Читать книгу Die weiße Villa - Claudia Rimkus - Страница 12
Kapitel 10
ОглавлениеAm Samstagabend wurden die Hellbergs in der weißen Villa von einer strahlenden Hausherrin empfangen.
„Es freut mich, Sie als meine Gäste zu begrüßen", sagte sie und umarmte die Ärztin freundschaftlich, ehe sie ihrem Begleiter die Hand reichte. Galant beugte sich Manuel über ihre schmale Rechte, wobei er einen Hauch ihres Parfums wahrnahm. Ein Duft, der seit ihrer Begegnung im Supermarkt in seinem Gedächtnis haftete.
„Vielen Dank für die Einladung, Frau Gundlach", sagte er lächelnd. „Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass wir uns so bald schon wiedersehen."
Seine Berührung verwirrte sie. Verlegen entzog sie ihm ihre Hand. Da nun ihr Neffe zu ihnen trat, wurde Brigitte einer Antwort enthoben und machte ihn mit den Hellbergs bekannt.
„Welch ein Glück für Petersfelden, dass wir nun eine so attraktive Ärztin haben", sagte Udo und führte Mona am Ellenbogen ein Stück beiseite. „Verraten Sie mir, wo Sie vorher tätig waren?"
„An einer Privat-Klinik in Hannover", antwortete sie. Udo Gundlach war ihr schon bei ihrer ersten Begegnung nicht unsympathisch gewesen. „Nach dem Tod meines Onkels habe ich hier seine Praxis übernommen."
„Davon habe ich gehört.“ Erwartungsvoll schaute er sie an. „Ich möchte gern mehr über Sie erfahren."
„Da gibt es nichts Aufregendes zu berichten", winkte Mona ab. „Ich wurde geboren, bin zur Schule gegangen, habe Medizin studiert, und nun bin ich Ärztin in Petersfelden. Das ist alles."
„Sie haben die Männer vergessen, die versucht haben müssen, bei Ihnen zu landen."
Spöttisch begegnete sie seinem Blick.
„Ist es das, was auch Sie gerade versuchen?"
„Bis eben hatte ich mich noch nicht entschieden, aber nun glaube ich, das könnte sehr interessant werden", entgegnete er schlagfertig. „Machen Sie mir die Freude und nennen mich Udo?"
„Gehen Sie immer so direkt vor?"
„Nur wenn eine Frau mich vom ersten Augenblick an fasziniert.“
„Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Gerade das möchte ich ändern“, meinte er und bot ihr seinen Arm. „Darf ich Sie um einen Tanz bitten, Frau Doktor?“
„Wahrscheinlich komme ich sowieso nicht drum herum“, sagte sie in scheinbarer Verzweiflung und hängte sich bei ihm ein. „Bringen wir es also hinter uns.“
„Nicht so enthusiastisch“, flüsterte Udo ihr zu. „Was sollen denn die anderen Gäste denken?“
„Sie sind unmöglich", lachte Mona, worauf er sie zu den anderen Tanzenden führte.
Derweil wich Manuel nicht von Brigittes Seite. Obwohl er kein begeisterter Partygänger war, fühlte er sich an diesem Abend ausgesprochen wohl. Die Gastgeberin machte ihn mit einigen der Anwesenden bekannt. Daraufhin musste er viele Fragen über seine Reisen beantworten. Trotzdem ließ er Brigitte nicht aus den Augen. Sie sah bezaubernd aus in dem langen, hochgeschlossenen Kleid aus beigefarbener Seide. So züchtig es von vorn wirkte, umso reizvoller war die Rückansicht, bei der der Designer offenbar Stoff gespart hatte. Vom Nacken bis zur Hüfte war das Modell geschlitzt und gewährte dadurch einen tiefen Einblick. Dieses Kleid spiegelte Brigittes Persönlichkeit wider: Es war elegant und erlesen, dennoch weich, sinnlich und verführerisch. Auch ohne viel Fantasie erkannte Manuel, dass Brigitte unter dem Oberteil nichts als gebräunte Haut trug, was sie sich bei ihrer schlanken Figur spielend leisten konnte.
„Sie leben auch allein, nicht wahr!?", vermutete die Boutiquenbesitzerin Stella Kleve, wobei sie den Schriftsteller mit unverhohlenem Interesse musterte. Sie war eine gut aussehende Frau Anfang vierzig und zufällig gerade solo. „Seit wann sind Sie schon verwitwet, Herr Hellberg?"
„Seit dem Tod meiner Frau", erwiderte er trocken. Da er bei diesen Worten jedoch überaus charmant lächelte, bemerkte sie nicht, dass er ihr auswich. „Den meisten Witwern ergeht es wohl so."
„Tatsächlich!?", erwiderte sie, als hätten ihr Verstand und ihr Mund den Kontakt zueinander verloren. „Fühlen Sie sich nicht manchmal einsam – so ganz allein?"
Durch einen raschen Blick bemerkte Manuel, dass sich über Brigittes Nasenwurzel eine kleine, senkrechte Falte bildete, während sich in ihren Augen Unwille spiegelte.
„Sie vergessen, dass ich eine Tochter habe, Frau Kleve", sagte er an die Geschäftsfrau gewandt. „Aber gebe ich zu, dass man sich mit den Jahren des Alleinseins wieder nach einer Partnerin sehnt. Vielleicht hat mich das Schicksal nach Petersfelden geführt!? Wie ich festgestellt habe, ist hier nicht nur die Landschaft sehr reizvoll. Dieses kleine Städtchen hat auch sonst viel Schönheit zu bieten."
„Darüber sollten wir unbedingt mal ausführlicher sprechen", schlug sie verheißungsvoll lächelnd vor. „Ich kann Ihnen Sehenswürdigkeiten zeigen, die gewöhnlich im Verborgenen liegen."
„Eventuell komme ich darauf zurück", sagte Manuel vage. „Jetzt halte ich es aber für meine Pflicht, unsere charmante Gastgeberin um einen Tanz zu bitten", fügte er hinzu und umfasste Brigittes Ellenbogen. „Sie entschuldigen uns?", bat er und führte sie davon.
Nach wenigen Schritten schüttelte sie seine Hand ungnädig ab.
„Sie müssen sich nicht verpflichtet fühlen, mit mir zu tanzen, Herr Hellberg!", sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Mir ist durchaus verständlich, dass Sie die Gesellschaft einer jungen, attraktiven Frau reizvoller finden. Sie können guten Gewissens zu Frau Kleve zurückgehen."
„Bitte, nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, Frau Gundlach", erwiderte Manuel ebenso leise. „Hätte ich Frau Kleve sagen sollen, dass ich nun endlich das zu tun gedenke, was ich mir schon den ganzen Abend wünsche?" Leicht schüttelte er den Kopf. „Außerdem wirkt eine Frau, die bereits nach wenigen Minuten keinen Zweifel an ihren Absichten lässt, nicht unbedingt attraktiv auf mich. In dieser Hinsicht bin ich ein wenig altmodisch: Ich ziehe es vor, um die Dame meines Herzens zu werben."
„Verzeihen Sie, Herr Hellberg. Mir ist Stellas Erfolg bei Männern bekannt. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass auch Sie ihre Gegenwart vorziehen."
„Ich bevorzuge aber nun mal die Gesellschaft einer anderen, viel bezaubernderen Lady", entgegnete Manuel mit tiefem Ernst. „Ob sie mir wohl einen Tanz schenkt?"
„Fragen Sie sie."
„Darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?"
„Gern", erwiderte sie und nahm seinen dargebotenen Arm.
Zufrieden mischte Manuel sich mit ihr unter die Tanzenden. Während sie sich zu dem langsamen Rhythmus der Musik bewegten, schaute er fasziniert in Brigittes Augen.
„Tatsächlich ein grünlicher Schimmer", murmelte er. „Und sie sind mindestens so wunderschön wie ihre Besitzerin."
„Was meinen Sie?"
„Ihre Augen. Seit unserer ersten Begegnung frage ich mich, welche Farbe sie haben. – Und ich lag mit meiner Vermutung richtig. Von Nahem betrachtet, erscheinen sie sogar noch eine Spur unergründlicher – rätselhaft und geheimnisvoll. Etwas, das ich gern entschlüsseln würde."
Eine sanfte Röte stieg in ihre Wangen, wodurch Brigitte sehr jung wirkte. Offen blickte sie zu ihm auf. Seine Augen ruhten erwartungsvoll auf ihrem Gesicht, während sein Mund sinnlich und entschlossen zugleich wirkte.
„Sicher wären Sie enttäuscht, dass sich dahinter nur eine alte Frau verbirgt, deren Leben einsam wurde, seit sie die beiden Menschen verloren hat, die ihr alles bedeutet haben." Ein wehmütiger Schatten lief über ihr Gesicht. „Mein Dasein wurde recht eintönig, seit niemand mehr da ist, der den Anstoß für positive Empfindungen gibt."
„Bitte, betrachten Sie sich als angestoßen", sagte Manuel sanft. „Sie müssen es nur zulassen.“
Ein rätselhafter Blick streifte ihn.
„Ich fürchte, darin bin ich etwas ungeübt", entgegnete Brigitte. Durch den schmalen Schlitz ihres Kleides spürte sie seine warme Hand am Rücken auf ihrer Haut. Es war ein so angenehmes Gefühl, dass sie sich unwillkürlich fragte, was sie wohl empfinden würde, wenn diese Finger sie an anderen, intimeren Körperstellen berührten. Wenn seine Lippen der Spur seiner Hand folgten...
Prompt errötete Brigitte erneut. Sie schämte sich solcher Gedanken.
„Woran denken Sie?", fragte Manuel, worauf sie verlegen den Blick senkte.
„Entschuldigen Sie, aber das möchte ich lieber für mich behalten. Es war nicht wichtig."
„Wie Sie meinen, gnädige Frau."
Irritiert hob sie den Kopf und schaute ihm ins Gesicht, da sie seinen Worten eine neue Distanz zu entnehmen glaubte.
„Bitte, nennen Sie mich Brigitte; das klingt nicht so schrecklich förmlich."
„Das tue ich insgeheim schon seit einigen Tagen", gestand Manuel mit entwaffnendem Lächeln. „Werden Sie mich auch beim Vornamen nennen?"
„Das tue ich insgeheim schon seit einigen Tagen", erwiderte sie mit amüsiertem Funkeln in den Augen, worauf sich sein Lächeln vertiefte.
Im Vorbeitanzen bemerkte er Udo, dessen skeptischer Blick auf ihm lagerte.
„Ich fürchte, Ihr Neffe mag mich nicht besonders."
„Oh, meine Sympathie reicht für zwei", gab sie spontan zurück, glaubte aber im gleichen Augenblick, zu viel verraten zu haben. Rasch löste sie sich etwas von Manuel, als sie ihre Freundin in der Nähe entdeckte, und führte ihn zu der schlanken Blondine.
„Helga, darf ich dir Manuel Hellberg vorstellen? Er ist der Vater unserer neuen Ärztin. – Und das Helga Busse, meine Vertraute, Freundin und ..."
„Frau Gundlach! Telefon für Sie", unterbrach das Hausmädchen die Gastgeberin, worauf Brigitte sich entschuldigte und der jungen Frau in die Halle folgte.
„Ich bin hier sozusagen Mädchen für alles", sagte Helga daraufhin und reichte dem Schriftsteller die Hand. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Hellberg –zumal ich schon sehr gespannt auf Sie war."
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite", entgegnete er und ergriff ihre Hand. „Wieso waren Sie denn neugierig auf mich?"
„Das hätte ich wohl besser für mich behalten sollen", tadelte sie sich selbst, überlegte dann aber, dass ein wenig Schicksal spielen nicht schaden könne. „Na ja, Brigitte hat mir nach ihrer ersten Begegnung mit Ihnen verraten, dass sie das Gefühl einer merkwürdigen Vertrautheit verspürt hätte. So etwas sei ihr nur einmal im Leben passiert: als sie vor vielen Jahren ihren Eduard kennenlernte.“ Bedauernd hob sie die Schultern. „Doch dann hat sie erfahren, dass Sie angeblich der Ehemann von Frau Dr. Hellberg sind."
Erwartungsvoll hob Manuel die Brauen.
„Und als sie von meiner Tochter hörte, dass ich nur der Vater bin?"
Dieser Mann machte einen ehrlichen Eindruck auf sie, so dass Helga beschloss, ihm offen zu antworten.
„Brigitte erwähnte es am gleichen Abend. Als ich aber meinte, das wären optimale Voraussetzungen für das, was sie gespürt hätte, erklärte sie mich für verrückt. Immerhin sei sie eine alte Frau – und klug genug, sich nicht in romantische Teenagerträume zu verlieren. Man würde schon an ihrem Verstand zweifeln, weil sie immer noch hofft, dass ihr Sohn eines Tages zurückkommt. Bestimmt würde sie sich nicht zusätzlich zum Gespött der Leute machen. Außerdem ist Brigitte der Meinung, dass ein attraktiver Mann ganz andere Möglichkeiten hätte, als sich ausgerechnet an sie zu verschwenden."
„Sehr selbstbewusst klingt das aber nicht."
„Früher besaß Brigitte ein gesundes Selbstbewusstsein. Überall war sie strahlender Mittelpunkt – ohne sich dafür in Szene zu setzen. Aber dann hat sie ihre kleine Familie verloren und sich immer mehr zurückgezogen. Seitdem nimmt sie kaum noch an kulturellen oder gesellschaftlichen Ereignissen teil. Im Grunde hat auch Brigittes Leben mit Eduards Tod geendet."
Gedankenverloren schweifte Manuels Blick durch den Raum. Er sah, dass einer der Gäste Brigitte an der Tür abfing und zum Tanz führte. Da Helga im gleichen Moment vom Bürgermeister aufgefordert wurde, beschloss Manuel, sich am üppigen Buffet zu stärken. Nach wenigen Schritten sah er sich jedoch Stella Kleve gegenüber.
„Sie werden mir heute Abend doch wenigstens einen Tanz schenken", sprach sie ihn lächelnd an und hängte sich wie selbstverständlich bei ihm ein. „Kommen Sie, Manuel, ich verspreche auch, dass ich Ihnen nicht auf die Füße trete.“
Nur widerstrebend ließ er sich von ihr mitziehen, da er ahnte, welche Tanzposition diese Frau bevorzugte. Tatsächlich schmiegte sie sich ungeniert an ihn, als seien sie sehr vertraut miteinander.
„Frau Kleve ...", begann er, wurde aber von ihr unterbrochen.
„Stella", korrigierte sie ihn mit strahlendem Lächeln. „So schwer kann das doch nicht sein, Manuel. Versuchen Sie es."
„Stella", wiederholte er geduldig, wobei er sich vergeblich um etwas Distanz zwischen seiner Brust und ihrem freizügigen Dekolleté bemühte. „Ich denke ..."
„Sie sollen nicht denken, sondern fühlen", unterbrach sie ihn abermals. Sie hatte bereits einige Gläser Champagner getrunken und war in der richtigen Stimmung für einen heißen Flirt. Der gut aussehende Schriftsteller schien genau der richtige Mann dafür zu sein.
Nicht so Manuel. Er hatte Brigittes Blick bemerkt, als sie im Arm eines Landtagsabgeordneten vorbeitanzte. Ihre Augen schienen zu sagen: Ich wusste es, du bist doch nicht anders als die Männer, die Stella gewöhnlich im Handumdrehen verfallen.
Insgeheim beschloss er, Brigitte sehr bald vom Gegenteil zu überzeugen. Da sie aber anschließend mit ihrem Neffen und danach mit dem Antiquitätenhändler tanzte, wurde vorläufig nichts aus seinem Vorsatz. Ihn beschlich sogar das Gefühl, dass Brigitte ihn plötzlich mied, während er beobachtete, wie sie angeregt mit einigen Gästen plauderte, mit Udo einen Cognac trank und mit dem Bürgermeister lachte. Ihn selbst schien sie gar nicht mehr zu beachten.
„Was machst du denn für ein ernstes Gesicht, Paps?", sprach Mona ihren Vater an. „Liegt das daran, dass du überhaupt noch nicht mit deiner einzigen Tochter getanzt hast?"
„So wird es wohl sein", erwiderte er, wobei er sich zu einem Lächeln zwang, und ihre Hand ergriff. Dadurch entging ihm, dass Brigitte sich gerade mit den Fingerspitzen über die Stirn strich und für einen Moment die Augen schloss.
Eine Entschuldigung murmelnd, ließ sie den Bürgermeister und dessen Gattin stehen und bahnte sich einen Weg zwischen den Gästen hindurch bis in die Halle. Abrupt verhielt sie dort ihren Schritt. Eigenartigerweise war ihr entfallen, weshalb sie die Party verlassen hatte. Stattdessen fühlte sie sich plötzlich seltsam beschwingt, als schwebe sie auf Wolken. Leise lachend kehrte sie in den Wohnraum zurück. Da sie dabei ein wenig ins Schwanken geriet, streifte sie kurzerhand die hochhackigen Pumps von den Füßen und setzte ihren Weg mit den Schuhen in den Händen und einem entrückten Lächeln auf dem Gesicht fort.
Die ersten Gäste wurden aufmerksam, als Udo seine Tante besorgt ansprach.
„Was ist mit dir, Tante Biggi? Fühlst du dich nicht wohl?"
„Ich fühle mich so großartig wie schon lange nicht mehr", behauptete sie und drückte ihm einen der beigefarbenen Pumps in die Hand. „Hier, den schenke ich dir als Andenken an diesen wundervollen Abend", kommentierte sie, ehe sie sich umwandte und auch dem Bürgermeister einen Schuh verehrte.
Verwundert unterbrachen Manuel und seine Tochter ihren Tanz, wobei sie einen beunruhigten Blick wechselten.
„Du solltest dich jetzt besser zurückziehen", riet Udo seiner Tante eindringlich und griff nach ihrem Arm. „Anscheinend hast du zu viel getrunken und gehörst ins Bett."
Unwillig befreite sie sich aus seinem Griff.
„Lass mich in Ruhe, Udo! Ich bin nicht betrunken! Jetzt werde ich mich richtig amüsieren!"
Schwungvoll drehte sie sich herum, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. Ihr Neffe folgte ihr mit dem Schuh in der Hand, wobei er beschwörend auf sie einredete.
„Bitte, Tante Biggi", wiederholte er mit unterdrückter Ungeduld, als sie bei den Hellbergs stehenblieb. „Ich bringe dich jetzt rauf."
„Halt endlich den Mund!", wies sie ihn scharf zurecht, bevor sie Manuel mit strahlendem Lächeln anschaute. „Da ist ja der Mann, den ich jetzt brauche!", rief sie begeistert aus und schlang die Arme um seinen Hals. „Tanz mit mir, Held meiner wilden Träume."
Um die aufkommende Spannung zu entschärfen, ging Manuel auf ihre Forderung ein und begann, sich mit Brigitte im Rhythmus der Musik zu bewegen. Eng schmiegte sie sich an ihn und kraulte ihn selbstvergessen im Nacken.
„Sie scheinen in bester Stimmung zu sein", flüsterte er an ihrem Ohr. Ihre unmittelbare Nähe war ihm keineswegs unangenehm. „Woran liegt das?"
„Nur an dir", gestand sie mit rauchiger Stimme. „Du bist ein toller, sinnesverwirrender Mann." Mit glänzenden Augen hielt sie seinen Blick gefangen. „Ich will dich, Manuel."
Es war unübersehbar, dass dieser Wunsch aus tiefstem Herzen kam. Plötzlich und unerwartet küsste sie Manuel ungeniert auf den Mund. Instinktiv nahm er diese Einladung an und genoss ihre vorbehaltlose Hingabe. Schlagartig wurde ihm jedoch bewusst, wo sie sich befanden. Atemlos trennte er sich von ihren Lippen, worauf sie bedenklich schwankte – als würde sie jeden Moment den Halt unter den Füßen verlieren.
„Huch! Es wackelt auf einmal alles!", verkündete sie vergnügt und griff Halt suchend nach seinem Arm. „Ist das deine Wirkung auf mich oder ein Erdbeben?"
„Das werden wir schon noch herausfinden", sagte er und hob sie kurz entschlossen auf seine Arme. „Sie müssen sich ein wenig hinlegen. Verraten Sie mir, wo sich Ihr Schlafzimmer befindet?"
„Ob ich das riskieren kann?“, fragte sie übermütig. „Wenn du versprichst, ganz lieb zu mir zu sein, zeige ich dir, wo mein Bett steht." Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über seine Wange. „Es ist ein großes Bett mit Platz für zwei.“
Da berührte Helga den Schriftsteller am Arm.
„Kommen Sie, Herr Hellberg, ich führe Sie nach oben."
„Feiert ruhig ohne uns weiter; wir haben jetzt was Besseres vor!", rief Brigitte den schockierten Gästen zu, als Manuel sie hinaustrug.
Beunruhigt folgte ihnen auch Mona die Treppe hinauf.
„Ich verstehe das nicht", wandte Helga sich mit gedämpfter Stimme an die Ärztin, während Manuel seine leichte Last behutsam auf das breite Bett legte. „Brigitte wirkt total beschwipst, dabei hat sie kaum was getrunken."
„Sind Sie sicher?"
„Absolut. Sie trinkt nie mehr als ein oder zwei Gläser."
„Hat sie vielleicht Medikamente genommen?", fragte Mona, als auch ihr Vater zu ihnen trat. „Irgendwelche Tabletten, die die Wirkung des Alkohols verstärkt haben könnten?"
„Nicht, dass ich wüsste", verneinte Helga. „Dafür gab es auch überhaupt keinen Grund."
„Merkwürdig ist das schon", überlegte Mona. Mit ernster Miene wandte sie sich an ihren Vater. „Paps, sei bitte so lieb und hol meine Bereitschaftstasche aus dem Wagen. Vorsichtshalber möchte ich Brigitte untersuchen."
Wortlos nickte er und verließ mit langen Schritten das Schlafzimmer.
„Warum läuft er denn weg?", vernahmen sie Brigittes enttäuscht klingende Stimme, worauf Mona und Helga ans Bett traten.
„Ich helfe Ihnen, sich auszuziehen, Brigitte", bot Mona ihr an, worauf die Fabrikantin kichernd den Kopf schüttelte.
„Das kann ich allein", behauptete sie und erhob sich unsicher. „Ich bin doch ein großes Mädchen." Mit wenigen Handgriffen schlüpfte sie aus dem langen Kleid und ließ es raschelnd zu Boden gleiten. Ohne Scheu streifte sie danach den knappen Slip ab. „Schon fertig!“
„Sie sind wirklich gut in Form, Brigitte", sagte Mona anerkennend, worauf diese sich ausgelassen im Kreis drehte.
„Ich kann mich noch sehen lassen, oder!? Das verdanke ich nur unserem Pool. Ich bin nämlich eine Nixe."
Rasch reichte Helga der Ärztin ein Nachthemd.
„Besser, ich erwarte Ihren Vater draußen, Frau Doktor. Sonst kommt er noch rein, während Brigitte hier splitternackt rumhüpft." In gespielter Verzweiflung verdrehte sie die Augen. „Oder ihr fällt am Ende noch ein, jetzt hüllenlos schwimmen zu wollen."
„Oh ja!" Begeistert klatschte Brigitte in die Hände. „Das ist eine prima Idee! Wir können die Party doch am Pool fortsetzen!" Lachend blickte sie Helga nach, die kopfschüttelnd den Raum verließ. „Das hat es in Petersfelden garantiert noch nicht gegeben! Es wäre bestimmt ein Bild für die Götter, den ehrenwerten Bürgermeister nackt in den Pool hopsen zu sehen!"
„Dann wird mein Vater aber enttäuscht sein, wenn er gleich zurückkommt und Sie nicht in Ihrem Bett vorfindet", vermutete Mona innerlich amüsiert, worauf Brigitte ihr das Nachthemd aus der Hand nahm und es rasch überstreifte.
„Da hätte ich doch beinah mein Rendezvous vergessen", tadelte sie sich selbst und schlüpfte unter die Decke. „Jetzt bin ich bereit für eine Nacht mit meinem Helden."
„Eins nach dem anderen", sagte Mona und nahm die Tasche entgegen, die Helga hereinreichte. „Zuerst möchte ich Sie untersuchen."
„Wozu soll das gut sein? Fürchten Sie, dass ich einen Herzinfarkt kriege, wenn ich die Nacht mit einem Mann verbringe? Keine Sorge, Mona, das zählt zu meinen leichtesten Übungen."
„Das bezweifle ich nicht. Jetzt entspannen Sie sich erst mal. Nach der Untersuchung sehen wir weiter."
Mit ergebener Miene ließ Brigitte ihren Blutdruck messen, sich mit einer kleinen Lampe in die Augen leuchten und ihre Herztöne abhorchen. Anschließend nahm die Ärztin eine kleine Ampulle und ein Spritzbesteck aus ihrer Tasche.
„Ich gebe Ihnen jetzt etwas zur Stabilisierung; und dann müssen Sie schlafen, Brigitte."
„Wer denkt denn jetzt an Schlaf!?", protestierte sie. „Ich habe viel aufregendere Pläne."
„Wenn Sie möchten, dass mein Vater noch mal zu Ihnen kommt, müssen Sie sich meinen Anordnungen fügen", sagte Mona in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Oder wollen Sie auf seinen Besuch verzichten?"
„Nun geben Sie mir schon diese grauenhafte Spritze", verlangte Brigitte, worauf Mona das Mittel in ihre linke Armvene injizierte.
Einige Minuten blieb sie dann noch bei ihrer Patientin, bis die Wirkung des Medikaments einsetzte.
Erst dann bat sie ihren Vater herein und schloss die Tür von außen.
„Wie fühlen Sie sich?", fragte Manuel und nahm unbefangen auf der Bettkante Platz.
„Benommen", erwiderte Brigitte leise, wobei sie sich über die Stirn strich. „Mona hat mich mattgesetzt."
„Als Ärztin weiß meine Tochter, was gut für Sie ist", sagte er. Behutsam griff er nach ihrer Hand, die auf der Bettdecke ruhte. „Schließen Sie die Augen und versuchen Sie, sich zu entspannen. Ich bleibe hier, bis Sie eingeschlafen sind."
Aus großen Augen blickte sie ihn zweifelnd an.
„Wirklich?"
„Versprochen."
„Danke ...", murmelte sie lächelnd und schloss die Lider.
Das Lächeln lag noch auf ihren Lippen, als sie längst eingeschlafen war.
Liebevoll betrachtete Manuel noch sekundenlang ihr entspanntes Gesicht, ehe er sich über Brigitte beugte und einen zarten Kuss auf ihre Stirn hauchte. Leise verließ er das Schlafzimmer.
In der Halle befanden sich nur noch Helga, Mona und Udo, als er die Treppe herunterkam.
„Sie schläft jetzt", teilte Manuel den anderen mit.
„Dem Himmel sei Dank", sagte Udo theatralisch. „Wer weiß, was sie heute sonst noch angestellt hätte. Seit ihrer Rückkehr habe ich den Eindruck, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt."
„Das ist doch Unsinn", meinte Helga. „Brigitte ist völlig in Ordnung. Es besteht kein Grund zur Sorge.“
„Wie erklären Sie sich dann ihr skandalöses Verhalten?", wandte Udo ein. „Morgen wird die ganze Stadt darüber klatschen. Diese Party war eine Schnapsidee!"
„Es ist doch nichts Dramatisches geschehen", versuchte Manuel zu schlichten. „Wir sollten diese Ereignisse erst mal überschlafen."
„Uns bleibt wohl nichts anderes übrig", sagte Udo und nickte zustimmend. „Dann fahre ich jetzt. – Gute Nacht, allerseits."
„Sehen Sie bitte hin und wieder nach Brigitte", wandte Mona sich noch an Helga. „Wahrscheinlich wird sie aber ruhig durchschlafen. Morgen erkundige ich mich nach ihrem Befinden."
„Danke, Frau Dr. Hellberg. – Gute Nacht."
Die Heimfahrt verlief ungewöhnlich schweigsam. Sowohl Mona als auch ihr Vater hingen ihren Gedanken nach.
Erst in der Wohnung der Ärztin sprach Manuel seine Tochter noch einmal auf die Ereignisse des Abends an.
„Hast du eine Erklärung für Brigittes seltsames Verhalten?"
„Auf den ersten Blick schien es tatsächlich, als hätte sie zu viel getrunken. Deutlich dafür sprachen ihre beinah euphorische Stimmung, die Bewegungsstörungen, die psychische Enthemmung und nicht zuletzt die enorme Selbstwertgefühlsteigerung. Bei der Untersuchung habe ich noch einen abfallenden Blutdruck, beschleunigten Puls, rasche Atmung und erweiterte Pupillen festgestellt."
„Brigitte hat doch aber kaum etwas getrunken. Zugegebenermaßen habe ich sie nicht aus den Augen gelassen. Außer einem Glas Champagner und einem Cognac hat sie nichts zu sich genommen. Allerdings ist sie ein paar Mal rausgegangen." Betroffen schaute er sie an. „Hältst du es für möglich, dass sie heimlich ...?"
„Eigentlich nicht", verneinte Mona. „Als ich mich noch kurz vorher mit ihr über Antiquitäten unterhalten habe, konnte ich ihren klaren Kunstverstand und ihr fundiertes Wissen bewundern. Brigitte wirkte nicht die Spur unsicher. Nach meiner Ansicht bleibt nur die Möglichkeit, dass sie danach etwas eingenommen hat, das die Wirkung des Alkohols extrem verstärkt hat."
„Vermutest du etwa Drogen?", schloss er entsetzt aus ihren Worten. „Immerhin hast du erwähnt, dass Brigitte mit diesem Pharmakonzern zu tun hat. Dort könnte sie sich wahrscheinlich leicht etwas beschaffen. Womöglich ist sie abhängig von irgendwelchen Medikamenten – oder gar von Morphium."
„Auch das halte ich für ausgeschlossen. Vor ein paar Tagen habe ich sie in der Praxis gründlich untersucht. Dabei wären mir Anzeichen einer Drogen – oder Medikamentenabhängigkeit nicht entgangen. Brigitte ist kerngesund."
„Gott sei Dank", entfuhr es ihm erleichtert, worauf seine Tochter wissend lächelte.
„Du magst sie sehr."
„Ist das so offensichtlich? Mich fasziniert aber nicht nur ihre äußere Erscheinung. Heute Abend habe ich Brigitte als kluge Frau und als charmante Gastgeberin kennengelernt."
„Dann nimmst du ihr den kleinen Überfall auf dich nicht übel?"
„Da sie ihn auf mich konzentriert hat – nein. Was immer auch dazu geführt haben mag, mir war das durchaus nicht unangenehm." Forschend umfasste sein Blick die Gestalt seiner Tochter. „Es war unübersehbar, wie häufig Udo Gundlach deine Nähe gesucht hat. Gefällt er dir?"
„Er ist ein amüsanter, aber auch ein charmanter Mann, der blendend aussieht. Das ist für mich aber kein Grund, mich noch mal mit einem Gundlach einzulassen."
„Hast du nicht auch noch einen Verehrer in Hannover?"
„Einen? Du unterschätzt mich, Paps."
„Ich spreche von dem Mann, der dich vom Fleck weg heiraten würde."
„Von meiner Seite war das nie mehr als Freundschaft. Eine Ehe mit Joachim käme für mich nie in Frage, weil ich ihn nicht liebe." Um Verständnis bittend schaute sie in seine Augen. „Ich weiß, du sehnst dich nach Enkelkindern, aber diesen Wunsch kann ich dir nicht erfüllen. Das Leben verläuft manchmal leider anders, als man es sich erträumt hat."
„Aus Schmerz und Enttäuschung hast du einen Schutzwall um dein Herz errichtet", sagte er sanft. „Du konntest nie vergessen, was deine erste große Liebe dir angetan hat." Behutsam umspannte er ihre bloßen Schultern mit den Händen. „Du musst wieder lernen zu vertrauen, mein Kind. Sonst wirst du den Rest deines Lebens allein sein - ohne Liebe, ohne Kinderlachen."
„Sorg dich nicht um mich, Paps. Jetzt hat erst mal meine Praxis Vorrang. Sollten die Patienten weiterhin so zahlreich kommen, bleibe ich in Petersfelden." Schelmisch zwinkerte sie ihm zu. „Wer weiß, vielleicht begegnet mir hier auch jemand, den ich zum Helden meiner wilden Träume ernenne. – Allerdings möchte ich das bei klarem Verstand tun."
„Wenn es einen so richtig erwischt, klinkt sich der Verstand fast automatisch aus", belehrte ihr Vater sie. „Damit haben wir sogar eine plausible Erklärung für Brigittes Verhalten gefunden."
„Du bist also doch eingebildet", sagte sie vergnügt und küsste ihn vernehmlich auf die Wange. „Lass uns schlafen gehen. Vermutlich wirst du schon im Land der Träume erwartet."
„Dann muss ich mich sputen", ging er darauf ein. „Gute Nacht, Mona."
„Träum aber nicht so wild!", rief sie ihm lächelnd nach und löschte das Licht.