Читать книгу Flucht - Conrad Martell - Страница 12
Berlin Freitag, 12.09.2025 09:32 Uhr CET
ОглавлениеDer gepanzerte Audi bog rechts ab in die Straße Alt-Moabit. Henny nahm ihre Aktentasche, die sie soeben auf den Rücksitz neben sich geworfen hatte, wieder zur Hand. Sie wollte sich vergewissern, dass sie alle Unterlagen dabei hatte – zum gefühlt siebzehnten Mal. Henny war aufgeregt, denn es war ihre erste ‚Kanzlerlage’. Sie war kürzlich erst als Wehrbeauftragte des Bundestages vereidigt worden und bei dem heutigen Termin handelte es sich schließlich um die wichtigste sicherheitspolitische Sitzung des Landes – und deswegen war sie nervös.
Henriette Nadenau, 32 Jahre alt und Majorin der Bundeswehr, war normalerweise nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Sie war eine Elitesoldatin und hatte bereits einen langen Weg durch die Ränge hinter sich gebracht. Nach dem Abitur wählte sie, zum Entsetzen ihrer grün-sozialen Eltern, den Weg des Berufssoldaten. In der Grundausbildung fiel sie den Ausbildern durch ihre Fitness auf, die sie sich in der Jugend durch Intensivsport in der Leichtathletik erworben hatte. Sie war eine der wenigen Soldatinnen, die zu den Fallschirmjägern wollte und ein Empfehlungsschreiben ihres Hauptmanns brachte sie in das Auswahlverfahren. Dort war man von ihrer Zähigkeit beeindruckt. Sie war bereit gewesen, die gleichen Prüfungen wie die Männer zu durchlaufen, ohne Gewichtsreduzierung und ohne Ausnahmeregelungen. Sie schaffte es sogar einen 85-kg Mann über die Distanz von zweihundert Metern zu tragen, und bestand das Auswahlverfahren. Es folgten die Kampfausbildung und mehrere Jahre beim Fallschirmjägerbataillon in Calw. Mit dieser Einheit hatte sie auch ihren ersten Auslandseinsatz 2015 bei der Ablösung französischer Einheiten in Mali.
Hier lernte Henny François Tibault kennen. Sie verliebte sich beim ersten Blickkontakt in den stattlichen Commandeur der französischen Eliteeinheit. Beide verbrachten jede der knapp bemessenen freien Stunden miteinander und unternahmen Ausflüge und Safaris. Sie liebten sich in seinem alten Defender am Ufer des Niger und in den Gueltas des Ifoghas-Gebirges.
Für Henny war es die schönste Zeit ihres Lebens. Sie war jung, hatte einen tollen, aufregenden Job und einen braungebrannten, französischen Liebhaber. Er ermunterte sie auch, ihre Karriere in Angriff zu nehmen.
Nachdem Hennys zwölf Monate Auslandseinsatz abgelaufen waren, wurde sie zurück beordert. François hatte ihr die politische Dimension ihres Berufes verdeutlicht und sie entschloss sich, im Anschluss an ihre Rückkehr Politikwissenschaften zu studieren. Nach Abschluss ihres Masters folgten die Entsendung zum Eurokorps und später die Abberufung zum deutschen Stab des SHAPE in Mons, Belgien. François hatte es geschafft, sich ebenfalls zu SHAPE versetzen zu lassen. Er hatte eine Position in der Ausbildungsabteilung für Spezialkräfte ergattert und sie zogen zusammen.
Bei der NATO hatte Henny begonnen, ihr Netzwerk nach Berlin auszubauen. Sie schrieb immer häufiger für ranghohe Offiziere Berichte und wurde in diverse Ausschlüsse entsendet. Später trug sie sicherheitspolitische Briefings für unterschiedliche Parlamentariergruppen vor und hatte ein gutes Händchen mit Politikern, was wichtig war, denn zu der Zeit waren Soldaten in Berlin nicht hoch angesehen. So wurde ihr Name immer wieder genannt, als es darum ging nach der Absetzung des Wehrbeauftragten schnellen Ersatz zu finden. Es war ungewöhnlich so kurz vor dem Beginn der neuen Legislaturperiode den Wehrbeauftragten zu wechseln, aber es war durch die Presse berichtet worden, dass ihr Vorgänger rechtslastige Aussagen während der Zeit seines Einsatzes bei der ISAF in Afghanistan zu Protokoll gegeben hatte. Er war daraufhin für nicht vertrauenswürdig erachtet und seines Amtes enthoben worden. Man einigte sich über Fraktionsgrenzen hinweg auf Henriette Nadenau, als neue Wehrbeauftragte des Bundestags.
Der Wagen fuhr über die Spree und rechts konnte Henny das immer wieder beeindruckende Bauwerk des Kanzleramtes sehen. Von der Willy-Brandt-Straße bog die Limousine rechts ab auf den großen Parkplatz vor dem nördlichen Verwaltungsflügel. Hier würde sie den Präsidenten des BND, Otto zu Rundstedt-Freyingen treffen. Otto oder ORF, wie er von Insidern freimütig genannt wurde, hatte angeboten sie durchs Amt zu geleiten.
Henny rief sich die Hintergründe der heutigen Kanzlerlage ins Gedächtnis. Die Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen und der Bundesnachrichtendienst im Besonderen hatten in der vergangen Zeit viel politisches Kapital verspielt. Dieser Umstand, so wusste Henny, bereitete dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes zunehmend Kopfschmerzen, musste er doch dafür sorgen, dass sein Geheimdienst weltweit operativ blieb. Der Mossad hatte seit seinem Bestehen vortrefflich gezeigt, dass es im Geheimdienstgeschäft darum ging, Informationen zu beschaffen und gewinnbringend an andere Geheimdienste weiter zu verkaufen oder gegen Informationen, die für das eigene Land von größerer Bedeutung sind, zu tauschen. Diese Tätigkeit wurde für den BND durch die zunehmende sicherheitspolitische Isolation der Bundesrepublik Deutschland immer schwieriger. Hierüber hatte Otto heute der Kanzlerin, dem Innen- und Verteidigungsminister, den Chef des MAD und des BfV sowie diverser Staatssekretäre Bericht zu erstatten. Und natürlich der neuen Wehrbeauftragten des Bundestages.
Der Wagen fuhr vor und Henny stieg aus, nahm ihre Tasche und ihr Jackett und ging durch den Eingang ins Foyer des Kanzleramtes. Seitlich am Empfang erkannte sie Otto, etwa eins neunzig groß, graues Haar, seitlich gescheitelt. Eine rahmenlose Brille, ein dunkelblauer Anzug, eine dicke rot-beige gestreifte Krawatte und fertig war der Spitzenbeamte alten Schlages mit einer schmiedeeisernen, leicht arrogant wirkenden Selbstsicherheit. Dann trat Henny in sein Blickfeld. Er gab seinem Assistenten einen Klaps auf die Schulter und wandte sich der jungen Offizierin zu. Sein Gang war gemessen aber nicht steif, sein Lächeln gutmütig mit einer leichten Andeutung von Keckheit. Henny erwiderte das Lächeln, streckte die Hand aus und ging in die Initiative.
„Hallo Herr zu Rundstedt-Freyingen. Ich bin Henriette Nadenau. Sehr erfreut ihre Bekanntschaft zu machen.“ ORF schüttelte ihre Hand und erwiderte in einem sonoren Bass:
„Otto, die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wollen wir los?“ Seine Assistenten waren zu dem Aufzug vorausgegangen. „Heute zum ersten Mal in der Höhle der Löwin?“, eröffnete ORF das Gespräch.
„Kanzleramt? Ja, heute zum ersten Mal. Im Bundestag war ich schon häufig, aber die Kanzlerlage ist neu für mich.“
„Na, heute werde ICH ja die Show schmeißen. Lehnen sie sich zurück und genießen sie die Vorführung. Es geht heute ja weniger um militärische Angelegenheiten als vielmehr um Nachrichtendienstliches. Nichts worüber wir uns zu sehr Sorgen machen müssten, aber ich will die Überraschung nicht verderben.“
Er nickte einer vorbeischlendernden Regierungsrätin zu, worauf diese, so hatte Henny den Eindruck, ein wenig zu erröten schien. Otto schien im Kanzleramt gute ‚Verbindungen’ zu pflegen. Henny musste auf der Hut sein, nicht dass sie das Ziel seiner Avancen würde. So etwas konnte für die Karriere einer Frau am Spreebogen bedrohlich sein.
Sie stiegen zu den anderen in den Aufzug. Einer der BND-Mitarbeiter drückte auf die Taste für den sechsten Stock. Die Kanzlerlage würde im kleinen Kabinettssaal stattfinden. Als die Tür aufging erkannte Henny zuerst den Verteidigungsminister Axel Müller, dem man seine Hyperaktivität gleich am roten Kopf ansah. Er schien seinen Staatssekretär Ben Roderick noch die letzten Anweisungen zu geben. Beide waren von den Linken und fühlten sich in der Anwesenheit von Ottos Leuten immer ein wenig, wie auf gegnerischem Terrain. Wahrscheinlich hatten sie in Gegenwart von Spionen das Gefühl, im Unklaren gehalten zu werden und damit lagen sie vollkommen richtig. Der BND hatte seit Anbeginn einen Informationsvorsprung gegenüber der Politik gewahrt. Nebenbei hatte die Behörde die schmutzige Wäsche der meisten Politiker des Landes in geheimen Dossiers verewigt; eine Verfahrensweise, die schon J. Edgar Hoover in den USA unangreifbar gemacht hatte. Nur war es immer die Regel des Hauses gewesen, mit sensiblen Informationen der Volksvertreter äußerst sparsam umzugehen und nur dann jemanden in den Schwitzkasten zu nehmen, wenn es sich aus Behördenraison nicht vermeiden ließ.
ORF zog sich für die letzten Vorbereitungen des Berichts mit seinen Leuten in einen Nebenraum zurück. Kanzleramtschef Paul ‚PP’ Porzig, der in Personalunion ebenfalls der Geheimdienstkoordinator der Kanzlerin war, stand am Eingang zum kleinen Kabinettssaal und plauderte heiter mit einem Herrn, den Henny nicht kannte. Sie ging an beiden vorbei und nickte mit einem freundlichen Lächeln. Auf dem runden Tisch waren Platzkarten aufgestellt und Henny suchte ihren Stuhl. Sie würde ganz rechts außen sitzen. Die Kanzlerin würde in der Mitte gegenüber der Eingangstür Platz nehmen.
Dann trat die Kanzlerin, gefolgt von ihren Assistenten, in den Raum. Henny konnte die Elektrizität spüren, die von ihr ausging, von der „Macht“. Die Kanzlerin Siegrid Starcke, Tochter von Helmut Starcke, dem ehemaligen Präsidenten des Hamburger Senats, war eine beeindruckende Person. Sie war Spitzenpolitikerin in der vierten Generation.
Ihr Urgroßvater, Theo Starcke, begann seine politische Arbeit während der Zeit der Weimarer Republik in Lübeck. Er lernte dort den jungen Herbert Ernst Karl Frahm in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands kennen. Dieser floh ins Exil nach Oslo und nannte sich fortan Willi Brandt, während Theo nach London ging, um im dortigen Büro der Internationale als Leiter der Auslandsabteilung der Sozialistischen Arbeiterpartei weiter für die Sache zu kämpfen. Später kreuzten sich dort ihre Wege erneut und Theo wurde zu einem Weggefährten Brandts, schaffte es aber aufgrund seiner streng sozialistischen Linie nicht außerhalb von Parteifunktionen hinaus ein Mandat zu erhalten. Nach dem Krieg ging sein Sohn Max ebenfalls in die Politik und machte - durch Theo und Brandt protegiert - eine steile Karriere in der Hamburger SPD. Später ergatterte er einen Senatsposten, den er lange innehatte. Diesen gab er quasi an seinen Sohn Helmut weiter, Siegrids Vater. Siegrid war somit in einem SPD-Patrizierhaus groß geworden. Die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft gingen bei den Starckes ein und aus. Siegrid hatte bereits als Kind Bekanntschaft mit den hochrangigsten Mitgliedern der Elite gemacht. Daher kam ihr selbstverständlicher Umgang mit Personen der Macht, aber auch ihr fester Glaube daran, selber für diese Macht bestimmt zu sein.
Sie war 47 Jahre alt, mit 1,82 m recht groß und hatte die schlanke, vitale Figur einer Frau, die stets bestens auf sich geachtet hatte. Sie war brünett und hatte einen modischen Pagenschnitt, der ihre edlen Gesichtszüge einrahmte, eine feine gerade Nase, stahlblaue Augen, betonte Wangenknochen und ein spitz zulaufendes Kinn. Ihr Kopf thronte auf einem langen Hals und gab ihr etwas Aristokratisches – manche würden auch sagen etwas Hochnäsiges. Eine gewisse Eitelkeit konnte und wollte sie dabei gar nicht abstreiten.
Im Augenblick machte sie die Runde, hier ein Händeschütteln und da ein kurzer Satz zur Begrüßung. Sie nahm ORF am Arm zur Seite und gab freundlich aber bestimmt ihre letzten Anweisungen. Ihre Innenministerin, Petra Döring bekam Wangenküsse links und rechts und ein paar Erkundigungen zur Familie. Dann war Henny an der Reihe. Die Kanzlerin nahm Henny in ihr Blickfeld. Siegrid Starcke trat ein Schritt vor und streckte ihre rechte Hand aus.
„Hallo Frau Nadenau! Willkommen in unserer Runde. Der Präsident des BND hat mir schon von ihnen erzählt. Ich bin auf ihre Fragen gespannt!“
Henny hatte einen Frosch im Hals und musste zuerst einmal schlucken. Peinlich, das war ihr noch nicht einmal beim Treffen mit dem Generalsekretär der NATO passiert – und da war sie noch ein paar Jahre jünger gewesen.
„Ja, eh ... vielen Dank. Hmm ..., die Mitglieder des Ausschusses machen sich über die Entwicklung Sorgen, .... ich hoffe, ich kann heute etwas mit nach Hause nehmen, um sie zu beruhigen ...“, schloss sie mit wenig Selbstsicherheit.
Die Kanzlerin schaute sie mit einem vernehmlich kühleren Blick an und schloss mit einer ersten, angedeutete Herablassung: „Sie werden das bestimmt prima hinkriegen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit ihnen." Sie nickte noch einmal und ging weiter zum Chef des Verfassungsschutzes, dem sie die Hand auf die Schulter legte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was dieser nur mit devotem Nicken quittierte.
Henny blieb wie vom Blitz erschlagen zurück. Das war nicht so gelaufen, wie sie sich ihr erstes Treffen mit der Kanzlerin vorgestellt hatte. Der erste Eindruck, der bekanntlich doch so wichtig ist, war danebengegangen. Henny berappelte sich wieder und erinnerte sich, wie sie in ihrer Vergangenheit Rückschläge wettgemacht hatte. Sie rief sich in Erinnerung, wo sie war - im Kanzleramt - und sie war Teil der Kanzlerlage, des innersten Machtgefüges dieses Landes geworden. In die Welt zurückgeholt wurde sie durch Ben Roderick, der sich rechts neben ihr in den Sessel plumpsen lies und ihr keck zuraunte: „Jetzt kann die Party losgehen, nicht wahr ... ?“
Die Kanzlerin hatte ihren Sitz neben dem Kanzleramtschef eingenommen. Die übrigen Teilnehmer fanden sich auf ihren Plätzen ein. Die Spannung stieg als sich die Teilnehmer mit raschelnden Papieren, dem Öffnen von Aktenkoffern und dem Stummschalten von Mobiltelefonen auf die Sitzung einstimmten. Dann schauten alle gebannt auf die Kanzlerin, die die Sitzung eröffnen würde. Die Kanzlerin beugte sich vor und blickte in die Runde.
„Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, vielen Dank für ihr Kommen. Ich möchte hiermit die heutige Kanzlerlage eröffnen und gleich im Anschluss an meinen geschätzten Kanzleramtschef, Paul Porzig, übergeben. Doch zunächst möchte ich die Hinzugekommenen begrüßen. Zu meiner Rechten begrüße ich den Bundestagspräsidenten Dr. Römer, den sie ja alle kennen. Und dann haben wir noch, hier zwischen Dr. Arendt und Herrn Roderick eingeklemmt...“, Heiterkeit machte sich in der Runde bemerkbar, „ ... Frau Majorin Henriette Nadenau, unsere neue Wehrbeauftragte des Bundestages.“
Ein freundliches Nicken machte die Runde. Henny lächelte und nickte der Kanzlerin zu. Nun war Porzig an der Reihe:
„Auch von mir ein recht herzliches Willkommen an alle. Wir haben heute nach der Ansprache durch die Bundeskanzlerin und meiner Einführung noch drei weitere Tagesordnungspunkte, die abzuarbeiten sind, bevor wir uns zum wohlverdienten Mittagessen begeben können. Zunächst wird Herr Präsident zu Rundstedt-Freyingen seinen Kanzlerbericht zu den Aktivitäten des Bundesnachrichtendienstes geben. Als nächsten TOP wird Frau Majorin Nadenau, als Wehrbeauftragte des Bundestages, die Fragen des Verteidigungsausschusses vortragen. Danach würde ich die Runde gerne für die Dauer von zwanzig Minuten für Fragen und Antworten öffnen. Abschließend kommen wir zum letzten Tagesordnungspunkt, den Handlungsempfehlungen der drei Präsidenten der Nachrichtendienste, ... das sind der Bundesnachrichtendienst, das Amt für den militärischen Abschirmdienst und der Verfassungsschutz. Ich möchte nun an dich, mein lieber Otto, übergeben.“
ORF nahm seine Notizen zur Hand und begann seinen Bericht: „Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Wie immer danke ich an erster Stelle meinen sehr geschätzten Kölner Kollegen der anderen Dienste, Herrn Dr. Wilmar Arendt, Präsident des Verfassungsschutzes und Herrn Bernd Höse, Präsident des Amtes für den militärischen Abschirmdienst, für ihre Zuarbeit.
Den Bericht über die Agententätigkeit des Bundesnachrichtendienstes möchte ich heute auf die Neuigkeiten aus den Legalresidenturen im Mittleren Osten konzentrieren. Berichte erreichten uns aus Bagdad, Damaskus, Mosul und Erbil. Die Quellen dieser Berichte sind zum Teil unsere eigenen Agenten, zum Teil arbeiten wir mit selbstständigen Informanten und zum Teil werden uns diese Informationen von befreundeten Diensten zugetragen. Diese bestätigten eine erhöhte Agententätigkeit des Militärischen Geheimdienstes der Volksrepublik China. Es finden Treffen zwischen Agenten Chinas und hochrangigen Vertretern einschlägiger Terrororganisationen statt. Den Grund für diese Treffen, oder der genaue Inhalt dieser Gespräche, sind uns nicht bekannt, da wir gegenwärtig niemanden innerhalb dieser Netzwerke haben. Aber die chinesischen Agenten, die gesichtet wurden, sind uns im Zusammenhang mit Waffengeschäften an Drittweltstaaten bekannt. Bestätigt wurden diese Informationen vom Mossad. Der Mossad fungiert für uns nicht nur als eine zentrale Anlaufstelle für Informationen im Nahen Osten, sondern derzeit in unserer misslichen Situation auch als ein Mittler zwischen den Diensten von Drittstaaten und unserem Haus.“
„Otto!“, fuhr die Kanzlerin dazwischen, „du kennst meine Meinung. Dieser aufgeblasene Kenneth Ace, der kann mich mal. Erst waren sie Weltpolizist und haben jeden umgebracht, der sich herausgenommen hat, eigenständig zu denken; Allende und Lumumba, um nur zwei zu nennen. Und jetzt spielen sie sich als Weltsöldner auf, ... wollen von uns Europäern über dreißig Milliarden Dollar im Jahr für ein paar in Polen stationierte amerikanische Truppen haben. Wo sind wir denn? Wenn die CIA mit uns nicht mehr spielen will ... bitte schön. Fahre mit deinem Bericht fort.“
Otto kannte die Ausbrüche der Kanzlerin. Nichts brachte so sehr in Rage, wie das Thema USA und CIA. Sie war durch und durch Anti-Amerikanerin, wie auch eine Mehrzahl ihrer Wähler und des Kabinetts. Otto ließ sich nichts anmerken und nahm seinen Bericht wieder auf.
„Nun gut, die Geschehnisse wurden von Seiten des Mossad nicht als Bedrohung des Staates Israel wahrgenommen. Vermutet wird aber wohl eine großangelegte Operation gegen den Westen.“
Hier hakte die Kanzlerin noch einmal nach: „Woraus schließen die Israelis, dass nicht SIE Opfer einer solchen ‚großangelegten Operation’ sein könnten, sondern WIR?“
Otto war froh um diese Frage, gab sie ihm doch die Gelegenheit mit seinem in Jahrzehnten Geheimdienstarbeit angehäuftem Hintergrundwissen zu glänzen. „Nun, die Waffen, die üblicher Weise von China an Terrororganisationen geliefert werden, sind Kleinwaffen, also Handfeuerwaffen, Granaten und Sprengstoff. Hochwertige Waffensysteme geben sie nur an Staaten weiter. Mit der Bedrohung durch terroristische Gruppen, die sich mit solchen Waffen ausrüsten, lebt Israel seit seiner Gründung. Besorgniserregend sind für Israel im Besonderen weit entwickelte Waffensysteme, wie Trägerraketen für Massenvernichtungswaffen. Für diese technologisch weit entwickelten Waffensysteme braucht man hochgebildete Techniker, über die Terrororganisationen in den wenigsten Fällen verfügen. Mehrere unabhängige Quellen bestätigen Treffen chinesischer Agenten mit hohen militärtaktischen Führern diverser Terrororganisationen. Es ging, so wird vermutet, um Waffen und Logistik. Es wird angenommen, die Waffen sollten verschifft, bzw. irgendwo außerhalb der Region angelandet werden. An dieser Stelle möchte ich an meinen Kollegen vom Verfassungsschutz übergeben.“ Otto nickte quer über den Tisch seinem Gegenüber, Dr. Wilmar Arendt, freundlich zu.
Arendt war heute Morgen mit dem Hubschrauber von Köln eingeflogen, den er sich mit dem Präsidenten des MAD geteilt hatte. Ein typischer Red-Eye-Flug, und das sah man ihm auch an. Er nahm sein Tablet-PC mit dem Anflug leichten Widerwillens zur Hand, wirkte seltsam geknickt, lies seinen Kopf sinken und meditierte noch einen Augenblick über seinen Bericht. Die Mitglieder der Runde sahen ihn zunehmend irritiert an. Dann hob er wieder seinen Kopf, räusperte sich und begann seinen Bericht.
„Frau Bundeskanzlerin, liebe Kollegen. Der Verfassungsschutz ermittelt im Bundesgebiet gegen alle bekannten Terrororganisationen. Wir kooperieren im Besonderen mit dem DGSI, also dem französischen Inlandsgeheimdienst und dem MI5, entsprechend dem britischen Inlandsgeheimdienst. Frankreich und Großbritannien sind im besonderen Maße von diversen Terrororganisationen unterwandert und beobachten die Szene so gut sie könnnen. Wie sie alle wissen, sind solche Gruppen ungeheuer schwer zu infiltrieren. Der Verfassungsschutz und die Landesbehörden tun ihr Möglichstes und wir wissen über einen großen Anteil der mehr als sechzigtausend Verdachtspersonen im Bundesgebiet Bescheid. Wir kennen ihre Aktionsräume, ihre Kontakte etc. Unsere Behörden konnten bereits viele Male Waffen und Material beschlagnahmen und Anschläge vereiteln. Dennoch muss ich ihnen mitteilen, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Kenntnisse über Planungen, ihre Ziele und laufende Aktivitäten haben. Die bei weitem besten Abhörmethoden und die größte Datenbank der Welt hat die NSA. Aber sie verweigert die Zusammenarbeit mit uns.“
Siegrid Starcke rollte die Augen. Sie konnte es einfach nicht mehr hören und würde Arendt im Nachgang der Sitzung zur Rede stellen. Er soll seine Arbeit geflissentlich selber machen und nicht darauf vertrauen, dass die Amerikaner sie für ihn erledigen.
Arendt fuhr fort: „Gegenwärtig verfügen wir nicht über gesicherte Erkenntnisse, dass eine erhöhte Aktivität auch tatsächlich in diesen Kreisen zu verzeichnen ist. Wir haben das Personal in diesem Sektor wegen den kommenden Festivitäten zum 35. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung verringern müssen, denn wir sind seit Monaten personell am absoluten Limit. Alle meine Leute haben Urlaubssperre und fahren im bisher nicht gekannten Maße Überstunden. Im Moment laufen einfach zu viele Überwachungen und der Schwerpunkt liegt vor allem auf einheimische Links- und Rechtsextremisten.“
Die Kanzlerin legte ihre ‚das-ist-alles-sehr-beunruhigend-Miene’ auf. Den anderen in der Runde ging es nicht anders. Es entstand eine unangenehme Pause und es war als ob man eine Kälte, eine namenlose Angst im Raum spüren könnte. Siegrid Starcke wollte Klarheit: Liegt eine Bedrohung vor oder nicht? sie wollte Arendt zu einer definitiven Aussage zwingen. „Also, wir wissen, dass gefährliche Leute im Nahen Osten etwas planen, das gegen den Westen gerichtet sein könnte, aber wir wissen aus heimischen Untersuchungen nicht womit wir es zu tun haben. Ich entnehme ihren Äußerungen, dass wir nicht davon ausgehen können dies alsbald zu erfahren?“
„Korrekt!“ bestätigte Wilmar Arendt postwendend. Eine prekäre Situation, so war seine Erfahrung, entfaltetet die geringste Zerstörungskraft für den Verantwortlichen, wenn sie schnellstmöglich zugegeben wird. Er war sich auch bewusst, dass er als Verfassungsschützer in dieser Runde genügend politisches Kapital aufgebaut hatte, um einmal sagen zu können ‚ich weiß nicht!’. Es war aber auch genau die Antwort, mit der die Kanzlerin am wenigsten leben wollte. Deshalb hakte sie nach: „Wenn wir also nichts wissen, was zum Teufel nochmal vermuten wir denn?“
Darauf hatte Wilmar Arendt gehofft. Ein einziges Ass hatte er noch im Ärmel. „Die Israelis, der DGSI und der MI-5 vermuten einen Vergeltungsschlag gegen Frankreich oder Großbritannien. Eine Motivation könnte die langjährige Solidarität der Briten und der Franzosen zu den USA im Krieg gegen den Terror sein. Die Franzosen sind auf der Liste der gefährdeten Staaten aufgrund ihrer historischen Anti-Terror-Aktivitäten in Nordafrika. Die Briten sind die treuesten Partner der USA in Europa. Frankreich und Großbritannien haben neben Deutschland und Belgien die terroristisch aktivsten radikal-muslimischen Enklaven und die Netzwerke sind, dass muss ich zu meinem Bedauern sagen, sehr dicht und intransparent. Darüber hinaus hegen die Chinesen einen Groll gegen die Briten und die Franzosen, weil sie den US-Amerikanischen Antrag auf Verpflichtung der Rüstungsausgaben der NATO-Mitglieder auf die einschlägigen 2% des BIP unterstützt haben.“
Die Kanzlerin war noch immer besorgt.
„Warum sollten die Chinesen versuchen den Briten oder Franzosen zu schaden und dafür islamistische Terroristen zu instrumentalisieren. Sie sind doch - zusammen mit uns anderen Europäern - ihre Handelspartner. Mir leuchtet die Logik nicht ein. Was ist ihr Ziel?“
„Zum Ersten sind sie an den Waffengeschäften interessiert. Zum Zweiten beabsichtigen sie uns – der Verbund westlicher Länder - militärisch zu schwächen. Ihr Hauptkontrahent, wirtschaftlich wie militärisch, ist die USA. Ihre Hauptsorge ist, dass wir, die europäischen Mächte, uns mit den Amerikanern wieder zusammenraufen und unsere Differenzen begraben. Die Chinesen befolgen Sun Zu: ‚Erzeuge Streit unter deinen Feinden!’ Den größten Streit hat die USA mit Deutschland. Deswegen sind wir das unwahrscheinlichste Ziel. Die größte Solidarität erhalten die Amerikaner von den Briten, den Franzosen, den Nordischen Ländern und den Osteuropäern. Sie sind die wahrscheinlichsten Ziele, ... in der Reihenfolge. Wenn also diese Länder mit dem heimischen, islamistischen Terror beschäftigt sind, haben sie weder Zeit noch Energie der USA beim Eindämmen einer möglichen zukünftigen chinesischen Expansion in Asien zu helfen. Das ist die Logik.“
Das Gesicht Kanzlerin hellte sich erkennbar auf. Sie konnte zufrieden sein. Sie fragte nochmals abschließend: „Also wird es wahrscheinlich die anderen treffen?“
Arendt wusste, dass der Kelch an ihm vorübergegangen war. „Davon ist auszugehen. Jawohl, Frau Bundeskanzlerin!“
Siegrid Starcke lächelte zufrieden. Wenn sie eines im Vorfeld des Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung nicht brauchen konnte, dann war das eine Terrorwarnung. Arendt hatte die Sache abgebügelt. Es gab keinen Grund noch aktiv zu werden. Blieb da noch sein Kollege vom MAD, Bernd Höse. Porzig gab den Staffelstab weiter:
„Was sagt denn der MAD?“
Bernd Höse, für den diese Aufforderung sichtlich etwas überraschend kam, erschien zunächst unvorbereitet, fing sich aber recht schnell.
„Nun, ... grundsätzlich konzentrieren sich unsere Ermittlungen auf feindliche Agenten aus Russland. Seit der Besetzung der Krim und der Destabilisierung der Ukraine sind die Russen wieder unser Primärfeind. Wir erwarten nicht so schnell eine Invasion Chinas in Europa!“ Man konnte den Sarkasmus klar in seiner Stimme erkennen und er hatte die Lacher auf seiner Seite.
„Gleichwohl nehmen auch wir eine erhöhte Anspannung bei unseren Informanten war. Es scheint etwas im Busch zu sein.“
Arendt schloss die Augen. Alles was er bisher zur Beruhigung der Nerven getan hatte war durch diesen unbedachten Höse zunichte gemacht worden. Er betete still in sich hinein, Höse möge die verdammte Kuh, die er wieder aufs Eis geführt hatte, selber herunter kriegen.
„Die Russen haben bereits vor Jahren größere Truppenansammlungen an den Grenzen zur Ukraine, zu den Baltischen Staaten und Polen aufgehäuft. Jedoch werden keine erhöhten Aktivitäten aus den Stützpunkten der russischen Armee gemeldet. Es sind vor drei Tagen sechs Jagdfliegerstaffeln bestehend aus je acht Sukhoi Su-35S Mehrzweckjägern von Millirowo nach Selenogorsk verlegt worden. Mit diesen Geschwader können die Russen den Luftraum in eintausend Kilometer Umkreis um Leningrad beherrschen und mit dem Einsatz von Tankflugzeugen noch mehr.“
Otto fragte spitz: „Wollen sie damit sagen, die Russen beherrschen wenn sie wollen den ost-europäischen Luftraum?“
„Oh, ... das könnten sie bereits, seit die Amerikaner ihre F-22 abgezogen haben. Weder die Polen noch wir haben etwas Vergleichbares. Die amerikanischen Raptor-Staffeln stehen jetzt in Incirlik in der Türkei. Die Amis haben sie näher an den wahrscheinlichen Kriegsschauplatz in Asien verlegt. Uns hat das noch nie etwas ausgemacht. Russische Agenten jedenfalls werden von uns observiert und sind in der letzten Zeit unauffällig. Wir halten die russische Bedrohung Europas ohnehin für Panikmache, ... für reine Illusion!“
Hennys Magen verkrampfte sich, wusste sie doch aus ihrer NATO-Zeit, dass Deutschland mit dieser Ansicht alleine dastand.
Höse fuhr fort: „Solange die Russen keine weiteren Truppen mobilisieren, glaube ich, können wir beruhigt schlafen.“ Damit hatte auch er seinen Vortrag beendet.
Da war sie wieder, diese Kälte und diese Beklemmung. Wenn internationale Terrororganisationen Frankreich und Großbritannien im Visier haben, konnte das nur gut sein für Deutschland. Aber wenn Russland mit ins Spiel kommt wird’s ungemütlich. Und welches Spiel spielen die Chinesen? So richtig schlau wurde niemand aus den Berichten der Nachrichtendienste. Henny blickte in fragende Gesichter. Diesmal versuchte der Kanzleramtschef den Faden aufzunehmen und den Ball wieder ins Rollen zu bringen.
„Nun, falls es zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Fragen zu den Berichten der Nachrichtendienste gibt, würde ich aus Zeitgründen jetzt die Wehrbeauftragte des Bundestages aufrufen, die Fragen der parlamentarischen Verteidigungskommission zu präsentieren.“
Alle Augenpaare richteten sich auf Henny. Das Blut schoss ihr den Hals hoch und von einem Augenblick auf den Nächsten war ihre Kehle so trocken, dass sie keinen Ton herausbrachte. Sie nickte Paul Porzig zu und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Dann legte sie los. „Vielen Dank Herr Porzig, meine Damen und Herren. Ich hatte letzte Woche die Gelegenheit, mich mit dem Verteidigungsausschuss des Bundestages zu beraten und mein Vorgänger hatte bereits einige Erkundigungen in Richtung der nachrichtendienstlichen Situation im Inland angestellt. An dieser Stelle möchte ich den Präsidenten des BND für seine Zuarbeit danken. Der Fokus liegt hierbei auf die nachrichtendienstliche Komponente unserer Verteidigungssituation. Die Anfragen des Kontrollgremiums konzentrieren sich auf drei Punkte.
Erstens: Wie wird der Stand der Infiltrierung unserer nachrichtendienstlichen Organe, durch Terroristen einerseits und durch ausländische Agenten andererseits, eingeschätzt. Darüber hinaus wird gefragt, ob es beim MAD Hinweise oder Tatverdacht ausländischer Agententätigkeit bei den Truppen gibt? Diese Erkenntnisse werden in meinem jährlichen Lagebericht ‚Situation der Streitkräfte’ Berücksichtigung finden.“
Die Anfrage erzeugte eine gewisse Unruhe. Höse, Präsident des MAD rutschte auf seinem Sessel herum. Arendt vom Verfassungsschutz blickte versteinert ins Nirgendwo und Otto schmunzelte unauffällig, wendete aber niemals den Blick von ihr ab. Es wurde als Anfängerfehler gesehen, eine so plumpe und offensichtlich naive Frage zu stellen. Natürlich würden alle Dienste behaupten, es gäbe keine ausländischen Maulwürfe, weder in den Diensten noch in der Bundeswehr – geschweige denn Terrorristen. Auf diese Frage gab es für jeden Geheimdienst der Welt natürlich nur eine Antwort: ein Dementi.
„Als zweites interessiert sich das Parlament für den Stand der internationalen Kooperation unserer Dienste mit den Diensten unserer Verbündeten. Kann man davon ausgehen, dass unsere Nachrichtendienste in das westliche Netz eingebunden sind oder muss man unterstellen, dass aufgrund der Spannungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika wir derzeit isoliert und in unserer Handlungsfähigkeit eingeschränkt sind? Die Militärexperten der Fraktionen, dass brauch ich ihnen nicht zu sagen, halten diesen Aspekt für entscheidend hinsichtlich der augenblicklichen Verteidigungsbereitschaft.“
Sie blickte in versteinerte Gesichter. Hatte die Wehrbeauftragte denn nicht die Position der Kanzlerin zur Kenntnis genommen. Niemand hatte die Kanzlerin bisher so schamlos mit den Konsequenzen ihrer Außenpolitik konfrontiert. Henny ließ sich nicht durch die Stille und die Feindseligkeit irritieren.
„Wir haben gerade im Rahmen des Berichts des Präsidenten des Verfassungsschutzes andeutungsweise eine Problemsituation vernommen. Das Parlament möchte hierzu weitere und umfassende Hintergrundinformation und eine Einschätzung hinsichtlich unserer Gefährdungs-lage.“
Das war zu viel. Arendt fuhr dazwischen:
„Haben sie’s eben nicht gehört. Wir sind nicht gefährdet. Teilen sie das dem Ausschuss mit!“
Henny schoss zurück: „Das wäre auch zu wünschen, denn in unserer jetzigen Situation, könnten wir noch nicht einmal Helgoland verteidigen!“
„So ein Unfug, und das von einer Soldatin“, kanzelte Höse sie ab.
Es entstand eine gebannte Stille.
Die Kanzlerin sah Henny kalt mit ihren stahlblauen Augen an. Die Wehrbeauftragte würde unter ihr jedenfalls keine Karriere machen. Henny hatte die Grenze politischer Räson überschritten. Was sie gesagt hatte, war zwar NATO-Mehrheitsmeinung, aber leider auch ein politisches Tabu in Deutschland. Henny nahm sich ihr Glas zur Hand und gönnte sich einen erlösenden Schluck – gleich war es geschafft.
„Als Drittes möchten die Parlamentarier eine Einschätzung der Gefährdung unserer Wehrfähigkeit durch Dritte, also nicht durch fremde Truppen oder fremde Agenten sondern z. B. durch Terroristen oder Saboteure. Insbesondere zielt diese Anfrage auch auf die anderen Sicherheitsorgane, also auf die Bundes- und Landespolizei.“
Sie rückte ihren Stuhl etwas näher an den Tisch, um eine gänzlich aufrechte Position einnehmen zu können und ihrer Forderung dadurch eine gewisse Nachdruck zu verleihen.
„Ich würde sie bitten, meinem Büro diesbezüglich die notwendigen Berichte rechtzeitig vor der nächsten Sitzung des Gremiums in vierzehn Tagen zu übermitteln. Danke dafür im Voraus!“
Henny lies ihren Blick schweifen. Von der Innenministerin, Petra Döring, bekam sie ein anerkennendes Lächeln und ein unauffälliges, für sie bestimmtes Nicken – gut gemacht!
Otto lächelte sie immer noch an. Sein Lächeln schien zu sagen. „Na, mit dir werde ich ja meinen Spaß haben!“
Henny lächelte zurück. „Ja, das wirst du!“
Der Kanzleramtschef versuchte den Eklat zu überbügeln und nahm ohne zu zögern das Wort an sich: „Danke Frau Majorin für ihre Anfrage. Aus zeitlichen Gründen möchte ich die Frage- und Antwortrunde überspringen und sofort an den Präsidenten des BND übergeben, der seine Zusammenfassung und eine Handlungsempfehlung vortragen wird.“
Otto räusperte sich und nahm seine Akte vor.
„Vielen Dank Herr Porzig. Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: Es werden im Nahen Osten vermehrte Agententätigkeiten von Seiten Chinas wahrgenommen. Die beobachten Aktivitäten schlossen bekannte Terrororganisationen ein. Gegenwärtig wird noch kein eingrenzbarer Gefährdungsbereich deutlich. Der BND, der BfV und der MAD werden jeweils in ihren Ressorts alle denkbaren Anstrengungen unternehmen, um schnellstmöglich Gegenmaßnahmen in die Wege zu leiten und Personen zu verhaften, sobald eine Gefährdung im Inland erkennbar wird. Darüber hinaus werden wir mit unseren ausländischen Partnern zusammenarbeiten, um im Falle einer Gefährdung ihrerseits, alles Nötige zu tun, um sie bei der Gefahrenabwehr zu unterstützen.“
Er ließ das Gesagte einen Augenblick wirken.
„Jedenfalls, kann eine derzeitige Gefährdung unserer territorialen Integrität durch Drittstaaten ausgeschlossen werden. Die augenblicklichen Spannungen konzentrieren sich auf den fernen Osten. Die Amerikaner und ihre asiatischen Verbündeten haben alles im Griff. China konnte zwar vor drei Jahren Taiwan besetzen, doch erwarten wir keine weitere großangelegte Invasion, z. B. von Südkorea oder Vietnam. Aus Russland wird keine Bedrohung wahrgenommen. Die Verlegung von Jägerstaffeln nach Leningrad entspricht reiner Routine. Die Piloten müssen auch im unbekannten Terrain ihre Tiefflugübungen abhalten können. Wir machen genau das Gleiche. Russland hat zwar im östlichen Grenzbereich der EU etwa 60.000 Mann stationiert, doch erkennen wir keinerlei signifikante Aktivitäten, die auf ein Manöver oder gar auf eine feindliche Operation schließen lassen würden.“
Er wendete langsam das Blatt. Auf der Rückseite waren, sehr zu Erleichterung der Sitzungsteilnehmer, nur wenige Zeilen gedruckt.
„Demzufolge werden wir die verfügbaren Ressourcen zuvorderst auf die Sicherungsmaßnahmen im Rahmen der Feierlichkeiten zum 35. Jahrestag der Wiedervereinigung konzentrieren. Zweite Priorität hat die Beobachtung von verfassungsgefährdenden Elementen aus dem extremen rechten und linken Spektrum. Dritte Priorität hat die Observierung von ausländischen Geheimdiensten und Terrororganisationen. Und zu guter Letzt, werden Auslandstätigkeiten in meinem Hause zur Gefahrenabwehr einerseits und zu gemeinschaftlichen Sicherungsbemühungen im Kreise befreundeter Dienste andererseits erfolgen.“
Er legt das Blatt vor sich auf den Tisch. Er sah der Kanzlerin in die Augen und ließ sein warmes freundliches Lächeln einen Augenblick wirken.
„Derzeit sehe ich keine Veranlassung, ihnen, meiner sehr verehrten Frau Bundeskanzlerin, eine Handlungsempfehlung mit Hinblick auf die Nachrichtendienste zu geben.“
Dann war es für eine Zeit lang still.
Henny dachte sich: Das war’s jetzt? Ist denn niemand beunruhigt?
Höse und Arendt schauten sie feindlich an. Die Kanzlerin wendete sich an Otto.
„Vielen Dank für ihren Bericht, lieber Otto. Ich danke allen hier Anwesenden für ihre Teilnahme und den anderen Präsidenten des MAD und des BfV für ihre Berichte. Auch der Wehrbeauftragten des Bundestages danke ich für ihre Anfrage.“
Nun war der Kanzleramtschef dran. „Meine Damen und Herren, ich schließe mich der Danksagung der Kanzlerin an und wünsche ihnen allen einen produktiven Nachmittag. Die nächste Kanzlerlage findet heute in vierzehn Tagen, am 26. September um 10:00 Uhr statt.“
Die Sitzungsteilnehmer begannen ihre Akten zusammen zu räumen und aufzustehen. Henny konnte sich der Ahnung nicht verschließen, dass dieses Resümee zu sorglos erschien. Die Gefahr war genannt worden, sie stand im Raum. Aber der Kreis hat entschlossen diesbezüglich vorerst nichts zu tun, sie zu ignorieren. Als Soldatin gefiel ihr diese Herangehensweise ganz und gar nicht. Der Feind konnte nun agieren, vorerst ungestört, und seine Plan aushecken, was immer der auch sei.
Otto kam auf sie zu und lächelte. „ihre Anfragen sind notiert, Majorin Nadenau. Den Bericht erhalten sie in einer Woche. Sie schauen etwas betrübt drein. Hat ja etwas gerumst eben. Aber machen sie sich keine Sorgen. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Apropos Essen, meine Leute und ich werden etwas essen gehen. Wollen sie mitkommen, ein paar Bekanntschaften auf der Arbeitsebene machen?“
Henny sammelte ihre Unterlagen zusammen und steckte sie in ihre Tasche. „Nein, vielen Dank Herr Präsident. Das holen wir nach, wenn’s recht ist. Ich habe noch Arbeit im Büro und meine Mitarbeiter müssen instruiert werden." Sie nahm ihre Tasche über den Arm und wandte sich in Richtung des Ausgangs.
Otto blickte ihr nach. Eine fähige und patente, junge Frau, dachte er. Er würde sie im Blick behalten. Vielleicht konnte er sie in Zukunft für sein Haus rekrutieren. Aber das hatte Zeit. Er gab seinen Mitarbeitern das Zeichen zum Aufbruch. Auch auf ihn würde nach dem Essen noch viel Arbeit warten und wahrscheinlich würde er heute Abend im Büro in Pullach schlafen. Denn was seine Agenten ihm bisher berichteten, hatte nichts mit dem ungetrübten Bild von eben zu tun. Seine blauäugige Zusammenfassung basierte auf politischer Räson, nicht auf der faktischen Bedrohungslage. Eines teilte er mit Henny. Auch er machte sich Sorgen um sein Land. Es hatte viele Feinde und noch nie in Ottos Lebenszeit so wenige Freunde wie heute. Und es brauchte fähige Menschen, die für das Land kämpfen konnten. Henny war ein solcher Mensch. Otto hielt sich auch für einen solchen Kämpfer. Aber, so dachte er sich, erst nach einem guten Lamm-Karree! Er ging hinter seinen Leuten her und, da er der Letzte war, schloss er die Tür zum kleinen Kabinettssaal hinter sich zu.