Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 18
Sechzehn
ОглавлениеEs goss schon eine ganze Weile wie aus Kübeln, und die offene Tür kam Hans Christian gerade recht. Er sah sich wiederholt furchtsam um, bevor er die nassen Schuhe von seinen grossen Füssen zog und sie fein säuberlich nebeneinander hinstellte. Er prüfte zweimal nach, ob sie auch parallel standen, bevor er mit dem schwarzen Regenschirm und dem verbeulten Koffer ein trauriges Stillleben kreierte. Er tätschelte den Koffer, als wollte er ihn ermahnen, auch ja auf ihn zu warten, bevor er auf feuchten, durchlöcherten Socken zielstrebig ins abgelegene Kinderzimmer huschte, wo man das Neugeborene sich selbst überlassen hatte. Unter dem schäbigen, speckig glänzenden, altmodischen Anzug zeichnete sich jeder Wirbelkörper einzeln ab, als Hans Christian seine lange Gestalt zusammenklappte, sie sozusagen durch zwei teilte, um sein Gesicht ganz nahe an das schrumpelige Kindergesichtchen zu bringen. Das Mädchen schien zu schlafen. Es drückte die Augen zu und presste die winzigen, bläulichen Fäustchen fest auf die Ohren. Wollte weder sehen noch hören. Atmete nicht mehr. Wollte gar nicht leben. War nicht rosig, sondern blauviolett. Hans Christians zärtliches Kirren nahm es nicht wahr. Schliesslich war es nichts weiter als ein Neugeborenes, ein empfindungsloses, zudem kaum mehr lebendiges. Widerwillig war es in diese Welt katapultiert worden, und schon schickte es sich an, sie wieder zu verlassen, schnell und von den Statisten seines kurzen Lebens unbeachtet.
Als jedoch der lange, knotige Zeigefinger des Mannes über seine Wange strich, hielt es im Sterben inne, tat zögernd einen vorsichtigen, seufzenden Atemzug. Überlegte sich wohl, ob es leben wollte, trotz allem, ob diese zärtliche Berührung einiges von dem wettmachte, was es erwartete. Langsam gaben die Fäustchen die Ohren frei, das Babygesicht entspannte sich, ein rascher Traum geisterte unter den rosiger werdenden Lidern.
Hans Christian hielt den Atem an, wartete gespannt, hoffte mit jeder Faser seines überlangen Körpers darauf, dass das Kind die Augen öffnen und ihn ansehen würde. Unendlich behutsam strich er immer wieder über die feinen, roten Stoppelhaare. Er nannte das Kind „meine Schöne“, „meine Prinzessin“, „mein Gänseblümchen“ und „mein Schneewittchen“, und das Mädchen schien verzückt zu horchen. Es griff nach Hans Christians Zeigefinger und hielt sich mit erstaunlicher Kraft daran fest.
„Sei ganz ruhig, ich lasse dich nicht los“, gurrte der Lange beruhigend, und in Schneewittchens Mundwinkeln deutete sich ein Lächeln an.
„Idiot“, knurrte William gut hörbar von der Tür her, „redet mit einem kaum existenten Un-Wesen, mit einer Hand voll Knochen und Organe, die noch nicht wissen, ob sie Mensch werden wollen oder nicht.“
Bei dem Wort ‚Idiot’ zuckte Hans Christian zusammen wie ein Hund der, weil er nach Nässe und räudigem Fell und einem miesen kalten Tag riecht, aus dem Haus geprügelt wird. Mit einem Ruck richtete er sich auf, stiess sich den Kopf an der Deckenlampe, tat einen Schritt zur Seite und stolperte über einen Stuhl, der polternd zu Boden fiel. Der Doktor schreckte im Nebenzimmer aus dem wehen Brüten, in welches ihn die Geburt der Tochter und der Zustand der Ehefrau gestürzt hatten. Als er die Tür des Kinderzimmers erreichte, schlich sich Hans Christian geduckt an ihm vorbei, als erwarte er weitere Prügel. Schlingernd erreichte der lange Kerl die noch immer offene Haustür, hinter der das erbarmungslose Rauschen des Regenvorhangs das einzige Geräusch war. Er atmete hörbar auf, als er Schuhe, Schirm und Koffer auf sich warten sah wie treue Hunde. Der Doktor guckte ihm über die Schulter, als er sich abmühte, seine Füsse in die aufgeweichten Schuhe zu zwängen.
Die Strasse war leer und dunkel. Der Doktor sah prüfend nach rechts und nach links, dann schüttelte er den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, wer oder was den Langen so erschreckt hatte.
Der Flug nach Prag ging um einundzwanzig Uhr fünfunddreissig. Die Uhr des Doktors zeigte zweiundzwanzig Uhr null fünf.
Nach einem weiteren prüfenden Blick ins nasse Dunkel schloss der Doktor mit ungewohnter Heftigkeit die Haustür. Der kleine, satte Knall veranlasste das Neugeborene zum ersten kläglichen Weinen seines Lebens.