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2.3.3 Panik- und Furchtsystem

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Das menschliche Gehirn verfügt über zwei Systeme, um auf eine tatsächliche oder vermeintliche Gefahr zu reagieren: Das Panik- und das Furchtsystem. Das Paniksystem reagiert, wenn man sich hilflos und ohnmächtig wie ein Säugling fühlt. Der Säugling aktiviert in diesen Fällen mittels Schreiens seine Bezugspersonen, meist die Mutter, die im günstigsten Fall durch Anwesenheit, Körperkontakt, Nähe und Wärme den Säugling beruhigen kann. Dies ist eine äußerst befriedigende und folglich bindungsfördernde Erfahrung, die – wie bereits erwähnt – sehr prägend für den späteren Umgang mit Belastungen ist. Im Laufe der Entwicklung wird das Paniksystem, da es natürlich immer weniger Sinn macht in Gefahrensituationen nach der Mutter zu rufen, zunehmend von anderen Vernetzungen überlagert. Eine weitere Reaktion, die jungen Tieren, analog aber auch Menschen in höchster Gefahr im Rahmen des Paniksystems zur Verfügung steht, ist die sogenannte »Freeze-Reaktion«, bzw. der »Totstellreflex«. Tiere können in bedrohlichen Situationen äußerlich total erstarren, das Laut-/Sprachzentrum ist abgeschaltet, gleichzeitig sind sie innerlich in einem Zustand höchster Erregung, der sogenannten »Hyperarousal«. Das Paniksystem ist eng mit dem Parasympathicus des vegetativen Nervensystems verbunden. Ist er aktiviert, spürt man die vegetativen Symptome der Angst: Kloß im Hals, Druck auf der Brust, Harndrang, Durchfall und weiche Knie. Menschen, die extremem traumatischem Stress ausgesetzt sind, aber auch Menschen, die Panikattacken haben, oder Menschen in Krisen beschreiben solche Zustände von Ohnmacht und Ausgeliefertsein (Sachsse 2004).

Das zweite System ist das Furchtsystem. Es basiert auf dem einfachen Prinzip von Kampf und/oder Flucht (»fight or flight«). Dieses System hat eine zentrale Funktion in Hinblick auf das Lernen. Das Furchtsystem ist an den Sympathicus des vegetativen Nervensystems gebunden. Ist dieser aktiviert, steigen der Blutdruck und die Herzfrequenz, die Muskeln sind angespannt und man ist höchst konzentriert.

Eine zentrale Funktion für die Emotionsentstehung im Gehirn und somit sowohl für das Panik- wie auch das Furchtsystem hat das limbische Areal und hier speziell der sogenannte Mandelkern (»Amygdala«). Die an das Gehirn kommenden zunächst neutralen Informationen werden vom Mandelkern mit Emotionen versehen. Er ist sowohl für angeborene als auch für konditionierte Furcht und die Verbindung zwischen beiden, aber auch für aversive Alarmreaktionen zuständig und fungiert quasi als »Rauchmelder des Gehirns« (Sachsse 2004. Eng damit verbunden ist die Region des Hippocampus, der hilft, sich zu orientieren, die Gefahr einzuordnen und zu bewerten und somit beruhigend auf den Mandelkern wirkt. Gleichzeitig leitet er Informationen, die als wichtig bewertet werden, an jene Regionen der Hirnrinde (Cortex) weiter, deren Funktionen zum Umgang mit einer Gefahr benötigt werden. Das Zusammenspiel dieser Hirnregionen ermöglicht Lernprozesse. Kontrollierbare Herausforderungen sind gedächtnisfördernd. Besonders gut werden jene Erfahrungen verankert, die unter Beteiligung emotionaler Reaktionen, also mit Hilfe der Amygdala gebahnt werden. Gleichzeitig werden Botenstoffe, die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, die die Wachsamkeit (»Vigilianz«) erhöhen. Man sucht in den bereits verfügbaren Erfahrungsprogrammen nach Lösungen. Wenn es gelingt durch Flucht, Kampf oder Reflexion eine Gefahr abzuwenden bzw. Stress zu bewältigen, fühlt man sich erleichtert. Die Hormonausschüttung, speziell die Ausschüttung von Cortisol über die Nebennierenrinde geht durch Selbstregulation zurück.

Ist die Belastung aber zu überfordernd, bzw. wird sie als zu intensiv erlebt und bleibt dadurch das Furchtsystem zu lange aktiviert, rückt der Lernprozess in den Hintergrund und man richtet sein Handeln hauptsächlich darauf aus, eine Möglichkeit zu finden, den massiven Stress zu reduzieren. Auch tendenziell schädigende Mechanismen, wie Suchtmittelgebrauch oder Essattacken stellen eine solche Möglichkeit dar. Wie schon erwähnt verselbständigen sich stressreduzierende Verhaltensweisen gerade in Krisen bei anhaltend hohem Stresspegel besonders rasch, gleichgültig, ob sie konstruktiver oder destruktiver Natur sind. Man greift dann in ähnlichen Situationen immer wieder auf jene Lösungsstrategien zurück, mit denen man quasi gute Erfahrungen gemacht hat.

Furcht- und Paniksystem stehen vermutlich in enger Beziehung zueinander. Das Furchtsystem kann zur Beruhigung des Paniksystems beitragen. Reflexion, Einsicht und Lernen helfen im günstigsten Fall die diffuse Panik zu beenden.

Menschen bewerten viele der im Gehirn eintreffenden Wahrnehmungen, die beim Tier eine Alarmreaktion auslösen, zunächst als gefahrlos. Wir haben im Unterschied zu Tieren ganz besondere Fähigkeiten zur Stressbewältigung. Was von Panik und Furcht übrig bleibt, ist zunächst Beunruhigung oder Irritation: Beunruhigung stellt sich ein, wenn man spürt, dass man nicht weiß, ob und wie man reagieren soll. Irritation, wenn man spürt, dass das, was man denkt oder spürt, nicht zum gewünschten Resultat führt. Durch entsprechende Bewertung kann man versuchen, die Panik unter Kontrolle zu halten. Dies ist insofern sinnvoll als man dann das Großhirn benutzen kann, um vorausschauend und planend eine Lösung für ein Problem zu finden. Erst wenn es nicht gelingt durch Erfahrungen, Erinnerungen, Vorstellungen, aber auch Hoffnung und Zuversicht die sich ausbreitende Beunruhigung zu kontroliieren, also wenn unsere üblichen Bewältigungsmöglichkeiten erschöpft sind, wird das unter der Hirnrinde gelegene Alarmsystem aktiviert (Sachsse 2004). Das wäre in etwa der Punkt, an dem das Vollbild der Krise entsteht. Damit ist auch erklärbar, warum Menschen so unterschiedlich auf Krisenanlässe reagieren, bzw. manche eine Situation als Herausforderung betrachten, die bei anderen Menschen bereits Furcht und Panik auslöst. Es wird auch erklärbar, welche große Bedeutung es für die Krisenentstehung und den Krisenverlauf hat, wie gelernt wurde mit schwierigen Lebenssituationen umzugehen.


Abb. 2.3: Paniksystem versus Furchtsystem

Krisen sind Situationen, in denen das Paniksystem in Wechselwirkung mit dem Furchtsystem aktiviert wird. Zunächst erleben betroffene Menschen den durch die äußere Belastung entstandenen Stress als zu massiv und nicht bewältigbar. Sie reagieren panisch und fühlen sich ohnmächtig. Sie stellen sich quasi tot und erstarren. Sie benötigen dringend Hilfe, sind aber unter Umständen gar nicht in der Lage, diese anzunehmen. Dabei wirken sie nach außen hin vielleicht ganz normal, sind aber innerlich in höchstem Maße erregt. In solchen Situationen kann man nicht in Ruhe nachdenken und reflektieren und schon gar nicht gezielt handeln. Das Fühlen, Denken und Handeln ist darauf ausgerichtet, diesen Zustand zu beenden. Man spricht in der Krisentheorie von einer Schockphase. Im günstigen Fall weicht die Panik der Furcht, die Situation wird handhabbarer, man ist phasenweise in der Lage, Konstruktives zu tun. Krisen sind Situationen, in denen man besonders offen ist für Veränderungen, sofern die Intensität des Stresses eine gewisse, individuell sehr variable Grenze nicht überschreitet. Wenn man auf gute Bindungserfahrungen zurückgreifen kann, ist man eher bereit, Hilfe anzunehmen und Neues auszuprobieren, d. h. man lernt dann oft überraschend schnell hinzu. Der Chancencharakter der Krise wird genutzt. In den Phasen, in denen der Stress wieder zu groß wird und Bewältigungsversuche fehlschlagen, kann es sein, dass der Überblick abermals verloren geht, die Symptome wieder zunehmen und man unter Umständen auch wieder auf destruktive Bewältigungsstrategien zurückgreift. In diesen Phasen lernt man nichts Konstruktives, unter Umständen sogar falsche Dinge. Man hat es in Krisen also mit einer Abfolge von unterschiedlichen Episoden mit variablem Belastungsgrad zu tun, die allerdings nicht linear, sondern eher immer wieder durchlaufen werden und mit immer neuen Versuchen der Bewältigung einhergehen. Sind diese erfolglos, ist es möglich, dass wichtige Ziele aufgegeben werden. Im schlimmsten Fall entwickelt sich ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und damit die Tendenz, bestimmten Herausforderungen aus dem Weg zu gehen. Damit bringt man sich aber um die Chance, zu reifen und sich weiter zu entwickeln.

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