Читать книгу Die weiße Villa - Claudia Rimkus - Страница 13
Kapitel 11
ОглавлениеNach mehrmaligem Anklopfen betrat Helga am nächsten Vormittag das Schlafzimmer der Freundin.
„Bist du wach, Brigitte?"
„Schon eine Weile", bestätigte sie und richtete sich etwas auf. „Seitdem fühle ich mich so zerschlagen, als hätte ich gestern an einer Orgie teilgenommen. Merkwürdigerweise erinnere ich mich gar nicht mehr an das Ende der Party – geschweige denn, wie ich ins Bett gekommen bin."
„Herr Hellberg hat dich ins Bett gebracht", erklärte Helga und zog die Vorhänge zurück.
„Mir ist heute Morgen nicht nach Witzen zumute", sagte Brigitte, wobei sie sich über die schmerzende Stirn strich. „In meinem Kopf herrscht Explosionsgefahr. Also, verschone mich bitte mit deinen Scherzen."
„Da du kaum noch in der Lage warst, allein zu gehen, hat Herr Hellberg dich die Treppe rauf bis ins Bett getragen", wiederholte Helga, worauf Brigitte ärgerlich abwinkte.
„Nun hör aber auf! Mich musste noch nie jemand ..." Erstaunt über die unbewegte Miene der Freundin brach sie ab. „Du meinst das wirklich ernst? Wie konnte das passieren?"
„Das kann ich dir auch nicht beantworten. Jedenfalls hast du dich zu fortgeschrittener Stunde reichlich sonderbar benommen."
„Inwiefern?"
„Zuerst hast du plötzlich deine Schuhe ausgezogen."
„Was?"
„Einen davon hast du Udo geschenkt; den anderen hast du unserem Herrn Bürgermeister verehrt." Leise lächelnd trat sie ans Bett. „Entschuldige, aber diese Szene hatte schon etwas Komisches.“
Sprachlos erwiderte Brigitte den Blick ihrer Vertrauten und ließ sich erzählen, was sonst noch geschehen war.
„Oh, mein Gott“, sagte Brigitte schockiert. „Wie konnte ich nur auf die absurde Idee kommen, eine Party zu geben?"
„Das hast du doch nur getan, um Frau Dr. Hellberg in die Petersfeldener Gesellschaft einzuführen."
„Weil ich dachte, dadurch hätte sie es hier bei uns vielleicht ein bisschen leichter", bestätigte Brigitte. „Wie hätte ich ahnen können, dass ich mich an diesem Abend zum Gespött der ganzen Stadt mache?“ Niedergeschlagen blickte sie vor sich hin. „Himmel, ist mir das peinlich! Wenn ich nur wüsste, wie es dazu kommen konnte! Ich habe doch kaum Alkohol getrunken!"
„Hattest du vorher irgendwelche Tabletten genommen?"
„Nichts dergleichen. Irgendwas muss aber die Ursache für mein unmögliches Verhalten gewesen sein. Ich bin doch nicht verrückt!"
„Natürlich bist du das nicht", beruhigte Helga sie. „Wo genau endet denn deine Erinnerung an den gestrigen Abend?"
„Irgendwann wurde ich ans Telefon gerufen", überlegte sie. „Dann habe ich noch einige Male getanzt ... Später habe ich mit Udo einen Cognac getrunken ... und der Bürgermeister hat über ein Finanzloch in der Stadtkasse gejammert ..." Nachdenklich krauste sie die Stirn. „Ich war später noch mal in der Halle."
„Was hast du dort gemacht?"
„Keine Ahnung", entgegnete Brigitte unglücklich. „Von diesem Zeitpunkt an fehlt mir jede Erinnerung."
„Vielleicht fällt es dir nachher wieder ein", meinte Helga und erhob sich. „Jetzt solltest du erst mal frühstücken."
„Nur das nicht. Ich bringe keinen Bissen runter. Nach der Blamage würde ich mich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen. Dass mir das ausgerechnet im Beisein der Hellbergs passieren musste, ist mir furchtbar unangenehm." Deprimiert fuhr sie sich mit gespreizten Fingern durch ihr zerwühltes Haar. „Was muss Manuel nur von mir denken? Bestimmt verabscheut er mich jetzt, nachdem er gestern erwähnt hat, was er von Frauen hält, die sich Männern schon nach kurzer Zeit anbieten. Und dann benehme ich mich, als herrsche bei mir sexueller Notstand! Wie soll ich ihm jemals wieder unbefangen gegenübertreten können?"
„Du bist doch sonst nicht um Einfälle verlegen. Sag ihm doch einfach, dass er eine magische Anziehung auf dich ausübt."
„Damit ich mich noch mehr zum Narren mache?"
„Dann ist er gar nicht der Held deiner wilden Träume? Stand er nur zufällig in deiner Schusslinie, als du das Bedürfnis hattest, leidenschaftliche Küsse zu verteilen?"
„Hör auf, mich auch noch damit aufzuziehen", forderte Brigitte mit komischem Lächeln und warf das Kopfkissen nach der Freundin. „Warum schwingst du dich nicht auf deinen Besen und fliegst möglichst weit weg? Ich muss jetzt nachdenken."
„Bin schon verschwunden", entgegnete Helga betont freundlich und beförderte das Kissen zurück ins Bett, bevor sie das Schlafzimmer verließ.
Gegen Mittag traf Udo Gundlach in der weißen Villa ein.
„Ist sie wieder nüchtern, Helga?", fragte er in der Halle wenig respektvoll, worauf die Freundin seiner Tante unwillig die Stirn krauste. Sie unterdrückte eine heftige Bemerkung und deutete nach rechts.
„Ihre Tante ist im kleinen Salon." Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand die blonde Frau im Wohnzimmer.
Brigitte saß in einen seidenen Morgenmantel gekleidet gedankenverloren am Fenster. Sie zuckte leicht zusammen, als Udo energisch eintrat.
„Hast du noch nichts von der guten alten Sitte des Anklopfens gehört?", tadelte sie ihn, worauf er spöttisch die Brauen hob.
„Nach dem, was du dir gestern Abend geleistet hast, klingt es etwas merkwürdig, dich von gutem Benehmen sprechen zu hören. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber dein Verhalten war mehr als skandalös. "
„Falls du gekommen bist, um mir Vorwürfe zu machen, kannst du gleich wieder gehen", entgegnete sie gereizt. „Über den Vorfall bin ich bereits im Bilde."
„Dann bist du dir sicher auch im Klaren darüber, wie sehr du unserem Ansehen und dem der Firma damit geschadet hast. Die ganze Stadt spricht schon davon, wozu du dich im Vollrausch hast hinreißen lassen."
„Ich war nicht betrunken!" Erregt sprang sie auf, musste sich allerdings am Tisch festhalten, so stark zitterten ihre Beine. „Das weiß ich genau!"
„Anscheinend nicht, sonst wäre es nicht zu diesem peinlichem Zwischenfall gekommen", beharrte ihr Neffe. „Oder hast du völlig grundlos die Kontrolle verloren?"
„Verdammt, ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte!", stieß sie wenig damenhaft hervor. „Denkst du, mir ist diese ganze Angelegenheit nicht peinlich? Mir ist sehr wohl bewusst, dass mein Auftritt nicht gerade imagefördernd war!" Seufzend sank sie in den Sessel zurück. „Was glaubst du, wie ich mich fühle, seit Helga mir davon erzählt hat? Ununterbrochen frage ich mich, wie es dazu kommen konnte. Aber ich finde keine Antwort darauf. Es ist mir einfach unbegreiflich."
Sogleich bedauerte Udo seine harten Worte und ging neben ihrem Sessel in die Hocke. Mitfühlend griff er nach ihrer Hand.
„Falls es tatsächlich nicht am Alkohol gelegen hat, solltest du dich mal gründlich untersuchen lassen."
„Frau Dr. Hellberg hat mich erst vor wenigen Tagen durchgecheckt. Mir fehlt nicht das Geringste."
„Aus internistischer Sicht", gab er zu bedenken, worauf sie ihm abrupt ihre Rechte entzog.
„Zweifelst du etwa an meinem Verstand? Du spielst doch auf einen Psychiater an, oder!?"
„Eigentlich dachte ich eher an einen Neurologen", entgegnete er völlig ruhig. „Erst kürzlich habe ich die Abhandlung eines namhaften Spezialisten gelesen. Darin wurden die Ursachen sich plötzlich verändernder Verhaltensweisen beschrieben. Auslöser dafür könnte ein Gehirntumor sein, eine Neurose oder eine Psychose ..."
„Im Klartext bedeutet das, du hältst mich für paranoid oder schizophren!", unterbrach sie ihn aufgebracht. „Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber ich bin völlig normal! Geh jetzt bitte! Ich bin heute nicht in der Verfassung, mit dir zu streiten!"
„Ich möchte dir doch nur helfen", betonte er und erhob sich. „Verzeih, falls ich in meiner Sorge um dich zu weit gegangen bin, aber du bist nun mal der einzige Mensch, den ich habe. Umso mehr beunruhigt es mich, dass dir was Ernstes fehlen könnte."
„Ich weiß, du meinst es gut", lenkte Brigitte ein. „Trotzdem sorgst du dich unnötig."
„Wie du meinst, Tante Biggi", gab er sich geschlagen. „Ruh dich ein paar Tage aus. Bis dahin wird die Angelegenheit hoffentlich in Vergessenheit geraten."
Nachdem Udo gegangen war, trat Brigitte gedankenverloren ans Fenster. Die Worte ihres Neffen ließen sie nicht mehr los. Bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass sie psychisch krank war? War sie deshalb auf der Party von einer Minute zur anderen völlig aus der Rolle gefallen? Genau genommen war das seit ihrer Rückkehr aus Brasilien schon das zweite Mal, dass sie sich so auffällig benommen hatte. Auch ihr Verhalten bei Monas Hausbesuch war unangemessen gewesen. Dafür musste es doch eine Erklärung geben! Wenn man jahrelang zurückgezogen gelebt hatte, verhielt man sich doch nicht grundlos plötzlich so anstößig. Diese Überlegungen lösten schließlich die ersten Selbstzweifel bei Brigitte aus.
„Alles in Ordnung?" Unbemerkt war Helga eingetreten. „Hat Udo dir Vorhaltungen gemacht!?"
„Er hat ja recht damit." Langsam wandte sie sich ihrer Vertrauten zu. „Vielleicht werde ich tatsächlich allmählich verrückt."
„Hat Udo dir das eingeredet? Wie kannst du auch nur einen Moment daran glauben?"
„Immerhin habe ich die verrücktesten Dinge getan, ohne mich hinterher daran zu erinnern."
„Deshalb bist du gleich geisteskrank?" Eindringlich blickte Helga sie an. „Das ist doch völliger Unsinn, Brigitte! Wärst du tatsächlich psychisch krank, würdest du nicht realistisch darüber nachdenken. Es wäre dir gleichgültig." Aufmunternd zwinkerte sie ihr zu. „Oder hältst du dich inzwischen schon für Napoleon?"
„Bislang noch nicht", verneinte Brigitte nun auch lächelnd und schob eine Hand demonstrativ in Brusthöhe in den Morgenmantel. „Allerdings habe ich mich gestern Abend wohl für unwiderstehlich gehalten."
„Du bist unwiderstehlich. Weil du ein kluger, warmherziger Mensch bist, der viel Verständnis für seine Nächsten aufbringt. Man muss dich einfach lieben."
„Danke, Helga." Spontan umarmte Brigitte sie. „Das habe ich gebraucht."
„Dann hör auf, dir unnötige Gedanken zu machen", forderte Helga resolut und griff zum Telefon, das eben zu läuten begann. „Busse bei Gundlach!?"
„Guten Tag, Frau Busse; hier spricht Mona Hellberg."
„Oh, Frau Dr. Hellberg", sagte Helga, wobei sie Brigitte fragend anschaute. Die Freundin hob jedoch abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.
„Jetzt nicht", sagte sie leise und verließ den Raum.
„Was kann ich für Sie tun, Frau Doktor?" wandte sich Helga an die Anruferin.
„Ich möchte mich erkundigen, wie es Brigitte geht. Hat sie eine ruhige Nacht verbracht?"
„Sie hat lange geschlafen, klagt aber über heftige Kopfschmerzen."
„Das war leider zu erwarten. Wie sieht es mit ihrer Erinnerung an die gestrigen Ereignisse aus?“
„Das letzte, was Brigitte noch weiß, ist das Gespräch mit dem Bürgermeister. Den Rest habe ich ihr heute Morgen erzählt. Sie war entsetzt, als sie Einzelheiten erfuhr."
„Die Angelegenheit ist ihr furchtbar peinlich", ahnte Mona. „Konnte sie denn erklären, wie es dazu gekommen ist?"
„Es ist ihr unbegreiflich. Zumal sie sich genau erinnert, dass sie wenig Alkohol getrunken hat."
„Wie steht es mit Medikamenten?"
„Sie hatte nichts eingenommen."
„Seltsam ist das schon", überlegte Mona. „Möglicherweise hat irgendein Versehen dazu geführt, dass ..."
„Brigittes Neffe hatte eine sehr viel einfachere Erklärung."
„Welche?"
„Um es milde zu formulieren: Seine Tante ist in seinen Augen ein Fall für den Psychiater. Er tut gerade so, als sei es bei ihr an der Tagesordnung, die verrücktesten Dinge zu tun."
„Geschieht so etwas einmalig, besteht kein Grund, einen Psychiater zu konsultieren. Sollte es jedoch vermehrt zu extremen Verhaltensauffälligkeiten oder -veränderungen kommen, ist es ratsam, einen Facharzt hinzuzuziehen. Meines Erachtens liegt bislang kein Anlass vor, der diesen Schritt zum jetzigen Zeitpunkt rechtfertigt."
„Dieser Meinung bin auch ich."
„Richten Sie Brigitte bitte meine Grüße aus, und sagen Sie ihr, sie kann sich jederzeit an mich wenden."
„Darüber wird sie sich freuen. – Danke, Frau Dr. Hellberg."
„Wie geht es Brigitte?", fragte ihr Vater mit leiser Ungeduld, als sie das Telefon auf den Tisch zurücklegte.
„Wie erwartet erinnert sie sich nicht an den Zwischenfall", gab Mona ihm mit ernster Miene Auskunft. „Zusätzlich zu heftigen Kopfschmerzen fühlt sie sich verständlicherweise hilflos, weil sie keine Erklärung für den Vorfall findet. Alkohol und Medikamente scheiden nach ihren Worten als Ursache aus."
„Tja dann ..." Ratlos hob er die Schultern. „Dann werden wir wohl nie erfahren, wie es dazu kommen konnte." Unschlüssig ging er einige Schritte auf und ab. Er wollte irgendetwas für Brigitte tun, wusste aber nicht, was.
„Am liebsten würdest du zu ihr fahren", vermutete Mona, nachdem sie ihrem Vater eine Weile bei seiner Wanderung zugesehen hatte. „Im Moment halte ich das aber nicht für ratsam. Sie schämt sich ihres Verhaltens. – Dir gegenüber ist ihr das wahrscheinlich besonders unangenehm. Lass ihr ein bisschen Zeit, Paps."