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Kapitel 4

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2011

Am Morgen nach ihrer Rückkehr aus Brasilien fühlte sich Brigitte noch schlapp. Diesmal spürte sie den Jetlag stärker als bei ihren früheren Reisen. Trotz der Tabletteneinnahme war ihr Schlaf immer wieder von Wachphasen unterbrochen worden, in denen sie sich unruhig herumgewälzt hatte. Obwohl ihr das Aufstehen schwergefallen war, hatte ihre Disziplin sie aus dem Bett getrieben. Als sie ihr Schlafzimmer verließ, blieb sie einen Moment lang gedankenverloren stehen. Gewöhnlich lag Apollo morgens schon vor der Tür, weil er es kaum erwarten konnte, mit seinem Frauchen Gassi zu gehen. Jetzt war er tot – wie fast alle anderen, die sie geliebt hatte. Aber daran durfte sie nicht denken, sonst würde ihr das noch mehr zusetzen. Langsam ging Brigitte die Treppe hinunter. Dabei fiel ihr Blick auf die Ecke in der Halle, in der Apollos Korb seinen Platz hatte. Er war nicht mehr da. Anscheinend hatte Helga ihn weggeräumt. Auch die Leine und das Hundespielzeug waren verschwunden. Nun musste Brigitte doch gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Sie machte Helga keinen Vorwurf; die Freundin hatte richtig gehandelt. Die leere Stelle in der Halle wirkte aber so erschütternd endgültig. Brigitte musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass nun niemand mehr da war, der sie ungeduldig mit seiner feuchten Nase anstubste, wenn er raus wollte oder der sich unbändig freute, wenn sie nach Hause kam – egal ob sie zehn Minuten oder vier Wochen fort gewesen war. Apollo würde ihr schrecklich fehlen.

Später am Vormittag kam Udo wieder in die weiße Villa.

„Wie geht es meiner Tante?", fragte er, als Helga ihm öffnete. „Ist sie wieder auf den Beinen?"

„Brigitte fühlt sich heute etwas besser", gab sie ihm Auskunft und nahm ihm den Mantel ab. „Sie ist drüben im kleinen Salon."

„Danke, Helga."

Mit langen Schritten durchquerte Udo die Halle und betrat nach kurzem Anklopfen den Lieblingsraum seiner Tante.

Über den Rand ihrer Lesebrille hinweg blickte Brigitte ihrem Neffen ernst entgegen. Um diese Stunde war sie gern ungestört, um das Petersfeldener Tageblatt und die Hannoversche Allgemeine zu lesen.

„Wie geht es dir heute, Tante Biggi?", erkundigte er sich mit einem Lächeln und legte ihr einen Strauß weißer Rosen in den Arm.

„Danke, ganz gut." Skeptisch betrachtete sie die Blumen. „Schon wieder Rosen? Hast du ein schlechtes Gewissen?"

„Na ja, ich ..." Verlegen erwiderte er ihren forschenden Blick. „Es tut mir halt leid, dass ich dir gestern so zugesetzt habe. Das war rücksichtslos von mir. Du hattest den langen Flug, die Zeitverschiebung und den Klimawechsel zu verkraften. Und ich ..." Leicht hob er die Schultern. „Ich wollte dich unbedingt davon überzeugen, wie sinnlos diese Reisen nach Brasilien sind."

„Schon gut", winkte sie ab und zog die Brille von der Nase. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst. Komm, setz dich zu mir. Kann ich dir was anbieten? Eine Tasse Kaffee vielleicht?"

„Nein, danke", lehnte er ab und nahm neben ihr auf dem Sofa Platz. „Du siehst immer noch mitgenommen aus. Diese schreckliche Sache mit Apollo hat dich bestimmt sehr getroffen. Du musst mehr Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen."

„Mir fehlt nichts", beruhigte sie ihn. „Ich brauche nur ein bisschen Ruhe. In meinem Alter stellt man sich nicht mehr so rasch um, wenn man wochenlang auf der anderen Seite des Globus rum­gereist ist."

„Du mutest dir damit einfach zu viel zu. Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber ich habe Angst, dass das auf die Dauer nicht gut geht. Letzte Nacht habe ich aus Sorge um dich lange wachgelegen und überlegt, wie ich dich ent­lasten könnte. Vielleicht solltest du dich endgültig aus dem Ge­schäftsleben zurückziehen!?"

„Wie stellst du dir das denn vor?"

„Am einfachsten wäre es, wenn du mir die uneingeschränkte Ver­antwortung für den Konzern übertragen würdest. Selbstverständlich erhältst du eine angemessene Jahresrente, mit der du deinen bisherigen Lebensstandard aufrechterhalten kannst."

„Du willst mich aufs Altenteil schicken?", empörte sie sich. Dieser Vorschlag trieb ihr das Blut in die Wangen. „Noch bin ich nicht zu gebrechlich, meine Interessen selbst wahrzunehmen, Udo! Außerdem scheinst du zu vergessen, dass ich immer noch einen Sohn habe, der eines Tages den Konzern übernimmt!"

„Nun fang nicht wieder damit an! Du musst endlich die Realität akzeptieren! Du hättest Tobias längst für tot erklären lassen sollen!"

„Das werde ich ganz sicher nicht tun!", stieß sie aufgebracht hervor. „Ich weiß, dass er nicht tot ist!"

„Tante Biggi", versuchte er es noch einmal geduldig, wobei er besänftigend über ihre Hand strich. „Ich weiß, wie schwer das für dich ist, aber du kannst dich doch nicht ewig vor der Wahrheit verschließen. Die Suchtrupps haben damals keine Spur gefunden, und auch die brasilianischen Behörden konnten uns nicht weiterhelfen. Tobias gilt seit fast acht Jahren als verschollen. Denkst du wirk­lich, er wird nach so langer Zeit ohne ein Lebenszeichen plötz­lich wieder auftauchen? Selbst deine Nachforschungen vor Ort haben nie was ergeben. Und deine Theorie, er könnte einen Unfall gehabt und dadurch das Gedächtnis verloren haben, ist so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto."

„Trotzdem glaube ich fest daran, dass er lebt. Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben." Sekundenlang schloss sie die Augen. „Ich kann es einfach nicht! Tobias ist doch alles, was mir geblieben ist."

„Ich bin doch auch noch da", sagte er sanft und legte den Arm um ihre Schultern. „Für mich ist das alles genauso schwer. Tobias war wie ein kleiner Bruder für mich. Aber ich bin realistisch genug, die Tatsache zu akzep­tieren, dass wir ihn verloren haben. Wir müssen nun zusammenhalten und das Beste daraus machen. Dazu gehört auch, dass ich dich so gut wie möglich entlaste."

„Das weiß ich zu schätzen", erwiderte sie nun wieder ruhiger. „Noch ist das aber nicht nötig. Seit ich dir vor zwei Jahren die Geschäftsleitung übertragen habe, gibt es für mich in der Fir­ma sowieso nicht mehr viel zu tun."

„Denk bitte trotzdem über meinen Vorschlag nach", bat er und er­hob sich. „Ich muss jetzt zurück ins Werk." Liebevoll küsste er sie auf die Stirn. „Ruf an, wenn du mich brauchst. – Ciao, Tante Biggi."

„Bis bald, Udo."

Kaum hatte er die Villa verlassen, betrat Helga den Salon.

„Alles in Ordnung, Brigitte?"

„Ja, ja ...", nickte sie abwesend. „Sei so lieb und stell die Blumen ins Wasser."

„Udo entpuppt sich wohl allmählich als Rosenkavalier", bemerkte die Freundin, aber Brigitte reagierte nicht. Gedankenver­loren zündete sie sich eine Zigarette an. „Frau Dr. Hellberg hat eben angerufen."

„Ach, tatsächlich!?" Überrascht erwiderte sie Helgas Blick. „Was wollte sie denn?"

„Sich nach deinem Befinden erkundigen. – Allerdings sollte ich dir das verschweigen." Achselzuckend nahm sie die Blumen vom Tisch. „Ich habe ihr zwar gesagt, dass du dein Verhalten von gestern bedauerst, aber ich fürchte, nach ihren bisherigen Erfahrungen in Petersfelden ist es ihr schwergefallen, das zu glauben. Aber sie hat ja sowieso vor, das Handtuch zu werfen."

„Sie will die Stadt wirklich wieder verlassen?"

„Wahrscheinlich wird sie die Praxis Ende des Monats schließen und hofft, bald einen Nachfolger zu finden, der das Haus und die Praxis mit allem Inventar übernimmt."

„Dann muss ich schnell handeln.“ Nach kurzem Nachdenken fuhr sie sich mit der Hand durch die Fülle ihrer braunen Locken. „Müsste ich nicht dringend zum Frisör?"

„Wie kommst du jetzt darauf? Dein Haar sitzt wie immer perfekt."

„Es sieht schrecklich aus", widersprach Brigitte. „So kann ich doch nicht rumlaufen. Sei so gut und vereinbare gleich für morgen Vormittag einen Termin für mich."

„Was hast du vor?" Prüfend musterte Helga die Freundin. „Immer, wenn du dieses merkwürdige Glitzern in den Augen hast, führst du irgendwas im Schilde.“

„Eigentlich möchte ich nur ein paar Neuigkeiten in Umlauf bringen", entgegnete Brigitte mit Unschuldsmiene. „Welcher Ort wäre dafür besser geeig­net, als ein Frisiersalon?"

Die weiße Villa

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