoischen Ruhe. Ihre schwarzen Augen verlangten nicht nach schützenden Brillen, und ihre braune Haut veränderte sich nicht, während der Doktor und seine Kollegen längst unter schmerzhaften Sonnenbränden litten. Sie lachte selten, sie freute sich nicht am Sommer, sie liess sich nicht ablenken und führte ihre Studien mit jener Langsamkeit durch, die die Zeit stillstehen liess. Dass die Zeit still stehen möge, wünschte sich der Doktor mehr als alles andere auf der Welt.

Die Sanduhr

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