Читать книгу Die weiße Villa - Claudia Rimkus - Страница 10
Kapitel 8
Оглавление2003
Mona Hellberg war glücklich: Sie hatte in Tobias Gundlach ihre große Liebe gefunden. Seit einigen Stunden war sie sogar überglücklich - seit sie wusste, dass sie in acht Monaten ein Kind haben würde – ein Kind der Liebe. Diese Schwangerschaft war ganz und gar nicht geplant. Sie war ein „Verkehrsunfall“. Trotzdem konnte sie es kaum erwarten, Tobias mit der Neuigkeit zu überraschen. Bestimmt würde er sich genauso sehr freuen. Schon oft hatten sie Zukunftspläne geschmiedet, in denen Kinder einen besonderen Platz einnahmen. In drei Wochen, am sechzigsten Geburtstag seines Vaters, plante Tobias, seinen Eltern seine künftige Frau vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit wollte er seine Verlobung mit Mona Hellberg bekanntgeben. Sie war schon sehr gespannt auf ihre Schwiegereltern in spe, mit denen Tobias anscheinend liebevoll verbunden war. Was mochten sie wohl sagen, wenn sie erführen, dass sie bald Großeltern würden?
„Sie werden sich freuen", murmelte Mona lächelnd, während sie die Einkaufstüten in ihrem kleinen Klinik-Apartment auspackte. Zur Feier des Tages wollte sie etwas ganz Besonderes kochen. So bereitete sie zunächst ein Dinner für zwei vor und dekorierte den gedeckten Tisch mit Blumen und Kerzen. Durch einen Blick zur Uhr stellte Mona fest, dass ihr noch reichlich Zeit zum Duschen blieb. Tobias würde erst in etwa zwei Stunden kommen, da er vorher noch mit seinem Cousin verabredet war. Eine leise Melodie summend, entkleidete sie sich und verschwand im Bad.
Sie kam gerade wieder unter der Dusche hervor, als sie es läuten hörte. Rasch griff Mona nach ihrem Bademantel und schlüpfte hinein. Erwartungsvoll lief sie barfuß in die Diele und öffnete. Es war aber nicht Tobias, sondern ihr Oberarzt, der draußen stand.
„Ach, du bist es, Dieter", begrüßte sie ihn ein wenig enttäuscht.
„Entschuldige, dass ich dich noch mal störe, Mona", sagte Dr. Dieter Wendtland. „Aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Kann ich dich kurz sprechen?" Und als sie zögerte: „Es dauert nicht lange."
„Komm rein", forderte Mona ihn auf und führte ihn ins Wohnzimmer. „Was kann ich für dich tun?"
„Ich habe eine große Bitte an dich", begann er händeringend und ging unruhig vor dem Fenster auf und ab. „Normalerweise würde ich damit nicht ausgerechnet zu dir kommen, aber ..." Unbehaglich hob er die Schultern. „Mir ist klar, welche Zumutung es ist, wenn ..."
„So schlimm wird es nicht sein. Solange du mir nicht das Wochenende verderben willst ..." Seine schuldbewusste Miene verriet ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Oh nein, Dieter! Das ist nicht dein Ernst!“
„Ich wüsste wirklich nicht, wen ich sonst fragen sollte. Peter ist noch im Urlaub in Spanien, Christina ist bereits ins Wochenende gefahren, und Jakob hat sich vor einer Stunde krank gemeldet. Er liegt mit hohem Fieber im Bett." Bedauernd schaute er ihr in die Augen. „Und ich muss zu dieser Tagung nach München. Eigentlich sollte ich längst unterwegs sein. Ich kann aber nicht fahren, ohne sicher zu sein, dass am Wochenende ein Arzt auf der Station ist.
„Na, großartig", sagte Mona sarkastisch. „Verrätst du mir auch, wie ich das Tobias erklären soll? Das ist seit zwei Monaten unser erstes gemeinsames langes Wochenende. Wir wollten ans Meer."
„Es tut mir wirklich leid", wiederholte der Oberarzt. „Unter anderen Umständen würde ich den Dienst selbst übernehmen. Aber der Chef besteht darauf, dass ich nach München fahre."
„Schon gut. Du kannst ja nichts dafür. Ich werde pünktlich zur Stelle sein."
„Danke, Mona." Erleichtert schloss er sie in die Arme. „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann."
In diesem Moment stieg Tobias Gundlach vor dem Haus aus seinem Wagen. Sehnsüchtig schaute er die Fassade hinauf – und erstarrte. Durch das hellerleuchtete Fenster in der 2.Etage sah er deutlich Mona und ihren Oberarzt in inniger Umarmung! Das durfte nicht wahr sein! Es passierte schon wieder! Die Frau, die er liebte, betrog ihn mit einem anderen! Aber diesmal schmerzte die Entdeckung ungleich mehr, weil er Mona von ganzem Herzen liebte! Aufgebracht stürzte er ins Haus. Er war viel zu erregt, um auf den Lift zu warten, sonst wäre er seinem vermeintlichen Rivalen am Fahrstuhl begegnet. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe hinauf und läutete. Nur einen Augenblick später öffnete Mona.
„Hast du noch was vergess ..." Ein strahlendes Lächeln erhellte ihre Züge. „Tobias! Du kommst früher als erwartet."
„Gerade rechtzeitig", entgegnete er hart und marschierte an ihr vorbei in den Wohnraum.
Unter hochgezogenen Brauen folgte Mona ihm.
„Was ist denn mit dir los? Hattest du Ärger? Mit deinem Cousin?"
„Udo hat unsere Verabredung abgesagt", erwiderte er so ruhig wie möglich. „Darüber bin ich sogar froh, sonst hätte ich wohl nie erfahren, was du hinter meinem Rücken treibst."
„Was meinst du damit?"
„Wie lange geht das schon?"
„Was?" Der kalte Ausdruck seiner Augen machte ihr Angst. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. „Wovon sprichst du eigentlich?"
„Tu nicht so unschuldig!", brauste er auf und überbrückte die Distanz zwischen ihnen. Fest umspannten seine Hände ihre Schultern. „Ich will wissen, seit wann du es mit Wendtland treibst! Genüge ich dir nicht? Oder hattest du schon vorher ein Verhältnis mit ihm?"
„Bist du verrückt? Du weißt genau, dass du der erste Mann warst, mit dem ich ..."
„Der erste vielleicht", höhnte er und schüttelte sie ungehalten. „Aber wie viele waren es seitdem? Ist Wendtland der einzige, mit dem du mich betrügst? Oder gibt es noch andere, die du im Bademantel empfängst, wenn ich nicht da bin?"
„Das ist doch völlig absurd!", erregte nun auch sie sich. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Dieter war hier, weil ich am Wochenende ..."
„Lüg mich nicht an!", unterbrach er sie zornig. „Glaubst du, mir ist noch nicht aufgefallen, wie begehrlich er dich immer ansieht? Der ist doch schon lange scharf auf dich!"
„Bitte, Tobias", sagte Mona, sich zur Ruhe zwingend. „Zwischen Dieter und mir ist ...“
„Du gibst also zu, dass was zwischen euch ist!", fiel er ihr abermals ins Wort. „Ich wusste es! Du bist genauso ein schamloses Flittchen wie ...“
„Hör endlich auf damit! Können wir nicht wie zwei vernünftige Menschen miteinander reden?"
„Da gibt es nichts mehr zu reden! Mit dir bin ich fertig! Ich will dich nie wiedersehen!"
„Tobias!", rief sie eindringlich, als er sich umwandte. „Warte!" Flink lief sie ihm nach und hielt ihn am Arm fest. „Lass dir doch erklären ..."
„Geh zum Teufel!", herrschte er sie an und stieß sie von sich, so dass Mona gegen eine Kommode taumelte und zu Boden stürzte. Er zögerte nur kurz, dann wandte er sich endgültig ab, verließ das Apartment und schlug die Tür hinter sich zu.
„Tobias ...", flüsterte Mona mit Tränen in den Augen. „Warum tust du mir das an?" Kaum fähig durchzuatmen, kam sie mühsam auf die Beine, wobei ein stechender Schmerz im Unterleib sie zusammenzucken ließ. Sie schleppte sich zum nächsten Sessel und sank hinein. Aufschluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Tobias' Verhalten war ihr unbegreiflich. Selbst wenn er Dieter Wendtland aus ihrem Apartment hatte kommen sehen, war das noch kein Grund, an ihrer Treue zu zweifeln. Was war nur in ihn gefahren? Wie konnte er sie so kalt und verachtend behandeln? Er wusste doch, dass sie ihn liebte!
Lange saß Mona einfach nur zusammengekauert da und starrte ins Leere. Erst viel später bemerkte sie den roten Fleck, der sich auf ihrem weißen Bademantel ausbreitete.
Das Baby! schoss es ihr durch den Kopf, und sie presste erschrocken die Hände auf ihren Leib. Sie wollte dieses Kind nicht verlieren – selbst wenn sie es allein großziehen müsste! Mit zitternden Fingern griff sie zum nebenstehenden Telefon und wählte die Nummer der Ambulanz. Wenige Minuten später waren die Kollegen aus der gegenüberliegenden Klinik zu ihr unterwegs.
Während sich ein Ärzteteam um Mona kümmerte, traf Tobias in Petersfelden ein. Seine Eltern waren gerade im Begriff, schlafenzugehen, als er die weiße Villa betrat.
„Tobias!" Erfreut kam Brigitte Gundlach die wenigen Stufen in die Halle wieder herunter.
„Du hast gar nicht gesagt, dass du heute kommst. Bleibst du übers Wochenende?"
„Nein, Mama." Liebevoll küsste er sie auf die Wange. „Ich muss mit euch sprechen. – Ist Papa auch zu Hause?"
Ehe sie antworten konnte, erschien Eduard Gundlach im Morgenmantel oben auf der Galerie.
„Brigitte!? Kommst du?" Erstaunt hob er die Brauen, als er seinen Sohn sah. „Tobias! Wo machst du denn mitten in der Nacht hier?"
„Es tut mir leid, euch so spät noch zu stören", bedauerte er, indes sein Vater herunterkam. „Ich muss dringend mit euch sprechen."
„Hätte das nicht Zeit bis morgen gehabt?"
„Nein."
„Na schön." Liebevoll legte Eduard den Arm um die Schultern seiner Frau. „Gehen wir ins Wohnzimmer."
Während seine Eltern Platz nahmen, blieb Tobias stehen.
„Was ist nun so wichtig, mein Junge?", wollte sein Vater wissen. „Hast du was angestellt?"
„Nein, ich ..." Es fiel Tobias nicht leicht, seinen Eltern von seinen Plänen zu erzählen. Er wusste, besonders seine Mutter würde darunter leiden. „Ich habe beschlossen, in die Entwicklungshilfe zu gehen", begann er, erwähnte aber nicht, dass es sich um eine spontane Entscheidung handelte. „Genauer gesagt, nach Brasilien."
„Nach Brasilien?", wiederholte seine Mutter entsetzt. „Warum?"
„Ich brauche einfach eine Luftveränderung. – Und eine neue Herausforderung."
„Aber wieso ausgerechnet Brasilien?", fragte Eduard, wobei er seinen Sohn prüfend musterte. „Dieses Ziel hast du doch nicht zufällig ausgesucht!?“
„Ein Kollege von mir leitet dort seit etwa zwei Jahren ein kleines Hospital", erklärte Tobias, hütete sich aber zu erwähnen, dass es mitten im Dschungel lag. „Carsten hat mir schon oft geschrieben, dass er mich dringend braucht. – Meine Stelle in Hamburg habe ich gekündigt", fügte er hinzu, verschwieg aber, dass das erst vor wenigen Stunden geschehen war. In seiner Erregung hatte er fristlos gekündigt und sich auch durch mögliche Konsequenzen nicht daran hindern lassen. „Meine Maschine geht morgen Vormittag."
„Morgen Vormittag?", echote Brigitte fassungslos. „Wieso hast du es so eilig, von hier wegzukommen? Du lässt mir nicht mal Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen.“
„Sei mir bitte nicht böse, Mama", bat Tobias, ging neben ihrem Sessel in die Hocke und umschloss ihre schmalen Hände mit seinen Fingern. „In Brasilien werde ich dringend gebraucht. Die medizinische Versorgung ist dort – wie in ganz Südamerika – katastrophal. Auf etwa 700 Einwohner kommt nur ein Arzt."
„Musst das unbedingt du sein?"
„Versteh mich doch bitte." In einer spontanen Geste hob er ihre Hände und drückte sie sekundenlang innig an seine Lippen. „Es ist doch nicht für immer. Ich werde dir oft schreiben."
„Also, ich brauche jetzt erst mal einen Cognac", sagte Eduard und erhob sich. „Brigitte!?"
„Mir bitte auch einen", wünschte seine Frau, ehe sie wieder ihren Sohn anschaute. „Du wirst mir schrecklich fehlen, mein Junge." Zärtlich strich sie ihm das blonde Haar aus der Stirn. „Ich lasse dich nur ungern so weit fort. Hoffentlich ist dir überhaupt klar, was dich in diesem Land erwartet. Du sprichst ja nicht mal portugiesisch."
„Das werde ich lernen, Mama", beruhigte er sie und erhob sich. Mit ernster Miene trat er zu seinem Vater an die Anrichte und griff nach einer Whiskyflasche. „Kannst du meine Entscheidung akzeptieren?"
„Das muss ich wohl. Obgleich es mir lieber wäre, du würdest hier bleiben. Aber du bist ein erwachsener Mann. Also wirst du wissen, was du tust. Allerdings erwarte ich von dir, dass du dich in regelmäßigen Abständen meldest. Schon deiner Mutter zuliebe. Solltest du feststellen, dass Brasilien nicht das Richtige für dich ist, dann komm umgehend zurück. Auch hier warten Herausforderungen auf dich. Eines Tages wirst du dich entscheiden müssen, ob du in die Firma einsteigen willst. Schließlich werde auch ich nicht jünger."
„Du bist doch in Topform. Außerdem hast du in Udo einen kompetenten Nachfolger, wenn du dich irgendwann zur Ruhe setzt."
„Mir wäre es aber lieber, wenn mein Sohn eines Tages meinen Platz einnehmen würde", betonte Eduard und reichte seiner Frau einen bauchigen Cognacschwenker.
„Danke, mein Lieber", sagte sie mit traurig klingender Stimme, worauf er sich mit seinem Glas auf der Armlehne ihres Sessels niederließ.
„Lass den Kopf nicht hängen, Liebling", versuchte er sie zu trösten. „Wenn deine Sehnsucht nach unserem Sohn übermächtig wird, nehmen wir die nächste Maschine nach Brasilien und besuchen ihn. – So oft du willst."
Dankbar lächelnd schaute sie zu ihm auf. Beide ahnten sie nicht, dass sie eine gemeinsame Reise nach Südamerika nicht mehr würden unternehmen können.