Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 20

Achtzehn

Оглавление

Der Doktor füllte ein Notizbuch nach dem anderen mit seiner engen Schrift und der ewig gleichen Erkenntnis, dass Kälte konserviert, während Hitze den Zerfall beschleunigt.

Die wöchentlichen Meetings der Gruppe, bei welchen Erfahrungen und Ergebnisse ausgetauscht und diskutiert wurden, liess er mürrisch und in abweisendem Schweigen über sich ergehen, sodass niemand Lust verspürte, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Er hatte die Mitarbeit am Projekt über Vitaminversorgung in der Arktis an einem seiner ersten Tage in Grönland aufgegeben. Nun war er ein Fremdkörper in der lebhaft diskutierenden Gruppe.

Als die Männer und Frauen zur Feldforschung aufbrachen hielt er die Tatsache, dass zwei der Inuit Gewehre trugen, für einen Witz. Er rechnete nicht damit, dass sie in dem seltsamen, schweren Dunkelgrau des Februartages Tiere sehen würden. Falls doch, würden sie sie vermutlich bewundernd beobachten, aber sicher nicht erschiessen.

Er täuschte sich. Nach einer Schlittenfahrt, die ihn wimmern liess vor Kälte und nach einem anstrengenden Fussmarsch durch eine unwegsame Stein- und Eiswüste stand er überraschend vor ihnen. Nanuk der Eisbär, liess ein gereiztes Drohgeräusch hören. Einer der Inuit legte das Gewehr an und schoss. Einen Augenblick lang blieb Nanuk stehen, als könne er nicht glauben, was ihm widerfuhr, dann ging er in die Knie und fiel aufs Gesicht. Dass die Lache, die sich unter ihm ausbreitete dunkelrot war, ahnte der Doktor mehr, als dass er es sah.

Mit vereinten Kräften wälzten Forscher und Jäger den Bären auf den Rücken, trennten das kostbare Fell vom Körper und schnitten das noch warme Fleisch in Stücke. Kleine, besonders leckere Bissen wurden roh verzehrt, und die lachenden Münder mit den blutroten Lippen hatten etwas Groteskes. Die Schneekönigin hatte den linken Handschuh ausgezogen. Auch ihre Finger waren blutig.

Der Doktor wandte sich ab von diesen unwirklichen, wie in Zeitlupe ablaufenden Ereignissen. Die plötzliche Einsicht, dass Bewohner der Arktis benötigte Vitamine zu einem grossen Teil aus dem Verzehr eben getöteter, noch blutender Tiere bezogen, liess ihn das vorgegebene Thema endgültig fallen. Er versank gründlich in seinen eigenen, ganz andere Wege gehenden Gedanken. Natürlich hatte er sein Notizbuch dabei und er widmete sich ganz seinen Aufzeichnungen, während die Einzelteile des Bären auf die Hundeschlitten verladen wurden.

Später schnitt die Schneekönigin die inneren Organe von Nanuk in der Küche des Guesthouses mit einem speziellen Gerät in ganz dünne Scheiben, um unter dem Mikroskop nach Schäden zu suchen, die ein Zuviel an Vitamin A angerichtet haben könnte. Der Doktor leerte seinen Kaffee in den Ausguss und warf ein frisch geschmiertes Brötchen in den Abfall. Der Appetit war ihm vergangen.

Nachdenklich musterte ihn die Schneekönigin. Leises Erstaunen lag auf ihrem Gesicht. Sie schwieg. Wohlwollend? Ablehnend? Verächtlich? Der Doktor grübelte endlos. Ihre Verachtung hätte er schlecht ertragen, aber das Gefühl, der Ewigkeit Millimeter für Millimeter näher zu kommen, war ihm wichtiger als die Zugehörigkeit zur Gruppe und die Anerkennung als Forscher.

Die Sanduhr

Подняться наверх