Читать книгу Die weiße Villa - Claudia Rimkus - Страница 14

Kapitel 12

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Zwei Tage später erschien Brigitte Gundlach morgens auf dem Tennisplatz. Der Jugendfreund ihres Sohnes, dem der neuste Klatsch in Petersfelden zu Ohren gekommen war, wollte sie ein wenig ablenken. Deshalb hatte Michael Kunze sie ­wieder einmal zu einem Match eingeladen. Nach zwei von Brigitte gewonnenen Sätzen gab der junge Mann auf.

„Machen wir Schluss für heute!", rief er ihr zu. „Ich bin völlig geschafft, Frau Gundlach!"

„Was ist Ihr Problem, Anwalt?", fragte sie lächelnd, als sie am Netz zusammentrafen. „Wir haben doch gerade erst angefangen."

„Sie spielen mir heute zu aggressiv", entgegnete Michael und wischte sich mit dem Handtuch über die Stirn. „Immerhin bin ich auch nicht mehr der Jüngste."

„Was soll ich dann erst sagen? Ich könnte Ihre Mutter sein."

„Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Das wissen Sie auch. – Und das hat absolut nichts damit zu tun, dass Sie mir damals das Studium finan­ziert haben."

„Ach, Michael ..." Gerührt strich sie ihm mit dem Handrücken über die Wange. „Sie sind ein guter Junge. – Außerdem der beste Freund, den Tobias sich wünschen konnte. Andere hätten sich nach seinem Verschwinden zurückgezogen. Aber Sie kümmern sich um seine Mutter, spielen sogar Tennis mit ihr. Das zeugt von Format."

„Für mich ist das selbstverständlich", widersprach er kopfschüt­telnd. „Schon als kleiner Junge habe ich mich in Ihrer Nähe sehr wohl gefühlt. Sie haben mir die Geborgenheit geschenkt, die ich zu Hause vermiss­t habe. – Damit will ich meinem Vater keinen Vorwurf machen", fügte er hinzu, als sie etwas einwenden wollte. „Nach Mutters Tod hatte er es nicht leicht, mich allein großzuziehen. Wenn er abends vom Bau kam, war er verständlicherweise zu müde, sich mit mir zu be­schäftigen." Dankbar schaute er Brigitte an. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte ich nicht jederzeit zu Ihnen kommen dürfen."

„Auch ohnedies hätten Sie Ihren Weg gefunden. Sie und mein Tobias ..." Seufzend brach sie ab. Doch dann schaute sie den Rechtsanwalt offen an. „Halten Sie es auch für völlig unrealistisch, dass Tobias noch lebt? Mache ich mir wirklich selbst was vor, indem ich die Hoffnung nicht aufgebe? Oder glau­ben Sie auch, dass Tobias eines Tages zu­rückkommt?"

„Solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, besteht immer eine Chance. Wir beide, Sie und ich, wir werden auf Tobias warten. – Selbst wenn es noch Jahre dauern sollte. Dann werden Sie Ihren Sohn und ich meinen besten Freund in die Arme schließen."

„Danke, Michael." Ein bewegtes Lächeln erschien auf ihrem Ge­sicht. „Es tut gut zu wissen, dass Sie mir zur Seite stehen."

Später stellte Brigitte ihren Wagen in der Innenstadt ab. Zielstrebig überquerte sie den Parkplatz und betrat ihre Hausbank. Für einen Moment verstummten die Gespräche in der Schalterhalle, und die eintretende Kundin wurde von allen Seiten neugierig gemustert. Unbeirrt ging sie zu einem Schalter hinüber, wobei sie einigen Anwesenden zunickte.

„Guten Tag, Frau Gundlach", begrüßte ein Bankangestellter mittleren Alters die Fabrikantin. „Was kann ich für Sie tun?"

„Ich möchte Geld abheben", erwiderte Brigitte und entnahm ihrer Handtasche ein kleines ledernes Mäppchen. Obwohl sie die Blicke anderer Kunden deutlich in ihrem Rücken spürte, zog sie den vorbereiteten Auszahlungsschein mit stoischer Gelassenheit hervor und reichte ihn über den Tresen.

„Fünftausend Euro?", las der Angestellte halblaut, bevor er die Kundin über den Rand seiner Nickelbrille hinweg forschend anblickte. „Sie möchten einen so hohen Betrag in bar abheben?"

„Spricht etwas dagegen?", fragte sie leicht ungehalten. „Haben Sie Grund zu der Annahme, dass mein Konto nicht gedeckt ist?"

„Selbstverständlich nicht", beeilte er sich, ihr zu versichern. „Wie möchten Sie die Summe haben, Frau Gundlach?"

„In großen Scheinen – bitte."

Verstehend nickte er und bediente seinen Computer, der die Geld­scheine nach wenigen Sekunden automatisch herausgab. Sorgfältig zählte der Angestellte den Betrag auf dem Tresen vor.

„Ich danke Ihnen", sagte Brigitte und ließ die Banknoten samt dem Ledermäppchen in ihrer Handtasche verschwinden. „Guten Tag", wünschte sie noch, ehe sie sich umwandte und die Schalterhalle verließ. Im Freien atmete Brigitte tief durch. Danach überquerte sie die Straße und betrat das gegenüberliegende Antiquitätengeschäft van Hoven, dem eine Kunst- und Möbeltischlerei angeschlossen war. Da sie mit dem Eigentümer gut bekannt war, kam sie gleich auf ihr Anliegen zu sprechen. Zuvorkommend führte er die Kundin zu einem englischen Aufsatz-Sekretär. Mit keinem Wort er­wähnte er den Zwischenfall, den er auf der Party miterlebt hatte.

„Das ist er, Frau Gundlach", sagte er und deutete stolz auf das kostbare Möbelstück.

„Der ist wirklich wunderschön.“ Mit den Finger­spitzen strich sie über das polierte Mahagoniholz, ehe sie den Sekretär eingehend begutachtete. „Was soll er kosten, Herr van Hoven?"

„Sechseinhalbtausend ..."

„Ein annehmbarer Preis ", entschied sie fachkundig. „Wann können Sie ihn liefern?"

„Gleich morgen im Laufe des Vormittags."

„Gut." Zufrieden nahm Brigitte ihre Kreditkarte aus der Tasche und beglich die Rechnung. Anschließend schrieb sie einige Zeilen auf eine ihrer Visitenkarten und deponierte sie in einer kleinen Schub­lade des eben erworbenen Möbelstücks. „Die Lieferadresse ist Ihnen vermutlich bekannt."

„Selbstverständlich, Frau Gundlach. Es war mir wie immer ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen."

„Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas Interessantes reinbekommen", bat sie, als er sie zur Tür begleitete.

„Sie hören von mir, gnädige Frau."

Nach Verlassen des Geschäfts schlenderte Brigitte über den Markt­platz, besorgte in einer Parfümerie einige Toilettenartikel und suchte in einem Blumengeschäft einen bunten Strauß aus. Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen passierte sie die elegante Boutique von Stella Kleve. Interessiert schaute sich sie sich die Auslagen in den Schau­fenstern an. Eine cremefarbene Seidenbluse gefiel ihr besonders gut, so dass sie beschloss, das Kleidungsstück anzuprobieren. Sie hatte schon die Klinke der Ladentür in der Hand, als sie durch die Scheibe Stella Kleve im Gespräch mit Manuel Hellberg sah. Es versetzte ihr einen Stich, die beiden so einträchtig zusammenzusehen. Hastig wandte sie sich ab und eilte zu ihrem Fahrzeug. Ihre Päckchen und Taschen legte sie achtlos in den Kofferraum, ehe sie das Auto aus der Parkbucht lenkte.

Zügig fuhr sie die Hauptstraße entlang. Trotzdem bemerkte sie im Vorbeifahren den auffälligen gelben Porsche, der vor dem Petersfeldener Doktorhaus stand. Warum war ihr Neffe bei Mona? Hatte er womöglich Feuer gefangen? Brigitte wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Seit ihr bekannt war, wie viel ihren Sohn damals mit Mona verbunden hatte, hoffte sie, die beiden könnten wieder zueinander finden, wenn Tobias zurückkäme...

Bald stoppte Brigitte das Fahrzeug vor der Seniorenresidenz in Osterried. Regelmäßig besuchte sie hier Elfi Steiner, die ehemalige Erzieherin ihres verstorbenen Mannes, die mehr als vierzig Jahre im Hause der Gundlachs gelebt und gewirkt hatte, bevor sie sich auf eigenen Wunsch auf diesen Ruhesitz zurückgezogen hatte. Die hochbetagte, fast neunzigjährige Dame freute sich jedes Mal sehr über diese Besuche. Nachdem Brigitte ihr Blumen und einige Mitbringsel überreicht hatte, leistete sie der Frau, die bei Eduard Gundlach Mutterstelle ver­treten hatte, beim Mittagessen Gesellschaft. Anschließend unter­nahm sie einen kurzen Spaziergang im Park mit der alten Dame. Später saßen sie noch plaudernd in deren Apartment zusammen, wo­bei Elfi ihren Gast mehrmals forschend musterte.

„Du wirkst heute so unruhig", bemerkte Elfi. „Hast du Sorgen, mein Kind?"

„Mir schwirrt so vieles durch den Kopf", verneinte Brigitte mit ent­schuldigendem Lächeln. „Seit meiner Rückkehr aus Südamerika ist einiges passiert."

„Du hast eine Party gegeben."

„Davon weißt du schon?"

„Meine Nachbarin, diese Klatschtante, hat mir brühwarm davon erzählt. Dabei hat sie wieder maßlos übertrieben. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass du dich in Anwesenheit deiner Gäste total betrunken einem Mann an den Hals geworfen hast."

„Ich war zwar nicht betrunken, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund habe ich tatsächlich die Kontrolle über mich verloren. Mir ist völlig unbegreiflich, wie das geschehen konnte."

„Vielleicht hat es einfach an dem Mann gelegen? Soviel ich gehört habe, soll der Vater der neuen Ärztin sehr attrak­tiv sein."

„Das ist wahr, Elfi", bestätigte Brigitte. „Manuel Hellberg ist ein kluger, weltgewandter Mann, der eine enorme Ausstrahlung besitzt. Er hat sogar ein bisschen mit mir geflirtet.“

Nachdenklich zündete sie sich mit ihrem vergoldeten Feuerzeug eine Zigarette an.

Aufmerksam schaute die alte Dame ihr dabei zu.

„Hast du dich in ihn verliebt?"

„Vom ersten Augenblick an habe ich mich sehr stark zu ihm hin­gezogen gefühlt", gab sie zu. „Wenn man so ausgehungert nach Liebe und Zärtlichkeit ist, wird man wohl empfänglich für die Zuwendung eines interessanten Mannes. Plötzlich fühlt man sich wieder jung und begehrenswert. Dabei hatte ich den festen Vorsatz, diese romantischen Empfindungen nicht zuzulassen, um mich mit meinen fast sechzig nicht zum Gespött der ganzen Stadt zu machen." Betrübt schüttelte sie den Kopf. „Jetzt ist alles noch viel schlimmer, weil ich mich ihm wie ein sex­hungriges Flittchen angeboten habe. Mein Verhalten ist wahrscheinlich der Grund, aus dem er sich mit Stella Kleve trifft."

„Stella hat es also auch auf ihn abgesehen", schloss Elfi aus ihren Worten. „Anscheinend ist immer noch kein interessanter Mann vor ihr sicher." Prüfend schaute sie die Jüngere an. „Wirst du ihn ihr überlassen?"

„Denkst du, dass ich mit einer zwanzig Jahre Jüngeren konkurrieren kann? In meinem Alter macht man sich keine Illusionen mehr." Sich zu einem Lächeln zwingend, schaute sie die alte Dame an. „Ich bin dankbar, dass ich zweiunddreißig glückliche Jahre mit Eduard hatte. Eine so enge Verbundenheit ist sowieso nicht wiederholbar. Manch­mal wünschte ich, dass ich mit ihm im Wagen gesessen hätte, als er ver­unglückte."

„So was darfst du nicht mal denken! Es lohnt sich immer, zu leben. – Schon wegen Tobias. Außerdem trägst du die Verantwortung für den Konzern."

„Das könnte Udo genauso gut", widersprach sie. „Und Tobias ist weit fort. So weit, dass ich ihn wohl nie finden werde."

„Es tut mir so leid, dass deine Reise auch diesmal nichts gebracht hat", bedauerte Elfi, die Tobias wie einen Enkel lieb­te. „Trotzdem darfst du die Hoffnung nicht aufgeben."

„Das tue ich auch nicht", versprach Brigitte mit neuer Entschlos­senheit. „Es hat lange gedauert, bis ich mich mit Eduards Tod abfinden konnte, aber ich werde immer hoffen, dass Tobias irgendwann zurück­kommt. Mir ist doch sonst niemand geblieben."

„Du hättest dich längst wieder verheiraten sollen. Ge­eignete Kandidaten, die dich in den vergangenen Jahren hartnäckig umworben haben, gab es nun wirklich zur Genüge. Eine neue Ehe ist besser, als ein Leben in Einsamkeit zu fristen. Du bist noch zu jung, um nur von der Er­innerung zu zehren."

Traurig schüttelte Brigitte den Kopf.

„Keiner von diesen Männern hätte mir das ersetzen können, was ich verloren habe."

„Und dieser Manuel Hellberg?“, forderte die alte Dame sie heraus. „Hätte er das gekonnt?"

„Manuel ...?", wiederholte Brigitte gedankenverloren. „Seit Eduard war er der erste Mann, der all meine Sinne angesprochen hat. In seiner Nähe ..." Energisch drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus. „Das ist vorbei, Elfi. Wir hätten ohnehin nicht zueinander gepasst. Er ist ein Weltenbummler, ständig auf Reisen, während ich seit Jahren sehr zurückgezogen lebe." Rasch warf sie einen Blick zum Fenster. „Es wird schon dunkel; ich sollte allmählich aufbrechen."

„Du darfst nicht vor dir selbst davonlaufen.“ Sie kannte Brigitte gut genug, um zu wissen, dass Manuel Hellbergs Wechsel zu Stella Kleve sie verletzte. „Danke für deinen Besuch, mein Kind. Komm gut nach Hause."

Als sie sich erheben wollte, legte Brigitte sanft die Hand auf ihre Schulter.

„Bleib bitte sitzen; ich finde allein raus. – Und ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst – ja!?"

Mit einem liebevollen Kuss auf die Wange und dem Versprechen, bald wiederzukommen, verabschiedete sie sich.

Auf der Landstraße nach Petersfelden bemerkte Brigitte durch einen Blick in den Rückspiegel die hellen Scheinwerfer eines rasch näherkommenden Fahrzeugs. Nur wenige Augenblicke später war der dunkle Geländewagen dicht hinter ihr. Verärgert fragte sie sich, warum der Fahrer nicht ab­blendete und beschleunigte etwas. Trotzdem blieb das andere Auto direkt hinter ihr. Ungehalten über diesen unverschämten Verkehrs­rowdy nahm Brigitte den Fuß vom Gaspedal. Daraufhin drosselte auch der Wagen hinter ihr die Geschwindigkeit.

„Blende endlich ab!", schimpfte sie und verstellte mit einer Hand den Innenspiegel, um dem grellen Licht auszuweichen. Im nächsten Augenblick umfasste sie das Lenkrad instinktiv fester, da der dunkle Wagen kurz vor einer Kurve zum Überholen ansetzte. Als er jedoch auf gleicher Höhe mit dem silberfarbenen Mercedes war, zog er plötzlich nach rechts.

„Pass doch auf, Idiot!", rief sie erschrocken aus, während ihr Fahrzeug bei dem Versuch auszuweichen, ins Schlingern geriet. Vergeblich bemühte sie sich, einen Blick auf den Fahrer zu werfen. Durch die dunklen Scheiben war nichts zu erkennen. Außerdem erforderte die Straße ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit, da der Geländewagen auf ihrer linken Seite wieder gefährlich nahe kam. Dieser Rüpel wollte sie von der Straße abdrängen!, schoss es ihr durch den Kopf. Entsetzt trat sie das Gaspedal durch, worauf das Sport-Coupé kräftig anzog. Selbst durch dieses Manöver gelang es ihr nicht, den unheim­lichen Verfolger abzuschütteln. Bald war er wieder auf gleicher Höhe, behielt diese Geschwindigkeit sekundenlang bei, beschleunigte dann und zog an ihr vorbei. Aufatmend bremste Brigitte etwas ab und schaltete zurück. Ihre Erleichterung hielt aber nicht lange vor. Hinter der nächsten Kurve sah sie den schwarzen Wagen quer über der Straße stehen. Reaktionsschnell trat sie auf die Bremse, worauf der Mercedes ins Schleudern geriet und mit den Vorderreifen in den Straßengraben rutschte. Hilfesuchend blickte sie sich um, aber in der Dunkelheit war keine Menschenseele zu sehen. Nur der schwarze Geländewagen stand wenige Meter von ihr entfernt wie drohend auf der Fahrbahn. Vergeblich bemühte sie sich, ihren Wagen zurückzusetzen; die Räder drehten immer wieder durch.

„Nun komm schon ...", murmelte sie beschwörend und gab mehr Gas. Dadurch bekam sie den Wagen aber auch nicht frei. Sie sah, dass die Tür des anderen Autos geöffnet wurde. Eine dunkelgekleidete Gestalt stieg aus. Das Gesicht des Mannes war von einer schwarzen Skimaske verdeckt. Während er breitbeinig mitten auf der Straße stehen blieb, schwang er in der Hand einen Schlagstock.

„Oh, mein Gott ..." In Panik sprang sie aus dem Auto. Ohne sich noch einmal umzusehen, hastete sie auf das kleine Wäldchen zu. Erst als sie in das Dunkel eintauchte, fühlte sie sich etwas sicherer. Instinktiv lief sie nach rechts. Ihr angsterfülltes Keuchen durchbrach die Stille des Waldes. Sekundenlang blieb Brigitte stehen, um nach Atem zu schöpfen. Weiter! Sie musste weiterlaufen! In ihren Pumps kam sie auf dem weichen Waldboden nur mühsam voran. Wild wuchernde Brombeerzweige peitschten gegen ihre Beine, hinterließen brennende Kratzer. Sie ignorierte den Schmerz, hetzte weiter durch das Gestrüpp. Plötzlich stolperte sie über eine Baumwurzel und schlug der Länge nach hin. Schwer atmend blieb sie liegen und lauschte auf Geräusche. Jedes Knacken im Unterholz, jedes Rascheln der Blätter ließ sie zusammenzucken. Der schrille Schrei eines Vogels ertönte in der Nähe aus dem Dickicht. Hatte ihr Verfolger ihn aufgescheucht? War er ihr so dicht auf den Fersen? Mühsam kam Brigitte wieder auf die Beine und blickte sich um, konnte im fahlen Mondlicht aber kaum etwas erkennen. Trotzdem musste sie weiter! Sie musste es nach Petersfelden schaffen! In die Nähe von Menschen! Sie konnte sich in der vertrauten Umgebung nur auf ihren Orientierungssinn verlassen. Zwischen zwei Bäumen blieb sie kurz stehen und blickte sich verzweifelt um. Vor ihr lag eine Lichtung, die sie von Spaziergängen kannte. Am Rande davon musste sich irgendwo ein Wanderweg nach Petersfelden befinden...

Um diese Zeit saßen die Hellbergs im Doktorhaus beim Abendessen.

„Udo Gundlach war heute bei mir in der Praxis", erzählte Mona. „Er sorgt sich um seine Tante."

„War er nur deshalb bei dir?" Vielsagend zwinkerte ihr Vater ihr zu. „Vielleicht wollte er dich einfach nur wiedersehen?"

„Wie hast du das nur erraten? Udo wollte mich sogar einladen, aber ich habe abgelehnt.“

„Anscheinend bist du konsequenter als dein Vater."

„Wieso?"

„Mir ist heute eine Dame über den Weg gelaufen, der ich nicht widerstehen konnte."

„Brigitte?"

„Stella Kleve. Ich habe sie getroffen, als ich mir im Fotoladen eine Gegenlichtblende besorgt habe.“

„Deine neuste Eroberung?", fragte Mona interessiert. „Auf der Party hat sie einen recht sympathischen Eindruck gemacht."

„Na ja, sie ist ein bisschen direkt", überlegte Manuel. „Aber auch sehr anziehend. Stella besitzt am Marktplatz eine Boutique. Dort hat sie mich zu einem Cappuccino eingeladen und mir bei dieser Gelegenheit das Leben in Petersfelden geschildert – inklusive der kurio­sen Eigenarten einiger Mitbürger. Ich könnte mir vorstellen ..." Er unterbrach sich, als das Telefon läutete.

„Entschuldige", bat Mona und ging an den Apparat. „Hellberg!?“

„Helga Busse. Verzeihen Sie bitte die Störung, Frau Dr. Hellberg, aber ich sorge mich um Brigitte. Ist sie vielleicht bei Ihnen?"

„Tut mir leid. Seit der Party habe ich sie nicht mehr gesehen. – Wollte sie denn zu mir?"

„Das weiß ich leider nicht. Sie hat am Vormittag das Haus verlassen, um Einkäufe zu erledigen. Anschließend war sie zu einem Besuch in der Seniorenresidenz von Osterried. Auf meine Nachfrage sagte man mir, dass sie dort schon vor mehr als zwei Stunden abgefahren ist. Demnach müsste sie längst zu Hause sein."

„Vielleicht hat sie unterwegs Freunde getroffen. – Oder noch einen weiteren Besuch geplant."

„Normalerweise ruft sie dann an und sagt Bescheid, dass es später wird", entgegnete Helga. „Nun ja, wahrscheinlich hat sie das einfach nur vergessen. Entschuldigen Sie, dass ich Sie damit belästigt habe."

„Keine Ursache, Frau Busse. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte."

Während die Ärztin mit ihrem Vater über diesen Anruf sprach, ging Helga ruhelos vor einem Fenster der weißen Villa auf und ab. Gewöhnlich unterrichtete Brigitte sie, wenn sie zum Abendessen nicht nach Hause käme. Sie hatte sich aber nicht gemeldet. Wenn sie wenigstens ein Handy dabeihätte. Aber sie hatte sich bislang immer geweigert, ständig erreichbar zu sein. Nach dem Zwischenfall auf der Party sorgte sich Helga nun umso mehr. Schließlich ließ sie sich nach einer Weile in einem Sessel nieder und griff nach ihrer Handarbeit.

Eine knappe Stunde später wurde Helga durch das anhaltende Läuten der Türglocke aufgeschreckt. Gleichzeitig hämmerte jemand ungeduldig an die Haustür.

„Ich komme ja schon", murmelte sie und legte den Stickrahmen aus der Hand. Mit eiligen Schritten durchquerte sie die Halle und öffnete die Tür.

„Was zum Teu ..." Die Worte erstarben auf ihren Lippen, während ihre Augen sich betroffen weiteten. „Um Himmels Willen, Brigitte!", rief sie fassungslos aus. Die Freundin bot einen besorgnis­erregenden Anblick, wie sie keuchend nach Atem ringend am Türrahmen lehnte. Ihr Haar war zerzaust, das helle Velourslederkostüm fleckig, und die Strümpfe waren zerrissen.

„Meine Güte, was ist dir denn passiert?" Mitfühlend legte Helga den Arm um ihre Schul­tern und führte sie zu einem Sessel in der Halle. „Setz dich erst mal."

„Mach die Tür zu! Schnell, Helga! Er verfolgt mich!"

„Wer?", fragte die Freundin verständnislos, wobei sie die Tür schloss.

„Der Mann ..." Am ganzen Körper zitternd, schlug sie die Hände vors Gesicht. „Er hat mich von der Straße abgedrängt ... kurz vor Peters­felden ... Er wollte mich umbringen ... Da bin ich in den Wald geflüchtet ... Aber er war immer dicht hinter mir ..."

„Du bist den weiten Weg zu Fuß gelaufen?", wiederholte Helga verwundert, worauf Brigitte die Hände sinken ließ.

„Du glaubst mir nicht?", brauste sie auf. „Schau mich doch an! Meinst du, ich laufe zu meinem Vergnügen so rum?"

„Beruhige dich", sagte Helga eindringlich. „Es fällt mir nur schwer, mir vorzustellen, dass du in diesen Schuhen mehrere Kilometer laufen konntest." Kopfschüttelnd deutete sie auf die verdreckten Velourslederpumps. „Noch dazu durch den Wald."

Ein vorwurfsvoller Blick aus müden Augen war die einzige Antwort, die Helga erhielt. Wortlos streifte Brigitte die Pumps von den Füßen, erhob sich und verschwand mit unsicheren Schritten im kleinen Salon.

„Brigitte!", rief Helga ihr nach, aber die Freundin warf nur heftig die Tür hinter sich zu.

Daraufhin eilte Helga in den Wohnraum, griff zum Telefon und wähl­te die Nummer der Petersfeldener Ärztin.

„Was ist passiert, Mona?", fragte ihr Vater beunruhigt, als sie das Gespräch beendet hatte.

„Ich muss zu Brigitte", erwiderte sie, ehe sie ihrem Vater knapp von Helgas Anruf unterrichtete.

„Ich komme mit", beschloss er und legte seine Pfeife in den Aschenbecher. Eilig verließen Vater und Tochter das Haus. Nach wenigen Minuten Fahrt lenkte Mona den roten Wagen durch das offenstehende schmiedeeiserne Tor auf das Grundstück der Familie Gundlach. Die Laternen rechts und links des Weges zum Haus waren eingeschaltet.

„Nanu", sagte Manuel verwundert und deutete nach rechts. „Dort drüben unter dem Baum, das ist Brigittes Auto!"

Abrupt trat Mona auf die Bremse.

„Frau Busse hat aber gesagt, Brigitte hätte ihren Wagen zwischen Oster­ried und Petersfelden stehen lassen müssen."

„Irgendwas stimmt hier nicht", vermutete er. „Komm, Mona, das möchte ich mir genauer ansehen."

Gemeinsam gingen sie zu dem silberfarbenen Mercedes hinüber, dessen Fahrertür weit offen stand. Aufmerksam umkreiste er das Sport-Coupé, konnte aber keine Beschädigung entdecken.

„Seltsam", murmelte er und setzte sich hinters Steuer. „Der Schlüssel steckt. Es scheint tatsächlich, als hätte Brigitte den Wagen fluchtartig verlassen."

„Ist das nicht eigenartig? Wieso behauptet sie, dass sie kilometerweit laufen musste? Es doch nur wenige Meter bis zum Haus."

„Keine Ahnung", entgegnete er ratlos und wandte sich zum Beifahrersitz. Dort lag eine hellbeige Umhängetasche mit teilweise herausgerutschtem Inhalt. „Schau dir das an, Mona!", sagte er plötzlich aufgeregt, als er neben Lippenstift, Geldbörse und Schlüsseletui ein Tablettenröhrchen entdeckte. Beunruhigt griff er danach und reichte es seiner Tochter. „Kennst du das Medikament?"

Unter hochgezogenen Brauen las sie die Aufschrift.

„Das sind Amphetamine", sagte sie, wobei sie ihren Vater fassungs­los anblickte. „Hergestellt von Edugu-Pharma."

„Ein Aufputschmittel?"

„Ja. Es hat eine euphorisierende, zen­tral erregende Wirkung. Nach hohen Dosen können angstbeladene Wahr­nehmungsstörungen bis hin zu echten Psychosen auftreten.“

„Hast du nicht gesagt, deine Untersuchungen hätten ausgeschlossen, dass Brigitte tablettenabhängig ist?"

„Ihre Werte – auch die der Blutuntersuchung – waren völlig normal", sagte Mona und ließ die Tabletten in ihrer Jackentasche ver­schwinden. „Ich muss mir Brigitte erst mal ansehen, Paps."

„Ich fahre ihren Wagen bis vors Haus."

Als es an der Tür der Villa läutete, zuckte Brigitte erschrocken zusammen.

„Du darfst nicht aufmachen, Helga", beschwor sie die Freundin mit angsterfüllter Stimme. „Dieser unheimliche Kerl ..."

„Das wird Frau Dr. Hellberg sein", unterbrach Helga sie. „Ich habe sie angerufen."

„Geh nicht", flüsterte Brigitte kaum hörbar, aber Helga verließ trotzdem den Raum.

„Bin ich froh, dass Sie da sind", begrüßte sie die Ärztin und deren Vater nach dem Öffnen. „Brigitte ist vollkommen durcheinander. Sie starrt nur vor sich hin und zuckt beim geringsten Geräusch zusammen. Ich wollte ihr ein heißes Bad einlassen, aber sie ist vor Angst wie gelähmt.“

Besorgt deutete Mona zur Galerie hinauf.

„Ist sie in ihrem Schlafzimmer?"

„Nein, im kleinen Salon", gab Helga ihr Auskunft und ging voraus.

In dem mit Antiquitäten möblierten Raum trafen sie Brigitte allerdings nicht an. Lediglich die verschmutzte Kostümjacke lag über einem Sessel.

„Die Terrassentür steht offen", sagte Manuel mit Blick auf die Fensterfront. „Brigitte scheint vor uns geflohen zu sein."

„Sie hat nicht mal Schuhe an", brachte Helga ratlos hervor. „Wo kann sie nur sein!?"

„Ich suche draußen nach ihr", ergriff Manuel die Initiative. „Schaut ihr hier im Haus nach!" Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er hinaus. Da er sie im Park nirgendwo entdeckte, hielt er auf den Pavillon zu. Entschlossen legte er die Hand auf die Klinke und öffnete die Holztür. „Brigitte!? - Sind Sie hier? - Ich bin es: Manuel Hellberg!"

Er wollte sich schon wieder abwenden, als er ein leises Schluch­zen hörte. Seine Hand ertastete den Lichtschalter neben dem Tür­rahmen. Eine kleine Korblampe flammte auf und tauchte den achtecki­gen Raum in weiches Licht. Er entdeckte die zusammengesunkene Gestalt, die mit zuckenden Schultern auf dem Rattan-Sofa kauerte.

Mitfühlend setzte er sich zu ihr.

„Brigitte", sprach er sie mit sanfter Stimme an und legte die Hand auf ihren Arm, die sie jedoch unwirsch abschüttelte.

„Lassen Sie mich!"

„Ich möchte Ihnen helfen."

Langsam wandte sie ihm ihr tränennasses Gesicht zu. Sie saß da, die Knie zusammengepresst und schaute ihn aus hilflosen Augen an. Noch war die ausgestandene Angst deutlich von ihren Zügen abzu­lesen.

„Helfen? Einer Verrückten, der Dinge passieren, an die sie sich nicht erinnert oder die niemand ihr glaubt!?"

„Sie sind so wenig verrückt wie ich. Es gibt für alles eine Erklärung."

Behutsam schloss er Brigitte in die Arme. Dadurch löste er einen erneuten Tränenstrom bei ihr aus. Manuel hielt sie einfach nur fest und sprach leise auf sie ein. Schließlich versiegten ihre Tränen. Widerstrebend löste sich Brigitte aus der warmen Geborgenheit seiner Arme.

„Hat Helga Ihnen erzählt, was passiert ist?", fragte sie, wo­rauf er ein Taschentuch hervorzog und die feuchten Spuren von ihren Wangen tupfte.

„Deshalb habe ich meine Tochter hierher begleitet.“

„Sie denken aber dasselbe wie Helga. Diese Geschichte kann nur meiner Fan­tasie entsprungen sein."

Forschend erwiderte Manuel ihren Blick. Alles stand offen in ihren Augen geschrieben. Furcht und Hilflosigkeit, Verzweiflung und Resignation. Irgendetwas in diesem schmerzerfüllten Blick ver­riet Manuel, dass Brigittes Version der Ereignisse zutraf.

„Ich glaube, dass Ihnen wirklich passiert ist, was Sie erzählt haben.“

„Warum?"

„Weil ich an Sie glaube, Brigitte."

Überraschung und Dankbarkeit spiegelten sich nun in ihren Augen. Zögernd hob Brigitte die Hand und berührte mit zitternden Fingern leicht seine Wange.

Bewegt von dieser zärtlichen Geste umschloss Manuel ihre Rechte und drückte sekundenlang seine Lippen hinein. Dann besann er sich jedoch und legte den Arm um Brigittes Schultern.

„Kommen Sie mit mir ins Haus."

Zustimmend nickte sie und ließ sich von ihm hochhelfen. Dabei verzog sie gequält das Gesicht, weil ihre Füße bei jeder Berührung schmerzten.

„Tut es sehr weh?"

„Einen Marathonlauf würde ich heute wohl nicht mehr gewinnen", erwi­derte sie mit einem Anflug von Humor. „Wahrscheinlich würde ich kaum über den Start hinauskommen."

„Tja, dann bleibt mir wohl keine Wahl." Impulsiv hob Manuel sie auf seine Arme. „Mit vereinten Kräften werden wir das Ziel schon erreichen."

„Allmählich scheint es zur Gewohnheit zu werden, dass Sie mich tragen müssen, wenn wir uns begegnen", sagte sie verlegen, verschränkte aber die Hände in seinem Nacken. „Es ist mir sehr unangenehm, dass ich Ihnen das schon wieder zumute."

„Kein Problem. Auch wenn der Putz bei mir schon ­bröckelt, ist das Gerüst noch solide." Jungenhaft zwinkerte er ihr zu. „Außerdem ist es ein Vergnügen, eine schöne Frau auf Händen zu tragen."

Kommentarlos nahm Brigitte diese Worte hin. Sie empfand sich nicht als schön. – In dieser Verfassung schon gar nicht. Sie fühlte sich müde, alt und schmutzig.

Als Manuel mit seiner leichten Last das Haus betrat, kamen ihm Helga und Mona schon entgegen. Die Ärztin erschrak bei Brigittes Anblick – kannte sie die Fabrikantin doch als eine sehr gepflegte Frau. Nun wirkte sie ramponiert und zerschunden.

Fürsorglich bettete Manuel die Hausherrin auf dem Sofa im Wohn­zimmer. Dabei fing sie Monas besorgten Blick auf.

„Ich weiß, ich sehe schrecklich aus.“ Erneut traten Tränen in Brigittes Augen. „Mir kommt das alles wie ein böser Traum vor... Der Kerl mit der Skimaske ... Ich bin durch den Wald gelaufen und ein paar Mal gestürzt ... Er war ganz dicht hinter mir, aber irgendwie ist es mir gelungen, ihn abzuschütteln."

„Wo genau haben Sie Ihren Wagen verlassen?", fragte Mona. „War das weit von hier?"

„Auf der Landstraße zwischen Osterried und Petersfelden", erklärte Brigitte, bevor sie stockend von dem Erlebnis berichtete. „Das klingt unglaublich, nicht?", schloss sie. „Aber mir ist genau das passiert."

Rasch wechselte Mona einen Blick mit ihrem Vater, ehe sie das Tablettenröhrchen aus der Jackentasche zog. Mit ernster Miene zeigte sie es Brigitte.

„Wissen Sie, was das ist?"

„Ein Medikament – aus unserer Herstellung", erwiderte sie nach einem Blick auf das Etikett. „Was ist damit?"

„Wissen Sie auch, um was für ein Mittel es sich handelt?"

„Viel verstehe ich davon leider nicht", bedauerte Brigitte, wobei sie nochmals die Aufschrift las. „Da es verschreibungspflichtig ist, wird es sich aber um ein starkes Medikament handeln."

„Das sind Amphetamine", bestätigte Mona. „Sogenannte Aufputschmittel. Wir haben sie in Ihrem Wagen gefunden."

„In meinem Wagen?" Ungläubig schüttelte Brigitte den Kopf. „Das ist völlig unmöglich!"

„Wir haben Ihr Auto auch nicht auf der Landstraße, sondern hier auf dem Grundstück entdeckt."

„Was?" Fassungslos weiteten sich Brigittes Augen. Sie, diese selbst­sichere, kluge Frau, wirkte unendlich hilflos in diesem Moment. Mit einer fahrigen Geste strich sie sich über die Stirn, als könne sie dadurch ihre aufgewühlten Gedanken ordnen. „Das kann doch nicht sein! Ich weiß genau ..." Hilfesuchend wechselte ihr Blick zu Manuel, dann über Helga zurück zu Mona. „Mein Gott, das ist doch nicht wahr! Es ist auf der Landstraße passiert! Jemand muss meinen Wagen hergebracht und die Tabletten reingelegt haben!"

„Gibt es jemanden, der ein Interesse daran hätte, Ihnen zu schaden?", fragte Mona. „Immerhin fallen diese Amphetamine unter das Betäubungsmittelgesetz. Jeder Missbrauch ist meldepflichtig."

Erregt sprang Brigitte auf. Ihre Miene verschloss sich, wirkte fremd und unnahbar.

„Ich weiß nicht, was dahintersteckt! Trotzdem werde ich Sie nicht daran hindern, Ihre Pflicht zu tun, Mona! Melden Sie mich! Dann hat der ganze Spuk hoffentlich ein Ende!" Ihre Schritte wirkten unsicher, als sie sich in ihren zerrissenen Strümpfen in Richtung der Tür bewegte. „Ich nehme jetzt ein heißes Bad, und dann gehe ich schlafen! Mir langt es für heute!"

„Warten Sie!" Mit wenigen Schritten war Mona bei ihr. „Ich begleite Sie nach oben."

„Das ist nicht nötig."

„Die Kratzer an Ihren Beinen müssen versorgt werden", widersprach Mona und fasste sie fürsorglich unter. „Anschließend überlegen wir gemeinsam, wer oder was hinter diesen Ereignissen stecken könnte."

Überrascht schaute Brigitte sie an.

„Sie glauben gar nicht, dass ich unter dem Einfluss irgend­welcher Pillen die verrücktesten Dinge erfinde?"

„Als wir die Tabletten in Ihrem Wagen fanden, war ich etwas verunsichert. Jetzt bin ich davon überzeugt, dass Sie die Wahrheit gesagt haben. Ich ver­lasse mich auf meine Menschenkenntnis."

„Danke, Mona", sagte Brigitte erleichtert, ehe sie sich noch einmal an Helga und Manuel wandte. „Entschuldigt mich bitte."

„Brigitte", hielt Manuel sie zurück. „Das Telefon schläft heute Nacht vorsichtshalber bei mir."

„Danke", erwiderte sie leise. „Gute Nacht."

Bevor sie sich von der Ärztin hinausführen ließ, warf sie Manuel noch einen undefinierbaren Blick zu.

„Was denken Sie, Frau Busse?" Fragend schaute er Helga an, die mit ihren Gedanken weit fort schien. „Sind Sie an­derer Meinung als meine Tochter und ich?"

„Wie kommen Sie darauf?"

„Immerhin kennen Sie Brigitte viel länger und viel besser als wir."

„Eben", bestätigte Helga. „Brigitte ist viel zu diszipliniert, um in irgendwelchen Drogen Zuflucht zu suchen. Selbst unter extremen Bedingungen hatte sie sich bislang geradezu meisterhaft unter Kontrolle. Ich erinnere mich noch, dass sie achtundvierzig Stunden ununterbrochen in der Klinik an Eduards Bett gesessen hat, nachdem er diesen schrecklichen Unfall hatte. Brigitte wusste von den Ärzten, dass ihr Mann sterben würde. Trotz ihrer Verzweiflung ließ sie sich in seiner Gegenwart keine Schwäche anmerken. Sie hat seine Hand gehalten, als er starb, und tapfer alle Formalitäten erledigt. Erst als sie zu Hause im Schutz ihrer vier Wände war, ist sie zusammengebrochen."

„Sie muss ihren Mann sehr geliebt haben.“

„Ich habe selten eine so glückliche Ehe erlebt. Noch nach Jahren waren die beiden so verliebt wie am ersten Tag. Sie waren so eng miteinander verwachsen, haben sich ohne Worte verstanden. Wenn man wie ich mit seiner Ehe Schiffbruch erlitten hat, kann man eine so enge Verbundenheit, wie sie zwischen Brigitte und Eduard bestanden hat, nur bewundern."

„Haben Sie niemals einen zweiten Versuch in Erwägung gezogen?"

„Nicht ernsthaft", verneinte Helga lächelnd. „Bald nach Eduards Tod hat Brigitte mich gebeten, zu ihr zu ziehen. Also habe ich in Hamburg alles hinter mir gelassen und bin nach Petersfelden gekommen." Amüsiert blitzte es in ihren Augen auf. „Dieses Städtchen ist nicht gerade mit attrak­tiven Männern gesegnet. – Jedenfalls war das bis vor kurzem noch so", fügte sie vieldeutig hinzu. „Sollte Brigitte noch mal heiraten, packe ich eben meine Sachen und verschwinde von hier."

„Warum?", fragte er verständnislos. „Hier ist doch seit Jahren Ihr Zuhause."

„Trautes Heim - Glück allein. – Falls Sie wissen, was ich meine."

„Glauben Sie wirklich, Brigitte würde Sie einfach gehen lassen?"

„Vermutlich nicht. Aber welcher Mann möchte eine zweite Frau im Haus?" Kopfschüttelnd winkte sie ab. „Über ungelegte Eier sollte man nicht gackern. Falls sie sich ent­schließt, José Vargas zu heiraten, wird sie wahrscheinlich sowieso mit ihm nach Brasilien gehen."

Eine steile Falte bildete sich auf Manuels Stirn. Heute erfuhr er zum ersten Mal von einem Konkurrenten. Insgeheim tadelte er sich dafür, nicht be­dacht zu haben, dass eine so attraktive Frau zahlreiche Verehrer haben musste.

„Können Sie mir sagen, wer dieser José Vargas ist?", fragte er, um eine normal klingende Stimme bemüht. Helga soll­te nicht bemerken, wie beunruhigt er war. „Was ist das für ein Mann?"

„Ein sehr vermögender Südamerikaner", erklärte Helga innerlich belustigt. Anscheinend wollte Manuel herausfinden, wie gefährlich der Nebenbuhler sein mochte. „Brigitte hat ihn auf einer ihrer ersten Reisen durch Brasilien kennengelernt. Seitdem sind die beiden eng befreundet."

In banger Erwartung hingen seine Augen an Helgas Gesicht.

„Wie eng?"

„So eng, dass er ihr bei ihrem letzten Aufenthalt in Brasilien einen Heiratsantrag gemacht hat. Wahrscheinlich möchten Sie gern wissen, ob Brigitte ihn angenommen hat. Leider schweigt sie sich darüber noch aus."

„Halten Sie das für ein gutes oder für ein schlechtes Zeichen?"

„Das kommt auf die Perspektive des Betrachters an", überlegte Helga. „Udo beispielsweise meint, Herr Vargas sei zu alt für Brigitte. - Obwohl sie nur zwei Jahre jünger als er ist."

„Und was meinen Sie?"

„Ich kenne den Herrn nur aus Brigittes Erzählungen. Und von Fotos. – Auf denen er sehr sympathisch wirkt. José Vargas ist ein gut aussehender, stattlicher Mann, der Brigitte auch ihren gewohn­ten Lebensstil bieten könnte. Er besitzt Kaffeeplantagen, Gold - und Diamantenminen in Brasilien. Das Gundlach-Vermögen wäre wahrscheinlich nur so was wie ein Taschengeld für ihn." Einer klugen Frau, wie Helga es war, entging nicht, dass Manuel Hellbergs Gesicht sich umschattete. Anscheinend glaubte er, mit einem so vermögenden Mann nicht konkurrieren zu können. Nun bedauerte sie, ihm seine Fragen so offen beant­wortet zu haben. „Allerdings denke ich nicht, dass Brigitte durch Reichtum oder Grundbesitz zu beeindrucken ist", fügte sie deshalb hinzu. „Materielle Aspekte sind ihr nicht wichtig. Es gibt Werte, die weitaus höher ein­zuschätzen sind."

„Ganz meine Meinung", stimmte Manuel ihr zu, wobei seine Miene sich wieder aufhellte. „Man darf seine Gefühle nicht vom Finanziellen abhängig machen."

Unterdessen hatte Brigitte in Monas Beisein ein Bad genommen.

Anschließend versorgte die Ärztin die kleinen Verletzungen an den Beinen und Füßen ihrer Patientin.

„Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas zum Schlafen gebe?"

„Das wird nach der langen Wanderung nicht nötig sein", lehnte sie ab, worauf Mona sich von der Bettkante erhob.

„Rufen Sie mich an, wenn Sie sich nicht wohlfühlen – auch mitten in der Nacht."

Behutsam zog Brigitte sie an der Hand auf die Bettkante zurück.

„Warum tun Sie das alles für mich, Mona?"

„Dafür gibt es mehrere Gründe."

„Darf ich erfahren, welche das sind?"

„Zum einen bin ich Ärztin, und zum anderen mag ich Sie. Außerdem habe auch ich das Gefühl, dass uns irgendwas verbindet."

„Mein Sohn ...", flüsterte Brigitte zustimmend. „Tobias ... Wir haben ihn beide geliebt und verloren. Gerade jetzt würde ich ihn so sehr brauchen."

Mitfühlend legte Mona die Hand auf Brigittes Schulter.

„Mir ist klar, dass das kein Trost für Sie ist, und ich möchte mich Ihnen auch nicht aufdrängen. Trotzdem sollen Sie wissen, dass ich jederzeit für Sie da bin."

„Ich bin dem Zufall sehr dankbar, der uns beide hier zusammengeführt hat. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass Tobias Sie von ganzem Herzen geliebt hat. Sonst hätte er aus vermeintlicher Enttäuschung nicht alles hinter sich gelassen. Sie waren ein sehr wichtiger Teil seines Lebens, und auch ich habe Sie in den letzten Tagen liebgewonnen." Ein zag­haftes Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Bitte, denken Sie jetzt nicht, dass ich meine brachliegende Mütterlichkeit an Ihnen abreagieren möchte. Ich wünsche mir nur, dass wir wirkliche Freundinnen werden."

„Das wäre sehr schön", sagte Mona gerührt und umarmte sie spontan. „Trotzdem muss ich als Ihre Ärztin darauf bestehen, dass Sie jetzt schlafen. Nach den Aufregungen heute brauchen Sie Ruhe."

„Allmählich verspüre ich tatsächlich eine bleierne Müdigkeit." Bereitwillig legte Brigitte sich zurück. „Danke, Mona. – Für alles."

„Gute Nacht, Brigitte.“

Mit einem letzten Blick auf die Patientin griff die Ärztin nach ihrer schwarzen Tasche und löschte das Licht, ehe sie den Raum verließ.

Nachdenklich drehte sich Brigitte auf die Seite. Sie hielt Mona für einen besonderen Menschen. Nicht nur, weil sie vor Jahren mit Tobias zusammen gewesen war. Brigitte erinnerte sich daran, was die junge Frau ihr im Restaurant anvertraut hatte. Demnach war der erste Mann in ihrem Leben ein Gundlach gewesen. Genau wie bei ihr selbst. Aber bei ihr war eine glückliche Verbindung daraus entstanden, während Mona ihr Glück verloren hatte...

Die weiße Villa

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