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Sieben

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Der Doktor suchte in der Aussentasche seines Rucksacks nach dem Sandwich, welches er vor zwei Tagen eingesteckt hatte. Er hatte es noch in Zürichs Flughafenrestaurant gekauft, hatte es dann aber in der Aufregung nicht essen können. Nun war es seltsam welk wie ein zu lange aufbewahrtes Salatblatt.

Die Situation des Doktors war inzwischen absolut ausweglos. Es war unmöglich, das Richtige zu tun. Ihm war übel vor Hunger, und doch biss er reumütig und im Bewusstsein, das Falsche zu tun, in die mit Tomaten- und Käsescheiben belegten Brotschnitten. Mit vollem Magen würde er den gefürchteten Helikopterflug kaum überstehen. Sein Innerstes würde sich nach aussen kehren, und er würde seinen grönländischen Arbeitgebern vollgekleckert und übelriechend entgegentreten müssen, was alles andere als ein vielversprechender Anfang sein würde. Bekümmert würgte er die trockenen Brocken hinunter, denn mit komplett leerem Magen würde er den Flug ebenso wenig durchstehen. Sein Hunger war grenzenlos. Ganze zwei Minuten fühlte er sich besser, nachdem er gegessen hatte, dann verlangte der dänische Pilot seinen Flugschein und wies ihm einen Fensterplatz zu. Der Doktor quetschte sich traurig an die Scheibe. Wie gerne hätte er in der Mitte gesessen, eingepfercht zwischen den schützenden Leibern der anderen Passagiere. In der Mitte aber sassen eine junge Inuit mit prächtigem blauschwarzem Haar und ein dünner Engländer, der von einem blonden dänischen Hünen gegen die Frau gepresst wurde, die keine Miene verzog. Sie sprach ruhig in einem keiner anderen Sprache verwandten Inuitdialekt mit dem Piloten, bevor sich dieser einen Ohrenschutz aufsetzte und die Hand auf den Steuerknüppel legte.

„Nice place“, sagte der Engländer, und sie unterhielt sich nun in kehligem Englisch mit ihm über das Knattern des Rotors hinweg. Der Doktor hielt sich an der unerschütterlichen Ruhe in ihrem Gesicht fest, während der Helikopter abhob und mit käferigem Schweben seinen Weg zwischen zwei Bergen suchte. Der Fjord lag etwa fünfzehn Meter weiter unten, und der Doktor konnte es ertragen, hinunter zu sehen, so lange er an seinem Oberarm den Oberarm der Inuit spürte. Auf Windstösse antwortete der Helikopter mit spielerischem Hüpfen, als sei er mehr Insekt als Maschine. Und während er hüpfte und schwankte und ohrenbetäubend knatterte, sprach die Inuit weiter, lächelte den aufgeregten Engländer an, lächelte auch den halb ohnmächtigen Doktor an, und ihre unverbindliche, nur am Rande freundliche Geste holte ihn zurück ins Leben. Er klammerte sich mit den Blicken an ihr ruhiges Gesicht, empfing dankbar die Wärme des unfreiwillig gegen den seinen gepressten Körpers, erkannte ihr Nichtbegreifen seiner Panik, ihr durch nichts zu erschütterndes Vertrauen in alles, was zum Leben gehörte. Vertrauen ins Leben war dem Doktor zutiefst suspekt. Stumm, aber ungewohnt heftig und spontan ernannte er sie in Gedanken zu seinem Felsen, seiner Sicherheit. Er brauchte sie in diesem Moment mehr als die Luft zum Atmen, und aus dieser simplen Notwendigkeit heraus verliebte er sich während des nur sieben Minuten dauerndes Fluges in die Frau, von der er noch nicht wusste, dass sie seine grönländische Arbeitgeberin war. Sanft setzte der Helikopter auf dem runden Schotterplatz auf. Der Doktor schulterte seinen Rucksack und ging neben der Frau auf die bunten Häuser von Ittoqqortoormiit zu. Er blieb immer einen halben Schritt hinter ihr, um das Fliessen ihres blauschwarzen Haars betrachten zu können. In der Bucht steckten Brocken von ewigem Eis im gefrorenen Wasser fest. Es war Ende Februar und eisig kalt, und daran würde sich noch sehr lange nichts ändern. Es war erst vierzehn Uhr und bereits dämmerte es wieder. Erst Ende Juni würde die See die Brocken freigeben und sie sanft davondriften lassen. Darüber hatte der Doktor gelesen. Er wies mit der Hand auf den Fjord hinaus und liess ein erleichtertes Lachen hören. Er war angekommen. Er war in Grönland. Und Grönland sah aus wie im Bilderbuch. Die Inuit lächelte zurück und verschmolz mit des Doktors Vorstellung von Ewigkeit.

Die Sanduhr

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