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Kapitel 3

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1973

Konzentriert saß die 18jährige Brigitte Leonhardt in der Lobby des Hotels am Stadtpark in Hannover bei einer Tasse Kaffee über Vertrags­unterlagen, als ein junger Mann vor ihr stehenblieb.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

Mit ernster Miene hob sie den Blick und musterte ihn kühl.

„Wenn Sie keine Gesellschaft suchen - ja."

„Sind Sie so beschäftigt?", fragte er und nahm im Sessel neben ihr Platz. „Oder haben Sie generell was gegen Männer?"

„Nur gegen solche, die neugierige Fragen stellen."

Sein herzhaftes Lachen wirkte jungenhaft. Er war schätzungsweise Mitte zwanzig und zwinkerte ihr vergnügt zu.

„Glauben Sie, ich bin einer von dieser Sorte?"

„Da das schon Ihre vierte Frage war ...", gab sie mit leisem Spott zurück. „Um die Sache abzukürzen: Danke, ich bin nicht interessiert."

Trotz dieser Abfuhr beugte er sich etwas zu ihr hinüber. Anscheinend würde er sich nicht so leicht entmutigen lassen. Nun blickte er nachdenklich vor sich hin. Brigitte gestand sich ein, dass er auf Anhieb sympathisch wirkte. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, ihn schon lange zu kennen? So etwas war ihr noch nie passiert, und es verunsicherte sie. Ihre Erfahrungen mit Männern beruhten bislang nur auf freundschaftlichen Beziehungen. Obwohl sie einige Verehrer hatte, die hartnäckig waren, wollte sie so schnell wie möglich ihr Studium durchziehen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Für die Liebe war später noch Zeit. Oder nicht? Verwirrt darüber, überhaupt solche Gedanken zuzulassen, rief sie sich insgeheim zur Ordnung: Sie war nicht zu ihrem Vergnügen hier!

„Woran sind Sie denn interessiert?", hörte sie ihn fragen.

„Derzeit an Edugu-Pharma", entgegnete sie so sachlich wie möglich. „Ich bin hier mit Herrn Gundlach verabredet."

„Ach ...“, sagte er gedehnt. „Was wollen Sie denn von ihm?"

„Entscheidend ist, was er von mir möchte", antwortete sie und schlug die Beine übereinander. „Da er mich bezahlt, wird er sich kaum nach meinen Wünschen richten."

„Mögen Sie den alten Knaben?“, fragte er in missbilligendem Ton. Ihm schien nicht zu gefallen, was er soeben gehört hatte. „Er könnte glatt Ihr Vater sein."

„In meiner Situation kann man sich die Leute nicht aussuchen. Ich muss das Geld für mein Studium verdienen." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Allerdings gebe ich zu, dass es mir auch Spaß macht – jetzt besonders. Herr Gundlach ist wirklich sehr nett. Gestern haben wir schon viel Zeit zusammen verbracht. Wenn er zufrieden mit mir ist, bucht er mich hoffentlich öfter."

Verblüfft schüttelte der junge Mann den Kopf.

„Das klingt, als würden Sie diese ... Tätigkeit gern ausüben!?"

„Es ist das, was ich am besten kann." Rasch setzte sie die Kaffee­tasse an die Lippen, als sie Eduard Gundlach aus dem Fahrstuhl kommen sah.

Da trat der Konzernchef zu den jungen Leuten.

„Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht", sagte er, bevor er den Mann neben ihr anschaute. „Von dieser jungen Dame kannst du noch viel lernen. Brigitte ist nicht nur perfekt in ihrem Job, sondern auch sehr einfühlsam, was die Wünsche ihres Gegenübers betrifft. Auch meine Verhandlungspartner sind ganz begeistert von ihr."

„Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment", wandte sich der Jüngere an Brigitte, erhob sich und führte Eduard Gundlach außer Hörweite. „Hast du dieses Mädchen wirklich mit den Spaniern zusammenge­bracht, Vater?"

„Deshalb habe ich Brigitte doch engagiert", bestätigte er. „Sie erfüllt ihre Aufgabe so gut, dass ich ihr einen Bonus zukommen lassen werde, wenn das Geschäft unter Dach und Fach ist."

„Findest du das nicht geschmacklos?" Vorwurfsvoll blickte er ihn an. „Du hast mich herbeordert, damit ich was lerne. Was du damit gemeint hast, wird mir erst jetzt klar. Ich hätte nie gedacht, dass du es nötig hast, auf diese Weise Ge­schäfte zu machen. In meinen Augen ist das mehr als unseriös."

Verständnislos schüttelte sein Vater den Kopf.

„Leider kann ich dir nicht folgen."

„Glaubst du, ich weiß nicht, was hier läuft!? Wenn du dich mit diesem jungen Ding vergnügst, ist das eine Sache, aber dass du die Spanier mit Hilfe dieses Flittchens dazu bringen willst, die Ver­träge zu deinen Bedingungen zu unterzeichnen, ist wider­wärtig! Bezahl die Kleine und schick sie weg!"

Beide bemerken nicht, dass Brigitte aufgestanden war und das Gespräch aus der Nähe mitanhörte. Einen Moment lang war sie aus Empörung wie gelähmt. Was bildete sich dieser Typ ein? Mit welchem Recht hielt er sie für ein Flittchen? Ausgerechnet sie? Mit solchen Leuten wollte sie nichts zu tun haben!

„Es ist nicht nötig, mich wegzuschicken", sagte sie mit seltsam fremd klingender Stimme. „Ich gehe von allein. – Vorher muss ich allerdings noch was tun." Entschlossen trat sie näher und versetzte dem jungen Mann eine schallende Ohrfeige. Wortlos wandte sie sich dann ab und durchschritt in stolzer Haltung die Hotelhalle.

„Du bist ein Idiot!", herrschte Eduard sen. seinen Sohn an. „Sie ist die Dolmetscherin von der Studentenvermittlung!" Rasch eilte er der jungen Frau nach. „Brigitte! Bitte, warten Sie!" Noch vor dem Ausgang holte er sie ein und fasste sie behutsam am Arm. „Hören Sie mich bitte an: Dieser Zwischenfall tut mir sehr leid. Mein Sohn hat die ganze Situation völlig missverstanden."

„Dieser Rüpel ist Ihr Sohn!? Sie können wirklich stolz auf ihn sein."

„Gewöhnlich bin ich das auch. Mir ist unbegreiflich, wie er Sie für eine ..." Verlegen hob er die Schultern. „Für ein leichtes Mädchen halten konnte. Das bedauere ich außerordent­lich. Ich verstehe, dass Sie nun nicht mehr für mich arbeiten möchten. Trotzdem bitte ich Sie, mich nicht im Stich zu lassen. Sie sind inzwischen mit den Verträgen vertraut und wissen, worauf es mir ankommt. Ein neuer Dolmetscher würde uns viel zu viel Zeit kosten."

„Ich weiß, Herr Gundlach, aber ..."

„Bitte, lassen Sie mich nicht hängen", unterbrach er sie. „Ich brauche Sie. Wenn Sie weiter für mich arbeiten, zahle ich Ihnen das Doppelte des vereinbarten Honorars.“

„So viel liegt Ihnen daran?

„Ja."

„Also gut", gab sie nach. Immerhin konnte sie ihm keinen Vorwurf machen. „Ich bleibe – aber zu den ursprünglichen Bedingungen. Ich möchte aus dieser Sache kein Kapital schlagen."

„Sie sind ein prachtvolles Mädchen. – Danke, Brigitte."

Bei der Zusammenkunft mit den spanischen Geschäftsfreunden war auch Eduard jr. dabei. Allerdings hielt er sich im Hintergrund und beteiligte sich nur hin und wieder durch einen Vorschlag an den Verhandlungen. Das war Brigitte nur recht. Sie versuchte, seine Anwesenheit zu ignorieren und konzentrierte sich darauf, zu übersetzen. Dabei gelang es ihr auch, Streitpunkte zu schlichten und Formulierungen so abzuändern, dass alle Beteiligten zufrieden waren.

Nach erfolgreichem Abschluss der Verträge zeigte sich der Konzern­chef überaus zufrieden.

„Sie waren großartig, Brigitte", lobte er die junge Frau. „Ohne Ihre Mithilfe hätten die Verhandlungen wohl noch Stunden gedauert."

„Ich habe doch nur übersetzt", erwiderte sie, worauf er lächelnd den Kopf schüttelte.

„Sie haben weitaus mehr getan, mein Kind. – Und das wissen Sie auch. Ich möchte, dass wir nachher alle zusammen zu Abend essen. Bis dahin muss ich allerdings noch einige Telefonate führen." Wohlwollend wechselte sein Blick zwischen den jungen Leuten. Ihm war nicht entgangen, auf welche Weise sein Sohn diese bemerkens­werte junge Frau anschaute. „Ihr zwei solltet inzwischen versuchen, eure Missverständnisse beizulegen. Künftig werden wir nämlich öfter zusammenarbeiten." Rasch warf er einen Blick zur Uhr. „Ich schla­ge vor, wir treffen uns in einer Stunde in der Lobby." Sprach‘s und ging mit langen Schritten davon.

Verlegen schaute Brigitte zu dem jungen Mann auf, der sie trotz ihrer Größe von 1,75 m noch ein Stück überragte.

„Und nun, Herr Gundlach?"

„Jetzt ist wohl eine Entschuldigung fällig."

Unmerklich straffte sie ihre Gestalt.

„Falls Sie glauben, dass ich mich für die Ohrfeige entschuldige, nur weil Sie der Junior-Chef von Edugu-Pharma sind, täuschen Sie sich", sagte sie mit fester Stimme. „Eher verzichte ich auf eine weitere Zusammenarbeit mit Ihrem Vater."

„Eigentlich wollte ich mich bei Ihnen entschuldigen", gestand er. „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich so voreilig falsche Schlüsse gezogen habe." Entwaffnend lächelte er sie an. „Andererseits bin ich froh, dass Sie nicht das sind, wo­für ich Sie irrtümlich gehalten habe, Brigitte. Eine ehemalige Dolmetscherin ist mir als Ehefrau nämlich sehr viel lieber."

Erstaunt schaute sie ihn an. Der war ganz schön frech! Vor ein paar Stunden hatte er sie noch beleidigt, und nun flirtete er schon mit ihr. Das konnte ja heiter werden!

„Ich mache Sie gern mit einigen dolmetschenden Kommilitoninnen bekannt“, sagte sie, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Allerdings reagierte er anders, als sie erwartet hätte.

„Ihr Humor ist wundervoll! Es stört Sie doch hoffentlich nicht, dass ich Ihr wohlgemeintes Angebot nicht annehmen kann, weil ich meine Wahl bereits getroffen habe!?"

„Schon wieder eine von diesen neugierigen Fragen", murmelte sie scheinbar verzweifelt. „Wohin soll das nur führen?"

„Erstmal zu einem Spaziergang im Park", antwortete er prompt. „Bald in meine Arme und in absehbarer Zeit vor den Traualtar." Er ignorierte ihren erstaunten Gesichtsausdruck und bot ihr seinen Arm. „Gehen wir?"

„Wenn ich jetzt: ja sage, bedeutet das aber nicht, dass ich auch mit allem anderen einverstanden bin."

„Noch nicht ...", verkündete er und zog ihre Hand durch seine Armbeuge.

Im Stadtpark nahmen sie bald auf einer Bank in der warmen Abendsonne Platz.

„Sind Sie mir noch böse, Brigitte?“ Als sie nicht gleich antwortete, raufte er sich die Haare. „Mir ist schleierhaft, was mich vorhin geritten hat. Sie haben mir sofort gefallen. Plötzlich dachte ich, Sie und mein Vater ... Ich weiß, das war dumm von mir ... Er hat nie ... Obwohl meine Mutter schon mehr als zwanzig Jahre tot ist ...“ Schuldbewusst schaute er sie an. „Normalerweise verhalte ich mich nicht so idiotisch. Glauben Sie, wir können noch mal bei null anfangen?“

Brigitte hatte den Eindruck, dass er es aufrichtig meinte. Deshalb nickte sie nach kurzem Zögern.

„Ich bin nicht nachtragend, Herr Gundlach.“

„Danke.“ Er schien unsagbar erleichtert. „Ich heiße übrigens Eduard – wie mein Vater. Alte Familientradition. Sie können mich aber auch wie meine Freunde Hardy nennen. Was ist Ihnen lieber?“

„Das weiß ich noch nicht. Wie kennen uns doch kaum. Deshalb kann ich nicht beurteilen, was besser zu Ihnen passt.“

„Bald werden Sie es wissen“, sagte er, und es klang überzeugt. „Darf ich Ihnen noch ein paar neugierige Fragen stellen? Verraten Sie mir, wo Sie so perfekt Spanisch ge­lernt haben?"

„Das verdanke ich dem Beruf meines Vaters", erzählte sie bereitwillig. Trotz allem mochte sie den jungen Mann. „Er war Bauingenieur und hatte viel im Ausland zu tun. Meine Mutter und ich, wir haben ihn immer begleitet. Wir haben schon in Panama, in Paraguay, im Kongo und in Jordanien gelebt. Dadurch habe ich Spanisch, Französisch und Engli­sch gelernt. Italienisch ist vor zwei Jahren dazugekommen, als ich sechs Monate eine Schule in Florenz besucht habe. Mein nächstes Ziel ist die chinesische Sprache."

„Sie haben doch nicht etwa vor, deswegen in China zu leben?"

„Warum nicht?", gab sie amüsiert über seinen betroffenen Gesichts­ausdruck zurück. „Eine Sprache lernt man am besten dort, wo sie gesprochen wird." Zögernd legte sie ihre schmale Hand auf seinen Arm. „Nun schauen Sie mich nicht so entsetzt an. Vor­läufig kann ich es mir gar nicht leisten, nach China zu fliegen. – Es sei denn, Ihr Vater engagiert mich mehrmals in der Woche."

„Das werde ich zu verhindern wissen", sagte er zuversichtlich. „Es wundert mich allerdings, dass Sie sich Ihr Studium verdienen müssen. Unterstützen Ihre Eltern Sie denn nicht?"

Diese Frage rief traurige Erinnerungen wach. Brigitte sprach nicht gern darüber. Schon gar nicht mit einem Fremden.

„Mein Vater ist vor zwei Jahren bei Brückenbau­arbeiten in Bolivien tödlich verunglückt“, erklärte sie trotzdem. Aus einem ihr rätselhaften Grund vertraute sie ihm. „Meine Mutter ist nie über seinen Tod hinweggekommen. Im letzten Frühjahr ist sie an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben."

Unerwartet umschloss er ihre Hand mit seinen Fingern.

„Sie hat sich das Leben genommen?“

„Mama konnte ohne Paps nicht leben", erwiderte sie leise. „Monatelang hat sie es versucht, aber ..." Hilflos hob sie die Schul­tern. „Sie hat ihn so sehr geliebt, dass sie ihm in den Tod gefolgt ist."

„Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein. Wenn man plötzlich ganz allein und mittellos dasteht ..."

„Es war nicht leicht für mich, aber irgendwie konnte ich Mama verstehen. Ganz mittellos bin ich nicht. Ich habe immer noch das kleine Häuschen meiner Eltern. Solange ich finanziell mit dem Dolmetschen über die Runden komme, möchte ich es nicht verkaufen. Es birgt so viele schöne Erinnerungen." Plötzlich fragte sie sich, warum sie ihm das so vertrauensvoll erzählt hatte. Sie war doch sonst viel zurückhaltender. „Jetzt wissen Sie alles über mich."

„Sie haben mir noch nicht erzählt, ob Sie an jemanden gebunden sind", widersprach er. „Was bei einer so attraktiven Frau natür­lich anzunehmen ist. Falls es also einen Mann in Ihrem Leben gibt, schicken Sie ihn weg – ja!?"

„Wird umgehend abserviert", ging sie lächelnd darauf ein. „Hoffentlich verstehen Sie was von Deutscher Literatur!?"

„Zwar lese ich viel, aber ansonsten ..."

„Tja, dann werde ich den einzigen Mann in meinem Leben wohl be­halten müssen. Er ist nämlich mein Germanistik­professor. Ohne ihn kann ich kaum weiterstudieren."

„In diesem Fall muss ich wohl großzügig sein", lautete seine beruhigte Antwort. Dann blickte er die junge Frau sehr ernst an. „Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick, Brigitte?"

„Nein", erwiderte sie spontan. „Ich weiß nicht", räumte sie gleich darauf verlegen ein. „Vielleicht ..."

Schon wenige Tage später glaubte Brigitte Leonhardt daran.

Obwohl sie in dieser Zeit nichts von Eduard jr. hörte, vermisste sie ihn auf seltsame Weise. Ihm erging es nicht anders, so dass er bald häufig von Petersfelden nach Hannover fuhr, um Brigitte zu sehen. Am nächsten Weihnachtsfest feierten sie unter dem Tannen­baum Verlobung, und zwei Tage nach ihrem neunzehnten Geburtstag wurde Brigitte seine Frau.

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