Читать книгу Die Sanduhr - Claudia Gürtler - Страница 10
Acht
ОглавлениеWachtmeister Meier prallte zurück, als er den Polizeiposten betrat. Drei Wochen hatte er nicht an den Schustersohn mit dem geflickten Koffer und den durchlöcherten Schuhen gedacht. Und nun sass er zusammengesunken auf einem Stuhl, der unter seiner langen Gestalt winzig wirkte. Moser sass hinter der Schreibmaschine, trommelte gereizt mit den Fingern auf die Tischplatte und wiederholte:
„Ich frage sie nun zum letzten Mal ...“
„Hoffentlich ist er wenigstens klug genug, mich nicht zu kennen“, dachte Meier ohne positive Erwartung, und natürlich war Hans Christian nicht klug genug. Das Wünschen hätte Meier besser bleiben lassen, denn seine Wünsche verkehrten sich, ob ausgesprochen oder nicht, im Moment ihres Entstehens ins Gegenteil.
„Er hat mir Brot gegeben“, bekannte Hans Christian, und in seiner weinerlichen Stimme schwangen Ungläubigkeit und Begeisterung mit. Er streckte den langen, knochigen Zeigefinger aus und wies auf Meier. „Brot mit Schinken und Tomate“, fügte er schwärmerisch an.
Moser schwieg, doch ihr Blick sprach Bände. Auch Meier schwieg. Es hatte keinen Zweck zu leugnen.
Anders als andere Stadtstreicher lockte Hans Christian die Aussicht auf ein Bett im Trockenen und eine warme Mahlzeit aus der Gefängnisküche offenbar nicht. Er beteuerte, dringend gehen zu müssen. Er dürfe keinesfalls die Ankunft des Kindes verpassen, sagte er. Er legte seine langen Hände aneinander und streckte sie Meier flehend entgegen, als bete er um Verständnis. Moser verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiss der Augäpfel sah, und Meier wandte sich angewidert ab.
„Steht vielleicht auch noch ein Stern am Himmel, der den Weg weist?“ spottete die Polizeikommissärin jetzt. „Sind die Hirten und die Schafe schon unterwegs?“
„Nur das Kind“, beteuerte Hans Christian. „Nur das Kind ist unterwegs.“
„Himmelherrgott“, dachte Meier, „merkt er denn nicht, dass ihre Lefzen vor Sarkasmus triefen, und dass er sich immer tiefer hineinreitet?“
Aber Hans Christian wiederholte nur unentwegt seine Bitte, ihn doch gehen zu lassen, da er noch einen Besuch zu machen habe, der sich nicht aufschieben lasse.
Meier holte Kaffee, für Moser, für Hans Christian und für sich selbst. Hans Christian leerte seinen Becher, als sei er mit kaltem Wasser gefüllt, Meier nippte in dem Bewusstsein, eine lange Nacht vor sich zu haben, und Moser stiess ihren Becher aus Versehen um, bevor sie einen Schluck getrunken hatte. Meier wischte dienstbeflissen auf, holte aber, da er nicht dazu aufgefordert wurde, keinen neuen Kaffee, und dann sassen die drei schweigend und steif auf ihren Stühlen und warteten auf Befehl von Moser auf die Wahrheit aus Hans Christians Mund.
Die Wahrheit war, nach den Horoskopen, Mosers zweite Leidenschaft. Auf die Wahrheit wartete sie gerne und falls erforderlich auch lange.
Morgens um vier legte die Polizeikommissärin den schweren Kopf auf die Schreibmaschine und begann zu schnarchen, und Meier öffnete leise die Tür und schubste Hans Christian in die stille Gasse hinaus. Er bemühte sich, dabei an irgendetwas zu denken, nur nicht daran, dass Hans Christian nicht nach dem Warum fragen sollte, und da es ihm gelang, verschwand der Lange so geräuschlos in der Morgendämmerung, dass Moser ruhig und regelmässig weiterschnarchte. Meier setzte sich wiederum auf seinen Stuhl, dachte an dichte Wälder, an Geräuschlosigkeit und wohltuenden Dämmer. Bald schlief auch er, und als ihn Mosers Stimme zwei Stunden später in die Bürowirklichkeit riss, blickte er verdutzt auf. Er verzichtete darauf Moser, die bellte wie ein Pekinese, dem man auf den Schwanz getreten ist, darauf aufmerksam zu machen, dass sie vor ihm eingeschlafen war.