Читать книгу Flucht - Conrad Martell - Страница 7
Hürtgenwald Mittwoch, 10.09.2025 06:04 Uhr CET
ОглавлениеDer Strand war breit und der Sand weiß. Die Brandung des Meeres rauschte nahebei. In den Dünen begannen die Schildkröten zu schlüpfen.
Es war soweit.
Heute war der Tag ihrer Geburt. Sie brachen sich mühevoll durch die Schale ihrer Eier. Instinktiv gruben sie sich aus ihrer Bruthöhle einen Weg nach oben, durch den Sand, ans Tageslicht. Einmal draußen begannen sie blind zu krabbeln, in Richtung des Meeres. Sie konnten es nicht sehen – aber hören. Und sie krabbelten darauf zu, mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Körper, immer nur darauf zu.
Alle waren sie gekommen. Die Möwen, die Seeschwalben, die Leguane und die Krabben. Heute war für sie angerichtet. Sie stürzten sie sich auf die kleinen Schildkröten und begann sie zu fressen. Sie fraßen bis sie nicht mehr konnten. Und wenn sie nicht mehr fressen konnten, dann töteten sie trotzdem weiter, im Blutrausch.
Viele kleine Schildkröten würden heute sterben. Hunderte, tausende, zehntausende kleine Schildkröten würden von den Krabben bei lebendigem Leibe gefressen werden oder von den Möwen in Stücke gerissen werden.
Die, die noch lebten, krabbelten weiter, so schnell sie konnten, blind, in Todesangst, mitten im Gemetzel, hin zum Meer, so schnell sie konnten. Es war ihre einzige Möglichkeit, … war ihre einzige Chance zu leben …
Kurts Kopf fiel vornüber. Dadurch wachte er auf. Er musste eingenickt sein. Es war noch dunkel und er hatte früh aufstehen müssen, um rechtzeitig hier zu sein. Kurt hatte diesen Traum von den Schildkröten schon seit seiner Jugend. Er musste als Kind eine Fernsehdokumentation gesehen haben. Ihm war dieses grausame Naturspektakel in Erinnerung geblieben.
Kurt war nicht sentimental. Er war ein Kenner der Natur und wusste, dass sie mitunter grausam sein konnte. Im Traum jedoch empfand er unendliches Mitleid mit den Schildkröten. Früher hatte er diesen Traum nur selten gehabt, ein oder zweimal im Jahr. In letzter Zeit aber hatte er ihn häufiger, immer wieder. Wie ein Vorbote. Und von Mal zu Mal spürte er den Horror deutlicher, intensiver, näher…
Kurt schaute auf seine Uhr. Die Sonne würde in vierzig Minuten aufgehen. Kurt rieb seine noch schläfrigen Augen. Er begann gerade Konturen sehen zu können. Es war der Anfang des Morgengrauens - Büchsenlicht. Kurt war Jäger.
Für September war es schon erstaunlich frostig im Hürtgenwald und der Wetterbericht hatte für die kommenden Wochen die Möglichkeit von Schnee angekündigt. Solange Kurt sich erinnern konnte, und besonders seit dem einetzenden Klimawandel, hatte es noch nie so früh Schnee gegeben. Schnee war ohnehin selten geworden – in der Eifel und anderswo. Aber im Moment fühlte es sich nach Schnee an, nach Winter.
Kurt hatte es sich auf seinem Lieblings-Hochsitz gemütlich eingerichtet, sich in seinen Ansitzsack eingemummelt und eine dicke Decke unter dem Hintern ausgebreitet. Mit einer warmen Mütze auf dem Kopf und einer Thermojacke war er gut auf die Kälte vorbereitet.
Kurt atmete die kühle, frische Luft tief ein. Er war froh hier zu sein. Die Luft war würzig von Gräsern und Harz, und vom Duft der Erde. Kurt zog die Luft tief in sich ein. Es war ruhig um ihn herum. So schön ruhig.
Der Hochsitz stand am schmalen, nördlichen Ende einer Waldwiese. Sie war eingebettet in einem großen Altholzbestand. Hier kamen alle Sorten Wild, meist spät abends oder sehr früh morgens. Das Rotwild und die Mufflons kommen bei Sonnenaufgang, um am saftigen Klee zu äsen oder sich dem Topinambur gütlich zu tun, den Kurt letztes Jahr gepflanzt hatte. Die Wildschweine kommen normalerweise in der Nacht, um nach Wurzeln, Regenwürmer oder nach Mäusen zu wühlen – zu brechen, wie die Jäger sagen. Auf sie hatte es Kurt abgesehen. Für sie war er hier.
Das Schwarzwild war in seinem Revier stark vertreten, wie so ziemlich in allen Revieren des Landes. Kurt musste den Bestand reduzieren und so der schlimmsten Gefahr für Wild- und Hausschweine vorbeugen: der Schweinepest.
Er hatte sein Gewehr an den Nagel rechts von ihm gehängt und nahm sein Fernglas, um sich in seiner Umgebung umzusehen. Der Wind kam von Süden und stand ideal – von vorne. Das Wild auf der Wiese würde ihn nicht riechen können – und das war entscheidend. Kurt horchte hinaus in den Wald. Konnte er das Nahen des Wildes vernehmen oder spielten ihm seine Sinne einen Streich?
Wild zu hören war - mit Ausnahme des Schwarzwildes - sehr schwer. Eine Rotte Schwarzwild machte im trockenen Laub Radau wie eine Schulklasse und man konnte sie hören, lange bevor sie im fahlen Licht der Dämmerung sichtbar wurden. Oftmals werden Wildschweinrotten hier oben in der Eifel von Waldkauzen begleitet. Die Wildeulen hoffen auf die Mäuse, die beim Brechen der Sauen vereinzelt abspringen. Deswegen kündigten die markanten Rufe der Kauze das Ziehen einer Rotte von der Ferne aus an. Doch im Augenblick war nichts zu vernehmen.
Rehwild oder Rotwild jedoch waren meistens unhörbar. Sie wechselten auf einmal aus dem Nichts heraus auf die Lichtung und begannen am Grün zu äsen. Und gerade, weil man sie nicht hören konnte, war das Warten so spannend, so elektrisierend.
Zaunkönig und Neuntöter begannen ihre Melodien zu trällern. Eine Fledermaus kehrte von der nächtlichen Jagd zurück und machte es sich unter der Teerpappe auf dem Dach des Hochsitzes gemütlich. Sie würde dort den Tag verschlafen. Noch eine Stunde würde Kurt warten. Das war jetzt die beste Zeit.
Kurt hatte sein Fernglas zur Hand genommen und schaute sich langsam und systematisch in der Umgebung des Hochsitzes um. Die meisten Hochwildarten der Eifel konnten jetzt auftauchen. Rehwild, das zum Niederwild gehörte, würde etwas später kommen, wenn überhaupt.
Kurt kam aus einer Jägersfamilie. Solange es die Familienchronik zurückverfolgen ließ, hatten die Houbens gejagt und ihre Pacht in der Eifel ging auf den Urgroßvater zurück, der an der Somme gefallen war. Kurt jagte, wie auch sein Vater Konrad und sein Bruder Klaus. Allerdings war Kurt der Waldläufer in der Familie – in jeder freien Minute, die er nicht mit seiner angebeteten Frau verbrachte, war er auf den Beinen und im Revier.
Sein Vater Konrad hingegen, der Richter am städtischen Gericht in Neuss war, beließ es lediglich dabei, einmal im Jahr zur Gesellschaftsjagd einzuladen. Es kamen die erweiterte Familie, Bekannte und Partner aus der Politik, sowie Kollegen vom Gericht. Kurts Bruder Klaus war bei der jährlichen Drückjagd mit von der Partie, denn die Kontakte seines Vaters konnten Klaus als Anwalt sehr von Nutzen sein. Ansonsten hatten die beiden für die Jagd nicht genug Zeit. Sie machten Karriere.
Kurt war ebenfalls Anwalt. Er hatte sich auf Energierecht spezialisiert und arbeitete bei einem Regionalversorger in der Rechtsabteilung als Vertragsmanager. Damit war er, was die beruflichen Ambitionen der Familienmitglieder der Houbens anbelangte, das Schlusslicht. Aber er konnte sich seine Arbeit weitgehend selber einteilen und hatte somit Zeit für seine Passion.
Kurts Mentor war sein Patenonkel Ferdinand, der ihn bereits in jungen Jahren mitgenommen und schnell das Talent des jungen Kurt erkannt hatte. Ferdinand - seines Zeichens ebenfalls Jurist und Professor für Familienrecht an der Universität Köln - war ein ruhiger und ausgeglichener Mann, der einen erlösenden Kontrast zum herrischen und selbstgefälligen Vater Konrad darstellte.
Kurt war der beste Jäger der Familie und viele Freunde und Weidmänner hielten ihn für den besten Jäger in der Vordereifel. Es war nicht die Menge an erlegtem Wild, die seine Klasse ausmachte, sondern seine weidmännischen Fähigkeiten insgesamt.
Kurt konnte sehen.
Er sah Wild stehen, wenn andere nichts sahen, etwas Losung in einem Meer von Gras, eine Drucksiegel von einem Reh, dass unter einem Blatt hervorlugte, das Gehörn eines Rehbocks vor dem Hintergrund eines Stangenholzes auf mehr als dreihundert Meter.
Er konnte pirschen, ohne Geräusche zu machen und verlief sich nie, auch nicht in Mondnächten. Er hatte einen sicheren Instinkt, und er las Spuren, wie andere die Morgenzeitung. Er wusste genau welches Wild in welchem Teil seines Reviers stand, wie es zog, und wann man wo und bei welchem Wind die besten Aussichten auf Erfolg hatte.
Das Leben mit dem Wild, die Hege, das Lesen der Spuren, das Beobachten im Frühjahr und das Zählen des Wildes, das Erlegen und das Versorgen des Wildes – all diese Dinge, die das Handwerk des Jägers ausmachten, sprachen tief in seinem Innern etwas an, dass sich anfühlte, wie seine Bestimmung.
Das Vogelgezwitscher nahm zu als der Wald zu Leben erwachte. Kurt hatte, in Gedanken verloren, die Zeit vergessen. Es war schon fast zu spät für Schwarzwild. Bald würde die Zeit des Ansitzes vorüber sein. Kurt horchte hinaus in den Wald - Nichts. Er schaute auf seine Uhr. Der Sonnenaufgang war bereits zwanzig Minuten vorbei. Seine Chancen auf Schwarzwild waren nun minimal. Er blickte von seiner Uhr auf und dann sah er das Wild.
Es lugte vorsichtig aus der Dickung am westlichen Rand der Wildwiese. Es drehte sein Haupt und nahm Wind. Dann trat es heraus, gefolgt von seinem Kalb und den anderen Mitgliedern seines Rudels.
Rotwild.
Ein Alttier war herausgetreten und begann zu äsen. Kurt lächelte. Rotwild war zwar im September jagdbar, aber Kurt würde das Rotwild noch sechs Wochen schonen, bis nach der Brunft. Dann wurden auch die Kälber mit Sicherheit nicht mehr gesäugt. Kurt lehnte sich zurück und beobachtete selig das Wild. Es waren vier Alttiere und zwei Kälber. Die beiden einzelnen Alttiere hatten vielleicht ihre Kälber verloren. Er sah den friedlich äsenden Tieren noch eine Weile zu. Dann packte er seine Sachen und stieg, so leise er konnte, die Treppe des Hochsitzes herab, denn er wollte das Rotwild nicht vergrämen. Am Ende der Leiter angekommen zog er seinen Rucksack an, schulterte das Gewehr und machte er sich vergnügt auf dem Weg zu seinem Wagen.
Er sah dem krächzenden Eichelhäher hinterher, betrachtete die noch frische Losung, die am Rand des Pfades lag – Rehwild. Vielleicht hatte ein Bock seinen Einstand in der Nähe. Er würde der Sache mal bei Gelegenheit nachgehen. Dann wechselte Kurt auf einen breiten Wirtschaftsweg und wanderte nach Süden. Sein Wagen stand nun in Sichtweite. Er dachte daran, dass er Tanja, seiner Frau, noch versprochen hatte auf dem Rückweg Brötchen zu holen und hoffte der Bäcker hatte noch welche mit Mohn.
Ach, bestimmt hat er noch Mohnbrötchen, dachte Kurt als er den Überläufer sah. Ein zweijähriges Stück Schwarzwild stand am Rand des Weges, keine zwanzig Meter vor ihm. Kurt zog das Gewehr hoch in den Anschlag. Das Wildschwein sprang von rechts nach links über den Weg hinweg und war im gegenüberliegenden Buschwerk verschwunden. Kurt richtete sein Fadenkreuz – das Absehen - auf die Stelle, wo das Wildschwein soeben gestanden hatte. Vielleicht waren da noch mehrere Schweine aus seiner Überläuferrotte.
Dann ging es schnell.
Ein weiterer Überläufer erschien aus dem Wechsel heraus und spurtete über den Weg. Kurt hatte ihn in seinem Visier und schwenkte mit. Als das Absehen auf dem Teller – dem Ohr - angekommen war, schoss er. Der Überläufer brach zusammen und rutschte in den Graben des Weges. Kurt repetierte sofort und schwenkte zurück. Ein weiteres Wildschwein war aufgetaucht und rannte in dieselbe Richtung wie die anderen. Kurt schwenkte jetzt entgegen der Bewegungsrichtung der Sau. Er schoss, als sein Absehen auf dem Haupt des Schweins angekommen war. Dann repetierte er nochmals. Eine weitere Sau stand an der Stelle und wusste nicht was es tun sollte. Kurt erlegte es, ohne zu zögern, mit einem gezielten Blattschuss. Es brach auf der Stelle zusammen.
Das ganze hatte keine zehn Sekunden gedauert. Kurt repetierte und hielt auf die erlegte Sauen an. Sie schlegelten noch etwas, aber keine stand wieder auf. Nach fünfzehn bis zwanzig Sekunden sicherte Kurt sein Gewehr und legte seinen Rucksack ab.
Kurt war sich gewiss, dass er die Sauen gut getroffen hatte. Das Schießen war ihm über die Jahre ins Unterbewusstsein übergegangen und die vielen tausend Übungsschüsse, die er auf statische und dynamische Ziele abgegeben hatte, führten zu einer traumwandlerischen Sicherheit im Umgang mit dem Gewehr. Der gesamte motorische Ablauf, den der Anfänger sorgfältig nacheinander durchführen muss – das Gewehr in die Schulter ziehen, den Griff mit der Abzugshand fest umschließen, den Abzug vorziehen bis zum Druckpunkt, Zielen und dann kontrolliert den Zug erhöhen, bis der Schuss ohne zu Verreißen bricht und die Kugel sicher im beabsichtigten Ziel landet – all das war ihm in Fleisch und Blut übergegangen und gestaltete sich in einer einzigen flüssigen Bewegung.
Nun wartete er. Er ließ das Wild eine Zeit lang in Ruhe, eine Gnade, die der weidgerechte Jäger immer dem Wild gewährt. Es versinnbildlicht die Achtung vor dem Wild und den gebotenen Anstand des Jägers, im Angesicht des Todes.
Dann stand Kurt auf und ging hinüber zum Wild. Alle drei Überläufer hatten einen Schuss durch den unteren Brustkorb, den Blattschuss, der zum sofortigen Tod führt. Kurt war, trotz seiner Erfahrung und seines meisterlichen Könnens, noch immer jedes Mal erleichtert wenn ihm ein sauberer Schuss gelungen war. Das Wild hatte nicht leiden müssen und er brauchte sich nicht zu schämen; eine Nachsuche blieb aus.
Kurt schloss die Augen und empfand Dankbarkeit. Langsam verflog die Aufregung, bei ihm und in seiner Umgebung. Der Gesang der Vögel brandete wieder an.
Er brach drei Fichtenzweige ab und ehrte die Überläufer mit dem letzten Bissen. Dann machte er mit seinem Telefon ein Bild von jedem Stück, für die Dokumentation. Als dies erledigt war zog er sich hygienische Einweg-Handschuhe an und nahm sein Messer. In zwanzig Minuten würde er das Wild versorgt haben. Kurt war froh, dass er mit seinem Auto bis an das Wild heranfahren konnte. So entfiel das mühsame Schleppen. Dann würde er die Sauen in die Kühlkammer bringen und die Gewebeproben für die Trichinenprüfung vorbereiten. Er würde zu spät zum Frühstücken kommen und Tanja würde ihm die Hölle heiß machen. Aber ein gutes Dutzend Familien hatten nun ihren Weihnachtsbraten sicher. So war das Jägerleben nun mal. Er würde es bei Tanja wieder gut machen müssen, irgendwie.