Читать книгу Die weiße Villa - Claudia Rimkus - Страница 4
Kapitel 2
Оглавление2011
Beim Landeanflug konnte man aus dem Flugzeug tief unten die satten Farben der Wiesen und Felder sehen. Obwohl Brigitte Gundlach auf einem Fensterplatz saß, hielt sie die Augen geschlossen. Sie war müde und erschöpft. Nicht nur der lange, anstrengende Flug von São Paulo und das Umsteigen in Frankfurt waren der Grund. Auch dass sie wieder keine Spur von ihrem Sohn entdeckt hatte, machte ihr zu schaffen. Alljährlich reiste sie kreuz und quer durch Brasilien, um nach ihm zu suchen. Schon seit acht Jahren galt er als verschollen. Damals war das kleine Buschkrankenhaus, in dem er als Arzt gearbeitet hatte, bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Obwohl es angeblich keine Überlebenden gab, war Brigitte fest davon überzeugt, dass ihr Sohn noch lebte.
Nervös wartete ihr Neffe im Flughafenterminal Hannover-Langenhagen auf die Ankunft der Maschine. Sein Blick wechselte immer wieder zwischen der Uhr und der Anzeigetafel.
Endlich erschien auf dem Monitor die Information, dass der Flieger aus Frankfurt gelandet war.
Unwillkürlich umfasste er den üppigen Rosenstrauß fester und hielt durch die Glasscheiben der Abfertigung Ausschau nach seiner Tante. Er musste sich eine Weile gedulden, bis die schlanke Gestalt, die einen Gepäckwagen vor sich herschob, die Ankunftshalle betrat.
Sofort eilte Udo Gundlach auf sie zu.
„Herzlich willkommen, Tante Biggi", begrüßte er sie und schloss sie in die Arme. „Wie war dein Flug?"
„Lang und anstrengend." Dankbar nahm sie die Blumen entgegen. „Das ist lieb von dir. Ich kann eine Aufmunterung gebrauchen."
„Es tut mir leid, dass du wieder nichts erreicht hast“, sagte er, wobei er den Gepäckwagen übernahm. Durch einige Telefongespräche, die er mit seiner Tante während ihrer Reise geführt hatte, wusste er, dass es keine neuen Erkenntnisse gab.
„Lass uns später darüber sprechen“, bat Brigitte. Trotz der milden Frühlingstemperatur fröstelte sie, als sie den Terminal durch die automatische Tür verließen. Der Wagen war in der Kurzparkzone in der Nähe des Ausgangs geparkt. Dennoch empfand sie die wenigen Schritte als unangenehm, da ihr Körper noch an den brasilianischen Sommer gewöhnt war. „Ich möchte nur nach Hause.“ Mit einem verwunderten Blick kommentierte sie, dass er sie mit der Firmenlimousine abholte. „Hast du deinen Porsche zu Schrott gefahren?"
„Natürlich nicht", verneinte er und öffnete die Beifahrertür. „Nach dem langen Flug sollst du es so bequem wie möglich haben."
„Wie fürsorglich. Fast könnte ich glauben, dass du deine alte Tante vermisst hast."
„Alte Tante ...", wiederholte er vorwurfsvoll. „Du bist eine Frau in den besten Jahren."
„Die liegen hinter mir", widersprach sie und hüllte sie sich in nachdenkliches Schweigen, bis sie das abendliche Petersfelden und das Anwesen der Fabrikantenwitwe erreichten.
Durch den gepflegten Park rollte die Limousine auf die weiße Villa zu. Kaum hatte Udo den Wagen gestoppt, wurde die schwere Haustür geöffnet, und Helga Busse trat lächelnd ins Freie. Ein sandfarbener Labrador-Mischling folgte ihr auf dem Fuß.
Augenblicke später lagen sich die Freundinnen, die dieses Haus gemeinsam bewohnten, in den Armen, während der Hund vor Freude schwanzwedelnd um sie herumsprang.
„Willkommen zu Hause", sagte Helga herzlich. „Schön, dass du wieder da bist."
„Danke, Helga." Sie übergab ihr die Blumen und strich dem aufgeregt fiependen Hund über den Kopf, ehe sie in die Hocke ging und das Tier an sich drückte. „Ach, Apollo, du hast mir gefehlt. Wahrscheinlich bist du der Einzige, der mir geblieben ist.“
„Er hat dich auch vermisst", sagte Helga. „So, wie wir alle."
Während sie vorausgingen, trug Udo das Gepäck seiner Tante ins Haus.
Wenig später saßen sie im kleinen Salon bei einem Glas Wein und einem Imbiss, den Helga vorbereitet hatte. Deprimiert berichtete Brigitte von ihrer erfolglosen Suche in Brasilien. Dabei kraulte sie den Hund, der neben ihrem Sessel saß.
„Der einzige Lichtblick dieser Reise war José Vargas", schloss sie, worauf ihr Neffe missbilligend die Brauen hob.
„Ist der alte Knabe etwa immer noch hinter dir her?"
„Erstaunlich, nicht!? Stell dir vor, er hat mir sogar einen Heiratsantrag gemacht."
„Das ist doch absurd!", entfuhr es Udo. „Was hat dir dieser alte Regenwäldler denn noch zu bieten?"
„José ist nur knapp zwei Jahre älter als ich."
„Du wirkst aber viel jünger. Du brauchst einen Partner, der dazu passt.“
„Mit dem ich mich dann in der ganzen Stadt lächerlich mache", fügte sie ironisch hinzu. „Man würde behaupten, die alte Gundlach erlebt ihren ... wer weiß, wievielten Frühling."
„Das würde der alten Gundlach aber ganz gut tun", meinte Helga. „Allerdings ist Petersfelden nicht der richtige Ort, nach einem Geliebten Ausschau zu halten. Die in Frage kommenden Männer hier kann man doch allesamt vergessen."
„Recht herzlichen Dank", kommentierte Udo. „Sie sind heute wieder umwerfend charmant."
„Jeder wie er kann", erwiderte sie, ohne eine Miene zu verziehen. „Außerdem lebe ich schon lange genug hier, um das beurteilen zu können.“
„Wie dem auch sei“, sagte Udo, „ich glaube jedenfalls, dass Vargas nicht der richtige Partner für dich ist, Tante Biggi. Oder willst du etwa in Brasilien leben? Du würdest dort bis ans Ende deiner Tage vergeblich nach Tobias suchen."
„Ob ich José heirate oder nicht, ändert überhaupt nichts daran, dass ich meinen Sohn nicht aufgebe! Ich weiß, dass Tobias noch lebt! Irgendwann werde ich ihn finden!"
„Du machst dir selbst was vor", behauptete ihr Neffe. „Seit beinah acht Jahren suchst du ihn jetzt schon. Würde er noch leben, hätte er sich längst bei uns gemeldet."
„Tobias ist nicht tot! Das spüre ich ganz deutlich!"
„Warum hörst du nicht auf, dich zu quälen? Sicher ist es für eine Mutter nicht leicht, ihr einziges Kind zu verlieren, aber du lebst doch an der Realität vorbei, wenn du dir einredest, dass Tobias bei dem Feuer nicht umgekommen ist. Wo sollte er denn sein? Es gibt überhaupt keinen Grund für ihn, sich irgendwo zu verstecken. Das würde er dir außerdem niemals antun. Tobias ist tot!"
„Hör auf!" Erregt hielt Brigitte sich die Ohren zu. „Ich will das nicht mehr hören! Du solltest jetzt besser gehen!"
„Wie du meinst." Seufzend erhob sich ihr Neffe. „Eines Tages wirst du erkennen, dass ich Recht habe. Dann wirst du die Realität akzeptieren müssen."
Nachdem er sich verabschiedet hatte, verließ Udo den kleinen Salon. Er achtete nicht auf den Hund, der ihm hinausfolgte. Erst als er in sein Auto steigen wollte, bemerkte er das Tier, das erwartungsvoll bei ihm stehenblieb.
„Du kannst nicht mit“, sagte Udo und strich ihm über den Rücken. „Frauchen geht nachher bestimmt noch eine Runde mit dir.“
Sanft schob er Apollo beiseite und stieg in den Wagen. Auf der Fahrt über das Anwesen sah er im Rückspiegel den Hund, der ihm nachlief. Udo war sicher, dass Apollo am Tor umkehren würde. Das kluge Tier wusste, wie weit es sich vom Haus entfernen durfte. Tatsächlich blieb Apollo an der Grundstückseinfahrt stehen. Er schaute den Rücklichtern der Limousine noch einen Moment lang nach, bevor ein Rascheln seine Aufmerksamkeit erregte. Es kam aus der Nähe eines großen weißblühenden Rhododendrons. Sofort lief der Hund in diese Richtung. Dabei nahm er die Witterung eines Fremden auf und fing an zu bellen. Hinter dem Alpenrosenstrauch trat ein dunkel gekleideter Mann hervor. Seine Finger steckten in schwarzen Lederhandschuhen. Als der Hund ihn erreichte, sprach er leise auf ihn ein.
„Ganz ruhig, Apollo. Schau, was ich dir Leckeres mitgebracht habe.“ Er zog eine dicke Bockwurst aus der Jackentasche, die er dem Tier zeigte. Abrupt verstummte das Bellen. „Mach brav Sitz! Dann bekommst du sie.“ Zögernd kam der Hund der Aufforderung nach. Seine Augen waren auf die Wurst gerichtet. „So ist es fein“, lobte der Mann. „Bist ein guter Junge.“
Vorsichtig hielt er dem Tier den Leckerbissen hin. Wie erwartet, konnte Apollo nicht widerstehen und schnappte nach der Wurst. Während er sie verschlang, lief der Mann zum Tor und verschwand auf der Straße.
Unterdessen bemerkte Brigitte im kleinen Salon Helgas besorgten Blick, als sie sich eine Zigarette aus der hölzernen Dose nahm und nach ihrem vergoldeten Feuerzeug griff. Seit ihrer Rückkehr lagen schon einige ausgedrückte Zigarettenstummel im Aschenbecher.
„Du solltest nicht so viel rauchen, Brigitte."
„Willst du mir jetzt auch noch vorschreiben, was ich tun soll? Ich mache, was ich will!"
„Du solltest aber auch an deine Gesundheit denken."
„Wozu?" Entmutigt schüttelte sie den Kopf. „Was habe ich denn noch vom Leben zu erwarten? Seit Eduard und Tobias nicht mehr da sind, ist alles so sinnlos. Ich fühle mich schrecklich nutzlos."
„Ruh dich ein paar Tage aus. Das wird dir gut tun. Du kannst lange Spaziergänge mit Apollo unternehmen und ..."
„Wo steckt der Hund eigentlich?", fiel Brigitte ihr ins Wort und schaute sich um. „Vorhin hat er noch vor meinen Füßen gelegen."
„Wahrscheinlich ist er eben mit Udo rausgelaufen. Apollo ist bestimmt wieder in den Garten entwischt."
„Dann mache ich noch einen kleinen Rundgang mit ihm." Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und erhob sich. „Kommst du mit?"
„Ich räume inzwischen ab", verneinte die Freundin, worauf Brigitte das Haus über die Terrasse verließ. In der Abenddämmerung ging sie in den Park. Nur die Laternen links und rechts des Weges von der Auffahrt zum Haus spendeten etwas Licht.
„Apollo!", rief sie nach dem Hund. Sie hatte den Mischling vor einigen Jahren aus dem Tierheim mitgebracht, für das sie sich mit Spenden und Beratung engagierte. „Apollo, komm her!" Verwundert ging sie weiter, als er nicht wie gewohnt gleich reagierte. „Apollo! Wo steckst du denn?" Aus der Nähe einer Baumgruppe drang leises Jaulen zu ihr herüber. Sofort beschleunigte Brigitte ihre Schritte in diese Richtung. „Apollo!?", rief sie abermals und entdeckte im nächsten Augenblick den Hund, der unter dem Fliederbusch lag. „Da bist du ja." Besorgt ging sie neben dem winselnden Tier in die Hocke und strich dem apathisch daliegenden Hund über den Kopf. „Was ist mit dir? Du bist doch nicht etwa krank? – Na komm, wir gehen rein und rufen den Tierarzt."
Als der Hund nur ein klägliches Wimmern von sich gab, sprang Brigitte auf und lief zum Haus zurück.
„Helga!", rief sie nach der Freundin, die auf die Terrasse trat.
„Ist was passiert?"
„Apollo liegt da hinten bei den Bäumen", erklärte sie atemlos. „Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Wir müssen den Tierarzt holen."
„Er war doch den ganzen Tag über putzmunter", erwiderte Helga erstaunt. „Vielleicht hat er was gefressen, das ihm nicht bekommen ist. Wir bringen ihn erst mal ins Haus." Gemeinsam liefen sie zu der Stelle, an der das Tier nun reglos auf der Seite lag. „Apollo!?", sprach Helga den Hund an und hockte sich neben ihn. Seine Augen waren geöffnet, wirkten aber starr und blicklos. Helga war auf einem Gutshof aufgewachsen und erkannte schon nach kurzer Untersuchung, dass dem Tier nicht mehr zu helfen war. Deshalb erhob sie sich gleich wieder. „Brigitte ..."
„Was ist mit ihm? Du kennst dich doch mit Tieren aus.“
„Wir können nichts mehr für ihn tun", sagte sie mit Bedauern in der Stimme. „Apollo ist tot."
„Tot?" Ungläubig schüttelte Brigitte den Kopf. „Nein, das ist nicht wahr!" Verzweifelt sank sie neben dem Hund auf die Knie. „Apollo! Bitte, wach auf! Du darfst mich nicht auch noch verlassen!"
Behutsam legte Helga die Hand auf ihre Schulter.
„Komm, ich bringe dich rein." Fürsorglich half sie der Freundin auf, die sie aus tränenverhangenen Augen anschaute.
„Wir können ihn doch hier nicht so liegen lassen."
„Darum kümmere ich mich später", versprach Helga und stützte ihre Freundin, die am Ende ihrer Kräfte war. Der Schock schien sie zu lähmen.
Sehr spät an diesem Abend lenkte die Ärztin den roten Wagen durch den Park auf die weiße Villa zu. Auf dem Vorplatz stoppte sie unter einer Laterne und schaltete die Scheinwerfer aus. Rasch verließ sie das Fahrzeug, nahm ihre schwarze Tasche aus dem Kofferraum und eilte durch den leichten Regen die wenigen Stufen zum Haus hinauf. Ehe sie jedoch den Klingelknopf berührt hatte, wurde die Tür von innen geöffnet.
„Frau Dr. Hellberg? - Ich bin Helga Busse, die Freundin von Frau Gundlach."
„Wir haben miteinander telefoniert", sagte Mona Hellberg, während sie eintrat. „Wo ist die Patientin?"
„Oben in ihrem Schlafzimmer", gab Helga ihr Auskunft und deutete zur Galerie hinauf. „Brigitte wollte nicht, dass ich einen Arzt rufe, aber ich mache mir Sorgen um sie." Um Verständnis bittend, schaute sie die Ärztin an. „Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch herbemüht habe, aber ich fürchte, diese Aufregungen heute waren einfach zu viel für meine Freundin."
„Um welche Art von Aufregungen handelte es sich?", fragte die Ärztin, als sie die Treppe hinaufgingen.
Knapp berichtete Helga von den Ereignissen.
„Inzwischen war der Tierarzt hier und hat festgestellt, dass Apollo vergiftet wurde“, schloss sie. „Als Brigitte das hörte, ist sie beinah zusammengebrochen. Sie hat sehr an dem Tier gehangen." Behutsam klopfte sie an die Schlafzimmertür und trat ein. „Brigitte", sprach sie die Freundin, die im Bett lag, an. „Ich habe nach einem Arzt telefoniert, damit ..."
„Ich brauche keinen Arzt", unterbrach Brigitte sie mit tränenerstickter Stimme und kehrte ihr den Rücken zu. „Ich will niemanden sehen."
Hilflos schaute Helga die Ärztin an.
„Lassen Sie mich bitte mit Frau Gundlach allein", sagte Dr. Hellberg leise, worauf Helga das Halbdunkel des Raumes verließ und die Tür hinter sich schloss.
Interessiert blickte sich die Ärztin im Schlafzimmer um, bevor sie ans Bett trat.
„Frau Gundlach!? Ich bin Dr. Hellberg.“
Argwöhnisch drehte sich die Patientin herum. Dass es sich bei diesem Arzt um eine Frau handelte, noch dazu um eine sehr hübsche, erregte ihr Misstrauen.
„Gehen Sie!", stieß sie kühl hervor und zog mit einer unbewussten Geste die Bettdecke höher. „Ich brauche Sie nicht!"
„Frau Gundlach, ich bin Ärztin", erklärte Mona Hellberg geduldig. „Man hat mich gerufen, weil Sie heute sehr viel Aufregung hatten und einem Zusammenbruch nahe waren. Ihre Hände zittern ja immer noch, und Sie atmen rasch und flach." Entschlossen öffnete sie ihre Tasche und nahm das Stethoskop heraus. „Da ich nun mal hier bin, kann ich Sie auch untersuchen." Ernst erwiderte sie den Blick der Patientin, wobei sie sich unaufgefordert auf die Bettkante setzte.
Widerwillig ließ Brigitte es geschehen, dass die fremde Ärztin die Bettdecke etwas herunterschob. Während Dr. Hellberg ihren Brustkorb durch den dünnen Stoff des Nachthemdes abhorchte, schloss Brigitte ergeben die Augen und gab so der Ärztin Gelegenheit, ihr Gesicht eingehend zu betrachten. Da Frau Busse am Telefon das Alter der Patientin mit neunundfünfzig Jahren angegeben hatte, war sie erstaunt über die glatte Haut der Älteren, die immer noch eine schöne, gewiss Aufsehen erregende Frau war. Nachdenklich nahm die Ärztin das Blutdruckmessgerät aus der Tasche und legte die Manschette um den Oberarm der Patientin. Als sie die Werte gemessen hatte und die Geräte in die Tasche zurücklegte, fiel ihr Blick auf die silbergerahmten Fotos, die auf dem Nachtschränkchen standen: Das eine zeigte eine jüngere Brigitte Gundlach im Arm eines sympathisch wirkenden Mannes. Auf der anderen Aufnahme war ein blonder, etwa 30-jähriger Mann zu sehen, dessen Anblick der Ärztin einen Stich versetzte.
Unterdessen kehrte Udo Gundlach noch einmal in die weiße Villa zurück.
„Ist das wahr, Helga?", sprach er die Freundin seiner Tante in der hohen Eingangshalle an. „Ich war eben noch ein Bier trinken, da sagte der Kronenwirt, dass Apollo vergiftet wurde. Der Tierarzt hätte das kurz vorher erzählt."
„Das stimmt leider", bestätigte Helga. Mit wenigen Worten berichtete sie davon.
„Das muss Tante Biggi tief getroffen haben", vermutete Udo, und es klang mitfühlend. „Schläft sie schon?"
„Wie könnte sie nach dieser Aufregung schlafen? Es geht ihr gar nicht gut. Dr. Hellberg ist bei ihr."
„Das tut mir so leid", sagte er in bedauerndem Ton. „Dazu haben wohl auch meine Vorwürfe beigetragen.“
Derweil nahm Dr. Hellberg im Schlafzimmer der Hausherrin einige Utensilien zur Hand.
„Was ist das?", fragte Brigitte, wobei sich auf ihrer Stirn eine steile Falte bildete.
„Ich gebe Ihnen eine Injektion, damit Sie schlafen können."
„Das werden Sie nicht tun", widersprach die Patientin bestimmt. „Wer weiß, was das für ein Zeug ist ..."
„Das klingt, als hätten Sie Angst, dass ich Ihnen etwas Böses antun würde", entgegnete die Ärztin sichtlich irritiert. „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen."
„Helfen?", spottete Brigitte. „Ich habe Sie nicht darum gebeten. Wozu auch? Ich fühle mich ausgezeichnet."
„Das ist nicht wahr", behauptete die Ärztin äußerlich ruhig, obwohl das Misstrauen der Patientin sie verletzte. Mit unbewegter Miene legte sie das Spritzbesteck in die schwarze Tasche zurück. „Ich kann Sie nicht zwingen, sich von mir behandeln zu lassen, Frau Gundlach. Trotzdem rate ich Ihnen, bald einen Kollegen Ihres Vertrauens zu konsultieren, der Sie gründlich durchcheckt."
Ohne ein weiteres Wort griff sie nach ihrer Tasche und verließ mit einem gemurmelten Gruß den Raum. Niedergeschlagen wandte sie sich zur Treppe. Erst nach einigen Stufen bemerkte sie den Mann, der bei Frau Busse in der Halle stand. Er hob den Kopf und sah sie an. Er schien verwundert zu sein, fing sich aber rasch und ging ihr einige Stufen entgegen.
Unbemerkt von den anderen stand die Hausherrin, die es im Bett nicht mehr ausgehalten hatte, in der halb geöffneten Schlafzimmertür und beobachtete diese Szene.
„Ich bin Udo Gundlach", stellte er sich vor. „Wie geht es meiner Tante?"
„Nicht gut.“
„Dann werde ich gleich mal nach ihr sehen", sagte er, aber Mona Hellberg vertrat ihm spontan den Weg.
„Heute nicht mehr, Herr Gundlach", bestimmte sie. „Ihre Tante braucht jetzt absolute Ruhe."
„Ein kurzer Besuch wird ihr sicher nicht schaden", meinte er und wollte an ihr vorbei.
„Ich sagte: heute nicht mehr!", wiederholte sie energisch, worauf es in seinen Augen spöttisch aufblitzte.
„Wollen Sie mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe?"
„Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, wenn sich Frau Gundlachs Verfassung Ihretwegen verschlechtert?", versetzte sie, lächelte dann aber unverbindlich. „Da Ihnen das Wohl Ihrer Tante bestimmt am Herzen liegt, werden Sie Ihren Besuch sicher auf morgen verschieben können."
Sekundenlang lieferten sich ihre Augen ein stummes Duell. Schließlich gab Udo nach.
„Also gut.“ Mit einer übertriebenen Geste deutete er in die Halle. „Nach Ihnen, Frau Doktor." Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter. „Ich komme morgen wieder, Helga", sagte er im Vorbeigehen. „Gute Nacht, meine Damen."
Als Udo das Haus verlassen hatte, schaute Helga die Ärztin besorgt an.
„Schläft Brigitte jetzt?"
„Wohl kaum. Leider hat Frau Gundlach ein Beruhigungsmittel von mir abgelehnt."
„Warum? Sie wird die ganze Nacht nicht schlafen können."
„Aus welchem Grund lehnt jemand die Hilfe eines Arztes ab, obwohl sie ihm Linderung verschaffen würde? Weil das Vertrauen in den behandelnden Arzt fehlt. Anscheinend habe ich zu viel erwartet, als ich dachte, in einem so kultivierten Haus nicht auf Vorurteile zu stoßen."
„Man macht es Ihnen hier in Petersfelden sehr schwer, nicht?“
„Meine ehemaligen Kollegen hatten mich schon davor gewarnt, in einer Kleinstadt eine Praxis aufzumachen", bestätigte sie. „Trotzdem habe ich die Praxis meines verstorbenen Onkels übernommen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Abneigung der Menschen gegenüber einem jungen, noch dazu weiblichen Arzt so groß sein würde. In den vier Wochen, die ich jetzt schon in Petersfelden praktiziere, haben nur wenige Patienten den Weg zu mir gefunden." Bedauernd hob sie die Schultern. „Wenn das so weitergeht ..."
„Was haben Sie dann vor?"
„Dann bin ich gezwungen, die Praxis zu schließen. Ich habe modernisiert und in teure Geräte investiert, die bezahlt werden müssen. Und schließlich muss ich ja auch von irgendwas leben." Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Glücklicherweise hat mir mein Professor in Hannover zugesichert, dass ich jederzeit wieder in seiner Klinik anfangen kann. Mir bleibt wohl keine andere Wahl."
„Es tut mir leid, dass die Leute hier so verbohrt sind. Zu allem Überfluss habe ich Sie auch noch so spät gerufen."
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Frau Busse. Zwar habe ich heute keinen Notdienst, aber wenn ich tagsüber nichts zu tun habe, kämpfe ich mit Einschlafschwierigkeiten.“
„Anscheinend habe ich Sie aus dem Bett geholt. Sie hätten mich an einen Notarzt verweisen sollen."
„Kein Problem; ich war erst mit einem Fuß unter der Bettdecke", winkte Mona ab. „Bevor ich dorthin zurückkehre, lasse ich Ihnen ein Rezept für Frau Gundlach hier. Obwohl ..." Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. „Wahrscheinlich wird sie es nicht einlösen, nachdem sie mir praktisch unterstellt hat ..." Verzagt brach sie ab und notierte Namen und Telefonnummer eines Kollegen auf dem Rezeptblock. „Sollte Frau Gundlach heute Nacht noch ärztliche Hilfe benötigen, wenden Sie sich bitte an Dr. Dorn. Er ist Oberarzt des Kreiskrankenhauses." Kurz entschlossen nahm sie ein Päckchen Beruhigungstabletten aus ihrer Tasche. „Die lasse ich Ihnen für den Notfall hier. Eine dürfte genügen, damit Frau Gundlach schlafen kann.“
„Danke, Frau Dr. Hellberg“, sagte Helga und half der Ärztin in den Mantel. „Schicken Sie uns bitte Ihre Rechnung."
„Schauen Sie ab und zu nach Ihrer Freundin. – Gute Nacht."
Durch ein Fenster im Obergeschoss sah Brigitte die Ärztin zu ihrem Wagen gehen. Sie stellte die Tasche in den Kofferraum und lehnte sie sich sekundenlang mit hängenden Schultern gegen die Autotür. Dann straffte sie ihre Haltung, wischte sich mit den Fingerspitzen über die Wangen und stieg in ihr Fahrzeug.
Bedrückt kehrte Brigitte in ihr Schlafzimmer zurück. Sie hatte sich unmöglich benommen. Ohne Grund hatte sie diese junge Ärztin angegriffen und dadurch verletzt. Wie verloren sie dort draußen in der Dunkelheit gewirkt hatte. Anscheinend hatte sie sogar geweint. Dabei hätte sie ihr dankbar sein müssen, dass sie ihretwegen so spät noch gekommen war. Niedergeschlagen ließ sich Brigitte auf die Bettkante sinken. Was war nur aus ihr geworden? Wieso begegnete sie ihren Mitmenschen neuerdings so misstrauisch? Das leise Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken.
„Komm rein, Helga!", rief sie die Freundin, die daraufhin mit sorgenvoller Miene eintrat.
„Warum liegst du nicht im Bett, Brigitte? Frau Dr. Hellberg hat gesagt, dass du viel Ruhe brauchst. Du solltest wenigstens versuchen zu schlafen."
„Ich kann jetzt nicht schlafen, und ich will es auch nicht!", erwiderte Brigitte energisch. „Eben ist mir das erste Mal bewusst geworden, wie sehr ich mich verändert habe." Betrübt zog sie die Freundin neben sich auf die Bettkante. „Sag mir bitte ganz offen, wann aus mir ein altes, argwöhnisches Weib geworden ist. War das nach Eduards Tod? Oder nach Tobias' plötzlichem Verschwinden? Oder war ich schon immer so, ohne dass ich es bemerkt habe? Hat Udo recht, wenn er mir vorwirft, dass ich unrealistisch und verbohrt bin?“
„Du bist weder das eine noch das andere", widersprach Helga. „Natürlich haben diese Schicksalsschläge dich verändert. Das ist aber normal, wenn man zuerst den Mann und dann das einzige Kind verliert. Trotzdem warst du immer ein einfühlsamer und gerechter Mensch. Lass dir von Udo nichts einreden. Manchmal ist er furchtbar unbedacht mit seinen Äußerungen."
„Udo meint es doch nur gut", nahm sie ihren Neffen in Schutz. „Ich bin froh, dass wenigstens er mir geblieben ist. Würde er mir nicht zur Seite stehen ..."
„Er fährt ja auch nicht gerade schlecht dabei. Als dein einziger lebender Verwandter ..."
„Ich weiß, du glaubst auch, dass Tobias tot ist", unterbrach Brigitte sie erregt. „Aber das ist nicht wahr! Ich bin seine Mutter; ich spüre, dass Tobi noch lebt! Irgendwann werde ich ihn finden!“
„Bitte, beruhige dich." Tröstend legte sie den Arm um die Schultern der Freundin. „Es ist nun mal eine traurige Tatsache, dass Tobias schon so lange verschollen ist. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Deshalb kann man zumindest nicht ausschließen, dass ihm etwas zugestoßen ist."
„Mein Sohn ist nicht tot!", beharrte Brigitte und sprang auf. „Auch wenn ihr alle das behauptet! Tobias lebt! Eines Tages kommt er zurück!" Haltsuchend stützte sie sich an einer Kommode ab, als der Boden unter ihren Füßen plötzlich zu schwanken schien. „Tobi muss ... noch am ... Leben sein ..."
„Brigitte!" Schon war die Freundin neben ihr und führte sie zum Bett. „Leg dich hin. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten."
Als Brigitte leise stöhnend in die Kissen sank, deckte Helga sie zu.
„Gib mir bitte eine von den Tabletten", bat Brigitte mit schwacher Stimme, worauf Helga sie verwundert anschaute.
„Woher weißt du ...?"
„Ich habe fast alles gehört, was unten gesprochen wurde", erwiderte sie, während die Freundin die Tabletten aus der Jackentasche zog. „Warum war Udo eigentlich so spät noch mal hier?"
„Er hat in der Krone von der Sache mit Apollo erfahren und war deshalb besorgt um dich." Mit geschickten Fingern löste sie eine Tablette aus der Packung und gab sie der Freundin. Dann reichte sie ihr das gefüllte Wasserglas vom Nachtschränkchen. „Udo kommt morgen wieder, weil Frau Dr. Hellberg ihm für heute einen Besuch bei dir verboten hat."
„Es hat mich beeindruckt, wie energisch sie ihn fortgeschickt hat", sagte Brigitte und schluckte die Tablette. „Warum hast du ausgerechnet sie gerufen? Kennst du sie schon länger?"
„Nein, aber ich habe gehört, dass die Petersfeldener die neue Ärztin boykottieren, weil sie lieber wieder einen erfahrenen Mann in der Praxis hätten. Eine junge, attraktive Frau erregt ihr Misstrauen. Ich habe aber keine Vorurteile. Schließlich leben wir nicht mehr im Mittelalter."
„Von der Existenz einer Nichte unseres alten Dr. Seifert wusste ich gar nichts. Hatte er sich nicht mit seiner Familie überworfen?"
„Vor vielen Jahren schon", bestätigte Helga. „Trotzdem hat seine Nichte ihn hin und wieder besucht. Sie war wohl die einzige aus der Familie, mit der er Kontakt hatte. Einmal hat er erwähnt, wie stolz er auf sie war, weil sie es in ihrem Alter schon zur Oberärztin gebracht hatte. Frau Dr. Hellberg war es auch, die ihren Onkel nach Hannover in die Klinik geholt hat, als er so schwer krank wurde."
„Dann hat er ihr wohl das Haus vererbt", überlegte Brigitte. „Da die Praxis recht altmodisch war, hat sie vermutlich viel Geld investiert. - Nun bleiben die Patienten aus und sie kann ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen.“ Fragend hob sie die Brauen. „Beurteile ich das richtig?"
„Leider ist das so. Mir täte es jedenfalls sehr leid, wenn diese nette junge Frau vor der Sturheit der Leute kapitulieren müsste."
„Das wird nicht passieren", sagte Brigitte entschlossen, weil sie glaubte, etwas gutmachen zu müssen. „Sowie es mir wieder besser geht, kümmere ich mich darum."
„Was hast du denn vor? Als Frau Dr. Hellberg nach dem Besuch bei dir so bedrückt wirkte, dachte ich, dass du sie nicht leiden kannst."
„Wegen Apollo war ich noch so durcheinander", gestand Brigitte. „Deshalb war ich wohl ziemlich unwirsch. Ich werde mich bei Frau Dr. Hellberg entschuldigen. Außerdem bringe ich die Petersfeldener irgendwie zur Vernunft. Es wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht beeinflussen könnte. Immerhin verdienen viele von ihnen ihr Brot in meiner Firma." Erschöpft strich sie sich über die Stirn. „Allmählich werde ich müde. Die Tablette scheint zu wirken."
„Es handelt sich ja auch um ein Präparat von Edugu-Pharma", erklärte Helga. „Schlaf dich mal richtig aus, Brigitte. Und ruf mich, wenn du was brauchst. - Gute Nacht."
„Danke, Helga. - Gute Nacht."
Edugu-Pharma, wiederholte Brigitte im Stillen, als Helga die Tür von außen geschlossen hatte. - Manchmal wünschte sie, Eduard sei nur ein kleiner Beamter gewesen. Was nützte ihr all das viele Geld? Es konnte ihr auch nicht ersetzen, was sie verloren hatte.