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Kapitel 5

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Am darauffolgenden Morgen parkte Brigitte Gundlach ihren Sport­wagen vor dem Salon Bertram. Schon an der Tür wurde sie vom Meister persönlich erwartet. Nach der Begrüßung führte er sie zu einem freien Platz. Als sie sich setzte, bemerkte Brigitte durch den großen Spiegel vor sich die neugierigen Blicke, die sie sowohl von den anwesenden Kundinnen als auch vom Personal trafen. Zufrieden darüber, dass der Salon an diesem Morgen so gut besucht war, lehnte sich Brigitte zurück.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Gundlach?"

„Wie immer", entgegnete sie und setzte eine bekümmerte Miene auf. Mit der Rechten fuhr sie sich durch die Frisur. „Ihre Kollegen in Südamerika waren einfach unfähig, mich ordentlich zu frisieren. Schauen Sie nur, wie stumpf und an­gegriffen mein Haar aussieht."

„Das kriegen wir mit unserer neuen Pflegeserie schon wieder hin."

Nachdem er ihr das Haar gewaschen hatte, nahm er einen Kamm zur Hand.

„Wie ich gehört habe, wurde Ihr Hund vergiftet, Frau Gundlach. Weiß man schon Näheres?"

„Leider nicht. Mir ist unbegreiflich, wie jemand so grausam sein kann. Apollo war ein so lieber Kerl. Bei meiner Rückkehr war er noch ganz munter. – Ein paar Stunden später war er plötzlich tot. Ich vermisse ihn schrecklich.“

„Das ist ja furchtbar", sagte er mitfühlend. „Hatten Sie wenigstens eine angenehme Reise?"

„Ich will mich nicht beklagen, aber das feuchtwarme Klima hat mir doch arg zu schaffen gemacht. Ich bin eben nicht mehr die Jüngste."

„Ich bitte Sie, Frau Gundlach", widersprach er sofort. „Sie haben sich in den letzten Jahren doch kaum verändert, wenn ich das so sagen darf."

„Sie sind ein Charmeur, Herr Bertram", sagte sie lächelnd, da er ihren Plan unwissentlich unterstützte. „Dass ich keine zwanzig mehr bin, habe ich bei meiner Rück­kehr deutlich gespürt. Die anstrengende Reise, der Zeitunterschied und der plötz­liche Klimawechsel haben mir so zugesetzt, dass ich nach der Landung in Hannover richtig krank wurde."

„Dann haben Sie gleich in Hannover einen Arzt aufgesucht!?"

„Wo denken Sie hin?" Scheinbar vorwurfsvoll schaute sie ihn durch den Spiegel an. „Glauben Sie, ich würde einen mir gänz­lich unbekannten Arzt konsultieren? - Nein, ich habe mich sofort nach Hause fahren lassen. Immerhin haben wir in Petersfelden einen guten Arzt."

„Hatten", erinnerte er die Kundin mit Bedauern. „Unser alter Doktor ist ja leider seit fast drei Monaten tot."

„Die Praxis ist doch längst wiedereröffnet", entgegnete Brigitte gerade so laut, dass auch die anderen Anwesenden mithören konnten. „Ganz im Vertrauen: Frau Dr. Hellberg ist viel kompetenter, als ich dachte. Sie müssen wissen, ich habe enge Freunde in Hannover, die mir berichtet haben, dass man Frau Dr. Hellberg in der dortigen Klinik gar nicht gehen lassen wollte. Trotzdem ist sie nach Petersfelden gekommen, um die Arbeit ihres Onkels fortführen."

„Sie haben sich von einer so jungen Ärztin behandeln lassen?", fragte der Frisör mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis. „Konnten Sie ihr einfach so vertrauen?"

„Wenn jemand auf Anhieb so sympathisch wirkt, fällt einem das nicht schwer. Ich bin mehr als zufrieden mit meiner neuen Ärztin. Innerhalb von 24 Stun­den hat sie mich wieder auf die Beine gebracht. Seitdem fühle ich mich großartig." Vernehmlich seufzte sie auf. „Leider werde ich wohl künftig immer nach Hannover fahren müssen, wenn ich Beschwerden habe. Die weite Anfahrt nehme ich aber gern in Kauf, seit ich weiß, dass ich bei Frau Dr. Hellberg in den besten Händen bin."

„Sie will nach Hannover zurück?"

„Es wäre wohl zu viel Aufwand, die Praxis nur wegen Frau Busse und mir weiterzuführen. Sie kennen doch die Pertersfeldener, Herr Bertram: Allem Neuen gegenüber verhalten sie sich misstrauisch. Sie und ich, wir beide wissen natürlich, dass unserem Städtchen nichts Besseres als eine so fähige Ärztin pas­sieren konnte. Aber die anderen ..." Kopfschüttelnd winkte sie ab. „Mir persönlich macht es nichts aus, wenn wir hier vielleicht bald einen verknöcherten Medizinmann haben, der mit den neuesten Behandlungsmethoden nicht vertraut ist. Dann verbinde ich künftig eben Treffen mit meinen Freunden in Hannover mit einem Arztbesuch."

„Steht Frau Dr. Hellbergs Entschluss, die Praxis zu schließen, denn schon fest?", fragte er, während er ihr Haar auf Wick­ler rollte.

„Was täten Sie an ihrer Stelle? Wenn Sie mit den besten Absichten einen Salon eröffneten, aber keine Kunden kämen? Wenn man Sie spüren ließe, nicht willkommen zu sein? Da Sie irgend­wie Ihren Lebensunterhalt bestreiten müssten, bliebe Ihnen keine andere Wahl, als das Geschäft zu schließen. Sie würden dorthin zurückgehen, wo man Sie und Ihre Arbeit zu schätzen weiß."

„Vielleicht könnte man sie aber überreden, zu blei­ben", meinte der Mann. „Sie wird die Praxis ihres Onkels doch nicht leichten Herzens an einen fremden Arzt übergeben."

„Das sicher nicht", stimmte sie ihm zu. „Anderseits wartet in Hannover eine hochdotierte Stelle auf sie, während die Patienten es hier bei uns vorziehen, den alten Doktor im Nachbar­ort aufzusuchen."

„Und wenn sich das ändern würde?"

„Sie meinen, falls Frau Dr. Hellbergs Praxis plötzlich rege fre­quentiert würde?" Während Brigitte sich nachdenklich gab, sah man ihr die Zufriedenheit über den Verlauf des Gesprächs nicht an. „Das könnte ihre Entscheidung vielleicht beeinflussen", sagte sie schließlich. „Jedenfalls wäre das sehr wünschenswert."

Nach einem spartanischen Mittagessen, das aus einer Scheibe Vollkornbrot und einem Stückchen Käse bestanden hatte, kehrte Mona Hellberg lange vor Beginn der Nachmittagssprechstunde in die im Erdgeschoss gelegenen Praxisräume zurück.

Nachdenklich ging sie im Ordinationszimmer auf und ab, ehe sie an das Fenster trat und in den Garten blickte.

Die warmen Strahlen der Frühlingssonne weckten nach und nach die Tulpen aus ihrem unterirdischen Schlaf; die Bäume und Sträucher zeigten das erste zarte Grün.

Mona liebte diesen etwas verwildert aussehenden Garten, in dem sie als kleines Mädchen manchmal gespielt hatte. Sogar die alte Schaukel hing noch immer an einem dicken Ast des Apfel­baums. Es war ein friedlicher Anblick, der Mona wehmütig stimmte. Wenn die Natur erst ihre ganze Pracht entfaltet hätte, würde sie nicht mehr hier sein, dachte sie traurig. So sehr sie auch ge­wünscht hatte, in Petersfelden ihre Wurzeln zu finden. Es wäre besser gewesen, sie hätte den Rat der Freunde und Kollegen befolgt. Aber sie hatte sich über alle Warnungen in dem Glauben hinweggesetzt, ein guter Arzt sei überall willkommen. Rasch war sie eines Besseren belehrt worden: Man wollte sie in Peters­felden nicht. Also würde sie gehen. – Genauso still, wie sie gekommen war. Wahrscheinlich würde man ihren Rückzug mit Erleichterung aufnehmen.

Trotz dieser Niederlage konnte Mona es den Menschen in dieser Stadt nicht verübeln, dass man sie ablehnte. Sie würde in ihre Heimatstadt zurückkehren – und zwar so schnell wie möglich, sonst würden ihr die Schulden über den Kopf wachsen.

Entschlossen trat Mona an den Schreibtisch und griff zum Telefonhörer, um ihren Professor in Hannover anzurufen. Im gleichen Moment läutete es an der Haustür. Ohne Eile durchquerte sie die Praxis, denn dass es ein Patient sein könnte, glaubte sie nicht. Allenfalls ein Arzneimittelvertreter, dachte sie und öffnete lustlos die Tür. Zunächst sah sie nur einen üppigen bunten Blumenstrauß, hinter dem jedoch bald ein graumelierter Haarschopf auftauchte.

„Überraschung!", sagte Manuel Hellberg mit jungenhaftem Lachen.

„Paps!" Stürmisch umarmte sie ihren Vater. „Tut das gut.“ Mit fragendem Blick schaute sie ihn an. „Wolltest du nicht erst morgen aus Japan zurückkommen?"

„Ich bin schon seit gestern Abend wieder da. Ein Interviewpartner hat kurzfristig abgesagt. Deshalb habe ich umgebucht.“ Prüfend musterte er seine Tochter. „Du bist schmal geworden", stellte er mit leisem Vorwurf fest. „Hast du so viel zu tun, dass dir keine Zeit zum Essen bleibt?"

„Das wäre zu schön, um wahr zu sein", murmelte sie, zwang sich aber zu einem Lächeln. „Danke für die wunderschönen Blumen. Kommst du mit rüber? Während du dir die Praxis anschaust, suche ich nach einer Vase."

„Du weichst mir aus."

Mit leiser Beunruhigung folgte er seiner Tochter ins Ordinations­zimmer.

Schweigend nahm Mona dort ein Gefäß, füllte es am Wasch­becken mit Wasser und arrangierte den Strauß darin. Nachdenklich schaute ihr Vater dabei zu. Als sie die Blumen auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, legte ihr Vater die Hände auf Monas Schultern und blickte ihr ernst in die Augen.

„Du nimmst mir übel, dass ich erst jetzt komme, nicht wahr!? Als ich Gelegenheit hatte, meine E-Mails zu lesen, war Hans schon seit einigen Tagen unter der Erde. Es tut mir leid, dass du dich um die For­malitäten und um die Beisetzung allein kümmern musstest."

„Ich weiß doch, wie das ist, wenn du unterwegs bist", beruhigte sie ihn. „Deshalb habe ich dir geschrieben, dass du deine Reise nicht vorzeitig abbrechen sollst. Du hättest auch nicht mehr tun können."

„Zumindest hätte ich dir bei deinem Umzug helfen können. Deine letzte Mail hat mich ohnehin in Erstaunen versetzt. Zwar war Hans der Cousin deiner Mutter, und es lag nahe, dass er dich als Erbin einsetzen würde. Trotzdem war ich überrascht, dass du deine Karriere in Hannover für eine Praxis in einer Kleinstadt aufgegeben hast."

„Du weißt doch, dass ich mich schon als Kind hier wohlgefühlt habe. Ich wollte mir in Petersfelden ein richtiges Zuhause schaffen und mein Leben neu einrichten. Ein hübsches Häuschen, eine eigene Praxis, davon träume ich schon lange. Leider sind diese Träume schon bald wie eine Seifenblase zerplatzt."

„Das verstehe ich nicht. Nun hast du doch, was du dir immer gewünsch­t hast. Trotzdem wirkst du nicht glücklich. Warum nicht?"

„Die Patienten bleiben aus."

„Hat es sich noch nicht rumgesprochen, dass die Praxis wieder geöffnet ist?"

„Vermutlich wurde schon am Tag meiner Ankunft darüber diskutiert. Leider ist nicht unentdeckt geblieben, dass ich eine Frau bin – und jung dazu. Das hat offenbar schon genügt, meine medizinischen Fähigkeiten anzuzweifeln."

„Demnach hast du nur wenige Patienten?", schloss ihr Vater aus ihren Worten, worauf sie bitter auflachte.

„Das ist maßlos übertrieben. Seit der Praxiseröffnung vor vier Wochen haben gerade elf Patienten hierher gefunden. Und das waren fast nur Durchreisende, die sich woanders weiterbehandeln lassen. Ein einziges Mal wurde ich zu einem Hausbesuch gerufen. Es war spät, und ich lag schon im Bett. Also habe ich mich wieder angezogen und bin hingefahren.“ Tief seufzte sie auf. „Das hätte ich mir besser ersparen sollen."

„Warum? Was ist da passiert?"

Knapp erzählte sie von ihrem Besuch in der Villa Gundlach.

„Wie können Menschen nur so dumm und verbohrt sein?" Verständnis­los schüttelte er den Kopf. „Auf meinen Reisen habe ich die­se Erfahrung auch häufiger gemacht. Meistens handelte es sich dabei um Naturvölker, die in primitiven Verhältnissen lebten. Anfangs haben sie sich allem Neuen und Unbekannten gegenüber sehr arg­wöhnisch verhalten. Dann hat aber fast immer ihre Neugierde überwogen, und sie haben das Misstrauen überwunden." Ärgerlich runzelte er die Stirn. „Hier in Petersfelden ist die Zeit aber nicht stehen geblieben! Wir leben im 21. Jahrhundert!"

„Kein Grund, sich aufzuregen, Paps. Ich habe mich damit abgefunden, dass meine Tage in Petersfelden gezählt sind." Schein­bar gleichmütig hängte sie sich bei ihm ein. „Was hältst du davon, dir meine Wohnung anzuschauen? Durch die Renovierung ist sie sehr schön geworden."

„Hast du auch ein Gästezimmer?"

„Es wird dir gefallen. - Komm, ich zeige es dir."

Nach einem Rundgang durch das Obergeschoss betraten sie die ge­mütliche kleine Küche.

„Hübsch hast du es hier", sagte ihr Vater beeindruckt davon, mit welch sicher Hand sie sich ein behagliches Heim geschaffen hatte. „Zu schade, dass du das alles wieder aufgeben willst."

„Mir bleibt wahrscheinlich keine ..." Sie unterbrach sich, als das Telefon läutete. „Entschuldige mich einen Moment", bat sie und eilte ins Wohnzimmer.

Während seine Tochter telefonierte, öffnete Manuel auf der Suche nach etwas Essbarem unbefangen den Kühlschrank.

„Das ist doch nicht zu fassen", murmelte er beim Anblick des kargen Inhalts: ein kleines Stück Käse, zwei Eier, eine nicht mehr appetitlich aussehende Banane, ein Glas Gewürzgurken. Energisch schloss Manuel die Kühlschranktür.

„Du sparst also am Essen", hielt er seiner Tochter vor, als sie in die Küche zurückkehrte. „Deshalb bist du so schmal geworden."

„Bitte, Paps, ich ..."

„Wie viel hast du in den letzten Wochen abgenommen?", unterbrach er sie streng. „Ich erwarte eine ehrliche Antwort."

„Drei oder vier Kilo", gestand sie und senkte den Blick. „Das ist doch nicht weiter schlimm. Irgendwie musste ich meine laufenden Kosten schließlich in Grenzen halten."

„Du steckst also in finanziellen Schwierigkeiten. Hast du nie daran gedacht, dass dein Vater dir vielleicht helfen könnte? Ich bin zwar kein Millionär, aber auch nicht gerade ein armer Mann." Forschend ruhte sein Blick auf seiner Tochter. „Oder verbietet dir dein Stolz, dich von mir unterstützen zu lassen?"

„Natürlich nicht." Offen schaute sie ihm in die Augen. „Trotz­dem wollte ich es allein schaffen. Schließlich bin ich eine er­wachsene Frau von fünfunddreißig Jahren und nicht mehr das kleine Mädchen, das bei allen Schwierigkeiten hilfesuchend zu Papa läuft." Entschlossen hob sie das Kinn. „Ich habe mich finanziell übernommen, weil ich davon ausgegangen bin, dass Onkel Hans' Pa­tienten zu mir genauso vertrauensvoll kommen. Das war ein Fehler, den ich aber selbst ausbügeln muss. Deshalb kehre ich zum nächsten Ersten nach Hannover zurück. Von meinem Gehalt kann ich den Kredit abtragen, und mit etwas Glück finde ich bald einen Käufer für Haus und Praxis. Immerhin braucht Petersfelden einen Internisten."

„In gewisser Weise verstehe ich dich sogar", sagte er versöhnlich. „Wie viele Ärzte gibt es denn in diesem Städtchen?"

„Außer einem Allgemeinmediziner haben wir hier noch einige Fachärzte: einen Kinderarzt, einen Urologen, einen Gynäkologen, einen HNO und einen Augenarzt. Der nächste Internist praktiziert in Osterried.“

Verstehend nickte er.

„Lass uns beim Essen weiter darüber sprechen. Ich habe nämlich Hunger. – Und du auch."

„Aber ich habe schon ..."

„Keine Widerrede!", unterbrach er sie mit scherzhaft erhobenem Zeigefinger. „Wie ich vorhin auf deinem Praxisschild gelesen habe, be­ginnt deine Nachmittagssprechstunde erst in anderthalb Stunden. Bis dahin sind wir längst zurück."

„Okay, du hast gewonnen.“

Gemeinsam verließen sie das Haus.

„Nehmen wir deinen oder meinen Wagen, Mona?"

„Isch abe gar keine Auto", imitierte sie den Italiener aus der Fernsehwerbung, worauf er lachte. Als seine Tochter keine Miene verzog, schaute er sie verblüfft an.

„Ist das wirklich wahr? Du hast deinen roten Flitzer nicht mehr?"

„Ich habe ihn vor ein paar Tagen an einen Händler in Osterried verkauft, damit ich die laufenden Kosten zahlen kann.“ Nachdenklich blieb sie stehen. „Ich darf nicht vergessen, meine Versicherung zu benachrichtigen.“

„Ohne Wagen bist du in diesem Kaff doch aufgeschmissen.“

„Hier in Petersfelden brauche ich kein Auto. Hausbesuche kann der Kollege aus Osterried übernehmen. Ich gehe künftig zu Fuß oder nehme den Bus. Im Keller steht außerdem noch Onkel Hans' altes Fahrrad. "

„Das klingt wirklich nach ernsten finanziellen Problemen", kommentierte er kopfschüttelnd und legte den Arm um ihre Schultern. „Komm, mein Mädchen, lass uns erst mal was essen."

„Zwei Straßen weiter ist ein Gasthaus. Da können wir zu Fuß hingehen."

Arm in Arm machten sich Vater und Tochter auf den Weg.

Den silberfarbenen Mercedes, der auf der gegenüberliegenden Straßen­seite ausrollte, bemerkten sie nicht. Am Steuer dieses Wagens saß Brigitte Gundlach, die Mona Hellberg aufsuchen wollte, um sich bei ihr zu entschuldigen. Als sie die Ärztin je­doch in der Begleitung eines Herrn sah, verschob sie ihren Besuch auf später und fuhr kurz entschlossen zum nahegelegenen Stammsitz ihres Konzerns, um im Büro nach dem Rechten zu sehen. Ihr Neffe war mehr als erstaunt, als sie unerwartet sein Arbeits­zimmer betrat. Er überspielte das aber geschickt und ging ihr lächelnd entgegen.

„Tante Biggi, welche Überraschung", begrüßte er sie und küsste sie auf die Wange. „Ich wusste gar nicht, dass du im Haus bist. Was verschafft mir denn die Ehre? Darf ich dir etwas bringen lassen? Vielleicht Kaffee oder Cognac?"

„Kaffee“, bat sie und ließ sich in den Polstern eines bequemen Sessels nieder. Sie schlug die Beine übereinander und streifte die hellen Lederhandschuhe ab.

Als ihr Neffe seiner Sekretärin über die Gegensprechanlage Anwei­sung gab, die Getränke zu bringen, betrachtete Brigitte ihn auf­merksam.

„Hast du derzeit eigentlich eine Freundin, Udo?"

„Keine feste. – Warum?"

„Weil ich beabsichtige, Ende der Woche eine Party zu geben und wissen möchte, ob du in Begleitung kommst."

„Du willst eine Party geben?" So etwas hatte sie sehr lange nicht mehr getan. „Gibt es einen be­sonderen Anlass dafür?"

„Eigentlich nicht."

„Warum willst du dann ..." Kopfschüttelnd brach er ab und kam um seinen Schreibtisch herum. „Entschuldige, aber das erscheint mir reichlich merkwürdig. Seit Onkel Eduards Tod lebst du sehr zurückgezogen und ignorierst deine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Du schlägst seitdem fast sämtliche Einladungen aus, weil du es verabscheust – wie du immer sagst – dir oberflächliches Gerede oder den neuesten Klatsch anzuhören."

„Darf ich meine Meinung nicht ändern?"

„Selbstverständlich, aber es muss doch einen Grund für diesen Sinneswandel geben!?"

„Mir ist einfach danach", entgegnete sie leichthin. „Erinnerst du dich an die Feste, die wir gegeben haben, als Eduard noch lebte? Mit Musik, kulinarischen Köstlichkeiten, erlesenen Weinen ... Ich möchte, dass meine Party das gesellschaftliche Ereignis des Jahres in Petersfelden wird. Weil die Einladung etwas kurzfristig ist, habe ich sie per Mail verschickt. Die meisten Gäste haben schon zugesagt."

„Die Chefin von Edugu-Pharma ruft – und alle kommen“, bemerkte er mit gutmütigem Spott. „Hier in der Stadt ist ja auch sonst nicht viel los.“

„Da ist meine Party eine willkommene Abwechslung.“

„Die wahrscheinlich ein Vermögen verschlingen wird."

„Na und!? Ich habe mehr auf dem Konto, als ich jemals ausgeben kann. Und da du mich dauernd davon überzeugen willst, dass Tobias nicht mehr lebt, frage ich dich, für wen ich mein Geld zusammenhalten soll. Das letzte Hemd hat keine Taschen."

„Schon gut", erwiderte er und nahm ihr gegenüber Platz. „Meinetwegen feiere deine Party.“

„Ich hatte nicht die Absicht, dich um Erlaubnis zu bitten", betonte sie. „Lediglich einladen möchte ich dich. - Wirst du kommen?"

„Gern", erwiderte er knapp, da gerade seine Sekretärin mit den ge­wünschten Getränken eintrat.

„Nun lass uns über Geschäftliches sprechen", verlangte Brigitte, als sie wieder mit ihrem Neffen allein war.

„Jetzt?"

Sie nahm ihre Lesebrille aus der Handtasche.

„Immerhin war ich wochenlang auf Reisen. Deshalb möchte ich mir heute wenigstens einen kurzen Überblick verschaffen. Bei dieser Gelegenheit kann ich auch nötige Unter­schriften leisten."

„Okay.“ Bequem lehnte er sich zurück. „Was möchtest du wissen?“

„Sind die klinischen Studien für das neue Schmerzmittel inzwischen abgeschlossen?“

„Es ist sogar schon seit vierzehn Tagen im Handel. Noch können wir nicht beurteilen, wie es vom Markt angenommen wird, aber ich bin zuversichtlich.“

„Gut“, sagte sie. „Gibt es sonst etwas, das ich wissen muss?“

„Ich habe mir eine zusätzliche Einnahmequelle überlegt.“ Er beugte sich etwas vor und schaute sie triumphierend an. „Wir werden unsere Medikamente künftig nicht nur in Apotheken verkaufen.“

„Wo denn sonst?“ Verständnislos erwiderte sie seinen Blick. „Willst du sie bei Aldi ins Regal stellen?“

„Warum nicht? Heutzutage bieten fast alle Supermärkte und Drogerieketten frei verkäufliche Arzneimittel an. Warum sollen wir daran nicht mitverdienen?“

„Ich weiß nicht“, überlegte sie. „Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du unsere hochwertigen Medikamente ...“

„Es handelt sich doch nur um einfache Präparate“, fiel er ihr ins Wort. „Hustensaft, Nasenspray, Vitaminpillen und so weiter. Ich habe eine Marktanalyse in Auftrag gegeben. Demnach gehen viele Menschen bei leichten Beschwerden nicht mehr zum Arzt oder in die Apotheke, weil sie sparen müssen. Rezeptgebühren sind oft höher als der Preis der Mittel auf dem freien Markt.“

„Trotzdem“, blieb sie skeptisch. „Unser Name steht für eine Qualität, die ...“

„Das habe ich bedacht“, unterbrach er sie abermals. „Wir werden die Produkte unter dem Namen einer Tochterfirma vertreiben.“

„Darüber muss ich erst nachdenken, Udo.“ Es behagte ihr nicht, dass Edugu-Pharma Billigprodukte herstellen sollte, nur um den Profit zu steigern. „Ich werde dir meine Entscheidung so bald wie möglich mitteilen.“

Nach dem Mittagessen kehrten die Hellbergs in das Haus der Ärztin zurück.

„Wen haben wir denn da!?", sagte Manuel erfreut, als er die Sprechstundenhilfe am Empfangstresen sah. „Hat Mona Sie etwa überredet, mit ihr in dieses unfreundliche Nest zu ziehen, Karin?"

„Was tut man nicht alles aus Freundschaft", erwiderte die ehemalige Krankenschwester und langjährige Freundin der Ärztin lächelnd. „Außer­dem wissen Sie doch, wie überzeugend Ihre Tochter sein kann. Inzwischen bedaure ich allerdings, dass ich Mona nicht gewaltsam von ihren Plänen abgehalten habe. Diese Hinterwäldler verdienen eine so gute Ärztin überhaupt nicht."

„Das nenne ich: Ein wahres Wort zur rechten Zeit gesprochen. Ich werde wohl nie verstehen, aus welchem Grund die Leute hier lieber zum alten Quacksalber im Nachbarort gehen, anstatt das Vergnügen einer Untersuchung durch eine schöne junge Frau zu genießen."

„Möglicherweise sehen die Petersfeldenerinnen in Mona eine Gefahr für ihre Männer", scherzte Karin Schlüter. „Woher sollen sie auch wissen, dass die neue Ärztin Beziehungen wohlweislich aus dem Weg geht?"

„Vielleicht ahnen sie aber, dass ihre Assistentin viel gefähr­licher ist", neckte Mona die Freundin, wurde aber gleich wieder ernst. „Ich habe mich heute dazu durchgerungen, die Praxis Ende der Woche zu schließen. Möglicherweise kann ich bis zum Ersten irgendwo eine Vertretung oder einen Notdienst über­nehmen. Selbstverständlich bekommst du trotzdem dein volles Monatsgehalt."

„Das eilt nun wirklich nicht. Mir widerstrebt es sowieso, fürs Nichtstun bezahlt zu werden." Schelmisch zwinkerte sie der Freundin zu. „Nun erweist es sich als Vorteil. dass wir an einer Privatklinik gearbeitet haben. Da Professor Hartmann uns beiden angeboten hat, im Falle einer Pleite zurückzukommen, kannst du mich in Hannover mal zum Abendessen einladen. Bei meinem Appetit sind wir dann quitt."

„Das kommt gar nicht infrage", protestierte Mona gerührt, aber die Freundin bestand darauf.

„Ich stelle deinem Nachfolger in Rechnung, dass die gesamte Pa­tientenkartei deines Onkels jetzt im neuen Computer gespeichert ist. Er muss ja nicht erfahren, dass das für mich nur so was wie Beschäftigungstherapie war."

„Darüber reden wir noch mal", kündigte Mona an. „Jetzt gehe ich nach nebenan und warte auf Patienten, die nicht kommen werden."

„Auch ich habe noch einiges zu erledigen", sagte ihr Vater. „Wir sehen uns später, meine Damen."

Zu Fuß schlenderte Manuel in die Innenstadt und nahm von dort aus ein Taxi zum einzigen Gebrauchtwagenhändler im Nachbarort Osteried. Im Verlauf seiner Verhandlungen über den Kauf eines roten BMW stoppte Brigitte Gundlach ihren offenen Sportwagen vor der dazugehörigen Werkstatt. Suchend schaute sie sich um und sah, dass der Autohändler gerade einen Kunden bediente.

Interessiert stieg sie aus und lehnte sich lässig gegen die Wagentür. Dabei musterte sie den großen, schlanken Mann, den sie bereits gegen Mittag in der Begleitung Frau Dr. Hellbergs bemerkt hatte, ungeniert durch die Gläser ihrer Sonnenbrille: Er war leger, aber geschmackvoll in helle Hosen und in einen cognac­farbenen Velourslederblouson gekleidet. Das dunkle Haar war von unzähligen Silberfäden durchzogen und an den Schläfen fast weiß; sein etwas unregelmäßiges Gesicht wirkte ungemein anziehend. Obwohl Brigitte noch kein Wort mit diesem Mann gewechselt hatte, erschien er ihr merkwürdig vertraut. Sie hatte das Gefühl, ihn schon lange zu kennen. Das irritierte sie.

„Ich stehe Ihnen gleich zur Verfügung!", rief der Werkstattbesitzer Brigitte zu, wodurch auch der Kunde auf sie aufmerksam wurde.

„Es eilt nicht, Herr Harmsen!", gab sie zu­rück und schob die Sonnenbrille nach oben in ihr kastanienbraunes Haar.

Fasziniert betrachtete Manuel die elegant gekleidete Fremde.

„Sie haben Glück, dass der Wagen noch nicht abgemeldet ist“, riss der Autohändler ihn aus seiner Verzauberung. „Sie können ihn gleich mitnehmen.“

„Das kommt mir sehr entgegen", antwortete er und folgte dem Mann in dessen Büro. Nach Erledigung der Formalitäten händigte Harmsen dem Kunden die Papiere und die Autoschlüssel aus.

„Dann wünsche ich allzeit gute Fahrt, Herr Hellberg", sagte der Werkstattbesitzer freundlich und begleitete ihn ins Freie.

Mit einem letzten Blick auf die schöne Unbekannte stieg Manuel in den roten Wagen und fuhr davon.

„Seltsam", murmelte der Autohändler, als er sich zu Brigitte umwandte. „So was ist mir auch noch nicht passiert."

„Stimmt etwas nicht?"

„Eigentlich ist alles in Ordnung", erwiderte er. „Seltsam ist nur, dass Frau Dr. Hellberg mir den roten BMW vor ein paar Tagen ver­kauft hat. – Und heute will Herr Hellberg ihn wieder zurück. Die beiden hätten sich vorher absprechen sollen."

„Ach, das war der Mann von Frau Dr. Hellberg", schloss Brigitte aus seinen Worten. Seltsamerweise verspürte sie eine leise Enttäuschung darüber. „Ich wusste gar nicht, dass sie verheiratet ist."

„So hübsche Frauen laufen selten noch frei rum", meinte er. „Er ist zwar bestimmt zwanzig Jahre älter als sie, aber manche Frauen bevorzugen eben reifere Jahrgänge." Achselzuckend deutete er auf den silberfarbenen Mercedes. „Was macht er denn für Probleme?"

„Vorn funktioniert der rechte Blinker nicht. Wahrscheinlich ist die Glühlampe kaputt."

„Das haben wir gleich", versprach er und öffnete die Motorhaube.

Auf dem Heimweg hielt Brigitte noch beim Supermarkt, um in der Feinkostabteilung einige Spezialitäten einzukaufen. Erstaunt hob sie die Brauen, als sie dem vermeintlichen Ehemann der Ärztin nun schon zum dritten Mal an diesem Tage begegnete. Ratlos stand er neben einem vollbeladenen Einkaufswagen in der Obstabteilung und verglich zwei verschiedene Sorten Orangen miteinander.

„Nehmen Sie die marokkanischen, Herr Hellberg", riet sie ihm im Vorbeigehen. „Die haben mehr Aroma."

Beim Klang ihrer Stimme wandte sich Manuel um.

„Danke", sagte er verdutzt, doch da verschwand die Frau schon in der nächsten Regalgasse. Nur ein Hauch ihres Parfums schweb­te noch in der Luft. Erst an der Kasse sah Manuel sie noch einmal. Vor ihr auf dem Laufband lagen außer einer Seite Lachs und einem französischen Weißbrot vier Cellophanbeutel Champagnertrüffel. Wie gebannt hingen seine Augen an der Erscheinung der Fremden. Sie strahlte die ruhige Sicherheit einer vermögenden Frau aus, die sich alles leisten konnte, aber vernünftig genug war, Maß zu halten. Am liebsten hätte er sie angesprochen. Bedauerlicherweise standen jedoch noch zwei Kunden zwischen ihnen. Als er selbst an der Reihe war, hatte sie das Geschäft schon verlassen.

Es dämmerte bereits, als Manuel den roten Wagen vor dem Haus seiner Tochter abstellte. Mit mehreren Einkaufstüten in den Händen ging er hinauf in Monas Wohnung. Dort füllte er den Kühlschrank und die Vorratskammer, ehe er sich mit der Vorbereitung des Abend­essens beschäftigte. Dabei spukte unaufhörlich das Bild der hochgewachsenen Lady mit den ausdrucksvollen Augen durch seine Gedanken. Er goss gerade den Tee auf, als seine Tochter aus der Praxis heraufkam.

„Was tust du denn da?", fragte sie erstaunt darüber, ihren Vater in der Küche vorzufinden.

„Ich habe uns eine Minestrone gekocht. Dazu gibt es frisches Baguette." Lächelnd deutete er auf die Essecke. „Der Tisch ist schon gedeckt. Also setz dich und lass dich verwöhnen."

„Hier möchte mich wohl jemand aufpäppeln", entgegnete sie gerührt und küsste ihn auf die Wange. „Dabei bin ich eigentlich ganz froh, meinen Winterspeck loszusein."

„Du hast doch noch nie mehr als hundert Pfund auf die Waage gebracht", erinnerte er sie und stellte die Suppenterrine auf den Tisch. „Rank und schlank warst du schon immer, aber jetzt bist du definitiv zu dünn."

„Wenn du das sagst", gab sie nach und griff ahnungslos nach der Serviette neben ihrem Teller. Dadurch rutschte ein Schlüssel heraus – direkt in ihren Schoß. „Nanu, was ist das denn?" Verwundert nahm sie ihn zur Hand – und erkannte ihn sofort. „Paps! Du hast doch nicht ...?"

„Er steht vor der Garage", entgegnete er leichthin. „Glaubst du, ich lasse zu, dass du auf einem alten Herrenrad durch die Gegend fährst?"

„Aber du sollst doch nicht so viel Geld für mich ..."

„Noch bestimme ich, wann und womit ich meiner Tochter eine Freude mache", unterbrach er sie scheinbar streng. „Kannst du das akzep­tieren? Oder willst du es deinem alten Herrn verübeln, dass er we­nigstens eine Kleinigkeit für sein einziges Kind tun möchte?"

„Wie könnte ich das?" Gerührt umarmte sie ihn. „Ich hab dich lieb."

„Genau das wollte ich hören", sagte er zärtlich. „Und weil ich dich auch sehr lieb habe, sorge ich nun dafür, dass du ordent­lich isst. Dabei kannst du mir erzählen, wie viele Patienten du am Nachmittag behandeln musstest."

„Du wirst es nicht glauben, aber es waren sage und schreibe vier Patienten in der Praxis", erklärte sie lächelnd, während sie sich wieder setzte.

„Lass mich raten", sagte er und schöpfte von der Suppe auf die Teller. „Keine Durchreisenden?"

„Erstaunlicherweise waren es Einheimische. Du scheinst mir Glück zu bringen."

„Dann muss ich wohl ein Weilchen bleiben. Du solltest noch bis zum Monatsende durchhalten. Vielleicht wendet sich für dich und die Praxis doch noch alles zum Guten."

„Viel zu verlieren habe ich sowieso nicht mehr", überlegte sie. „Ich warte erst mal die nächsten Tage ab. – Zufrieden?"

„Ja."

„Dann erzähl mir zur Abwechslung, womit du dir die Zeit vertrieben hast - außer einzukaufen und mir das Auto zurückzubringen."

„Schon das war ein Vergnügen. Dabei habe ich eine er­staunliche Erfahrung gemacht."

„Welche?"

„Dass hier nicht alle Fremden gegenüber misstrauisch und verschlossen sind."

„Meinst du den Autohändler?"

„Nein, eine Frau - eine faszinierende Lady. Auch sie war Kundin der Werkstatt. Später habe ich sie noch mal im Supermarkt getroffen. Dort war sie mir bei der Auswahl der Orangen be­hilflich."

„Hast du etwa wieder mal eine Eroberung gemacht", stellte sie amüsiert fest. Sie kannte einige Damen, die ihren attrak­tiven Vater gern einfangen würden. „Wie könnte es auch anders sein!?"

„Eben. Eine schöne Frau wird von mir bemerkt; ist sie noch dazu klug und charmant, bemerkt sie mich zuerst."

„Wie sieht sie denn aus? – Natürlich ist sie hübsch."

„Ja, sehr – aber sie ist keine von diesen nichtssagenden Schönheiten. Ihr Gesicht wirkt auf faszinierende Weise lebendig, ungemein anziehend. Außerdem hat sie gewelltes Haar in der Farbe von reifen Kastanien. Und dann diese dunklen Augen ...“ Versonnen lächelte er. „Wahrscheinlich sind sie braun oder grün – vielleicht von beidem etwas. Das konnte ich auf die Entfernung nicht genau erkennen.“

„Wie alt schätzt du deine schöne Unbekannte?", wollte Mona wissen. Sie erinnerte sich nur an eine Frau, auf die diese Beschreibung zutreffen könnte.

„Irgendwo zwischen vierzig und fünfzig . "

„Könnte sie auch älter sein? Vielleicht Ende fünfzig?"

„Ausgeschlossen", war er überzeugt. „Allenfalls Ende vierzig." Gespannt erwiderte er ihren nachdenklichen Blick. „Kennst du sie?"

„Ich bin nicht sicher, weil ich sie auch nur einmal gesehen habe, aber ich erinnere mich genau, dass sie ... Hast du einen Blick auf ihre Hände werfen können? Trug sie Schmuck?"

„Als sie im Supermarkt bezahlt hat, ist mir aufgefallen, dass sie verwitwet sein muss, weil sie rechts zwei schlichte Goldringe über­einander trägt."

" ... und an der linken Hand einen ziemlich großen Diamanten?"

„Irgendwas Funkelndes – ja!?"

„Dann könnte sie es tatsächlich gewesen sein", überlegte Mona. „Wie war ihre Stimme?"

„Ein faszinierendes, dunkles Timbre.“ Erwar­tungsvoll schaute er seine Tochter an. „Nun sag schon, Mona, wer ist sie?"

„Deiner Beschreibung nach könnte das Brigitte Gundlach gewesen sein", erwiderte sie vorsichtig. „Allerdings finde ich es son­derbar, dass sie sich dir gegenüber aufgeschlossen verhalten hat. Ich habe sie ganz anders kennengelernt, als ich in ihr Haus gerufen wurde."

„Bedeutet das etwa, sie war der nächtliche Notfall?" Es klang beinah enttäuscht. „Die feindselige Patientin, die dich beleidigt hat?"

„Das war Frau Gundlach. Fairerweise muss ich ihr aber zugutehalten, dass sie an dem Abend in einer sehr erreg­ten Verfassung war. Sie hatte einen langen Flug hinter sich. Dazu kam eine Auseinandersetzung mit ihrem Neffen und der Schock, als sie ihren Hund vergiftet im Garten gefunden hat."

„Das ist ja schrecklich. Weiß man schon, wer ihr das angetan hat?"

„Keine Ahnung. Ich möchte das sowieso lieber vergessen."

„Das wird wohl das Beste sein", stimmte er seiner Tochter zu. Trotzdem dachte er an diesem Abend noch lange an die schöne Fremde mit der ungewöhnlichen Stimme.

Die weiße Villa

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