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Beijing Mittwoch, 10.09.2025 13:49 Uhr CST

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Shi Deliang, Chef des chinesischen Militärgeheimdienstes, wurde von einer attraktiven Vorzimmerdame in das Büro des Verteidigungsministers geführt. Shi war der mächtigste Spion Chinas, und das in einer Zeit, in der die Spionage von einer nie dagewesenen Bedeutung für das Land war. Er herrschte über alle Nachrichtendienste der Volksrepublik. Und er war Chef der politischen Abteilung der Zentralen Militärkommission, der Militärführung der Kommunistischen Partei. Shi hatte eine einflussreiche Position in der vielleicht mächtigsten Organisation der Welt. Doch auch er hatte einen Chef; den Verteidigungsminister Wong Li, in dessen Büro er sich gerade befand.

Wong brütete gerade über einen Bericht und hatte Shi noch nicht wahrgenommen. Das gab Shi die Gelegenheit, sich das geschmackvolle Interieure des Arbeitszimmers des zweitmächtigsten Mannes in China anzuschauen. Vorbei war es mit den öden, sowjet-inspirierten Holzvertäfelungen. Es fehlten jegliche kitschigen Gemälde zur Verherrlichung der kommunistischen Großtaten wie ‚der lange Marsch‘. Stattdessen Postmoderner Realismus. Geschliffener Beton, große Fensterfront mit Blick auf den Tiananmen, geölte Teakholzdielen auf dem Boden, eine Wand war mit hellem Zedernholz beschlagen, das einen süßlich-würzigen Duft ausströmte und eine fühlbare Erhöhung der Behaglichkeit erzielte. An den Wänden hinter Wong erblickte Shi moderne gegenstandslose Malerei. Ein Bild sah aus wie ein Kadinsky. Dänisches Mobiliar aus Stahl und Leder, Blumen in einer großen Vase, alles wirkte stylish und behaglich. Und das war notwendig, wenn man wie Wong achtzehn Stunden am Tag arbeitete. Hinter Shi befanden sich Monitore an den Wänden. Es liefen Xinhua, China News Service, aber auch Bloomberg, Reuters und andere, westliche Informationsdienste. Der Ton war abgestellt. Wong hatte auf seinem Schreibtisch sehr ordentlich eine Reihe von Berichten aufgestapelt, die er in den kommenden 24 Stunden lesen musste.

Wong legte das Dossier zur Seite, hob seinen Blick und nahm Shi ins Visier. Shi kannte Wong seit vielen Jahren, gehörte zu seinem innersten politischen Netzwerk und war sein wichtigster Verbündeter. Und trotzdem fühlte er sich jedes Mal unbehaglich, wenn ihn Wong mit seinen eiskalten Augen ansah. Wong verzichtete auf jede formelle Begrüßung:

„Wo stehen wir mit den Vorbereitungen?“

„Alle sind in Stellung gebracht“, antwortete Shi. „In den Zielstädten sind die Sicheren Häuser besetzt und alles ist vorbereitet. Die Agenten mit dem Kampfstoff fliegen nächste Woche Dienstag von vier Ausgangsflughäfen nach Europa ein. Da die Waffe nur über vier bis fünf Tage stabil ist, muss sie nach unserer nächsten ZMK-Sitzung direkt vor Ort zum Einsatz gebracht werden. Alles wird wie am Schnürchen laufen.“

„Das wollen wir beide für dich hoffen. Es ist deine Mission und deine Verantwortung.“

Shi holte tief Luft und nickte. Die Mission, die Shis Geheimdienst erarbeitet hatte, war von langer Hand geplant, ... von sehr langer.

Seit 2010 hatte die chinesische Führung erkannt, dass die Umweltschäden in China ernstzunehmenden Umfang haben würden. Es war eine Entscheidung zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. Die industrielle Entwicklung des Landes durfte nicht gebremst werden. Zu viele Menschen mussten in Lohn und Arbeit gebracht werden. Die Beschäftigung von möglichst großen Anteilen der Bevölkerung sollte das Volk beschäftigen und ruhig stellen. Die Steuereinnahmen wurden zur Hochrüstung einer modernen Armee verwendet. Rüstung und Wirtschaftswachstum hatten oberste Priorität. Danach erst kam die Umwelt. Am Ende, so dachten die Mitglieder des Politbüros, wenn man das reichste und militärisch stärkste Land der Welt war, konnte man alle Probleme lösen, zur Not mit Gewalt und auf Kosten anderer Länder. Macht kommt aus den Rohren der Gewehre, so hatte Mao das einmal trefflich formuliert. Zudem bereicherte sich die Elite der Partei hemmungslos. Keine Organisation der Welt hat mehr Dollarmilliardäre in ihre Mitte, als die KPC.

Um den Umweltauswirkungen entgegen zu wirken, hatte man zwar in großem Stil in erneuerbare Energien investiert und ein landesübergreifendes System von Transportleitungen für Trinkwasser gebaut. Doch man war im Politbüro immer skeptisch gewesen, ob diese Maßnahmen reichen würden. Man hatte einen Plan-B entwickelt.

Wenn Kontinentalchina zukünftig als Lebensraum für ein 1,4 Milliarden-Volk aufgegeben werden müsste, gäbe es zwei Regionen, die zur Umsiedlung geeignet erschienen: Nordamerika und Europa. Afrika entwickelte sich zu einem Wüstenkontinent. Südamerika litt unter El-Niño und La-Niña und hatte nicht genug Potenzial. Die anderen asiatischen Länder waren noch schlimmer dran als China. Australien galt mittlerweile als kaum mehr bewohnbar. Kanada hingegen war mit gemäßigtem Klima gesegnet und militärisch schwach gesichert. Aber es war auch der Vorhof der USA und die Amerikaner würden ihren Kontinent mit Zähnen und Klauen verteidigen. Deswegen erschien es militärisch - trotz des immensen technischen und materiellen Fortschritts der Volksbefreiungsarmee - als nicht aussichtsreich, die USA herauszufordern.

In Europa sah dies anders aus.

Die USA hatte sich aus der NATO zurückgezogen. Sie hatte nur noch Beobachterstatus. Artikel 5 des NATO-Vertrages, der die Mitglieder verpflichtete, sich gegenseitig militärisch im Angriffsfall zu unterstützen, hatte für die USA keine Bedeutung mehr. Der Rückzug aus den Verpflichtungen zur Verteidigung Europas wurde von einer großen Mehrheit der Amerikaner getragen. Die Europäer waren untereinander zerstritten und die Solidarität der Bevölkerungen untereinander war minimal. Großbritannien hatte sich von der EU getrennt. Frankreich hatte sich umfangreiche Sonderkonditionen herausverhandelt. Italien war wirtschaftlich am Boden und wurde von den übrigen EU-Staaten mit Nothilfekrediten am Leben gehalten. Deutschland verfolgte einen radikalen pazifistischen Kurs und blockierte alle Bemühungen eine europäische Streitmacht aufzubauen. Die Nord- und Osteuropäer rüsteten auf, waren aber technologisch ins Hintertreffen geraten. Die Armeen Europas wiesen untereinander so viele Kompetenzlücken auf, das eine gemeinsame effektive Verteidigung nicht möglich war. Russland hatte zwar eine militärisch überlegene Armee, fürchtete aber die kombinierte Wirtschaftsmacht der Europäer und hielt sich für zu schwach, um Europa alleine anzugreifen.

Wong Li, der Verteidigungsminister Chinas, hatte den russischen Präsidenten überzeugt, dass China und Russland gemeinsam Europa bezwingen konnten.

Aber wie greift man Europa an? Wie schaltet man ihre militärischen Fähigkeiten aus und überzeugt die Zivilbevölkerung von der Notwendigkeit zur Flucht. Nuklearwaffen sollten nicht zum Einsatz gebracht werden, da es galt den Lebensraum zu erhalten. Das Gleiche galt für Chemiewaffen. Eine großangelegte konventionelle Eroberung würde zur Verwüstung Europas führen und es sollten - soweit dies möglich war - die hervorragende Infrastruktur und die Bausubstanz Europas erhalten bleiben. Ziel war somit die Ausschaltung des europäischen Militärs und möglichst große Anteile der Zivilbevölkerung – bevor es überhaupt zum Kampf kam. Und das ging am besten biologisch. Darüber war man sich bereits 2012 im Klaren.

Wenn man also das militärische Personal, und dazu genommen auch weitere Ordnungshüter wie Polizei und Küstenwache mit einem Schlag ausschalten will, muss man nahe rankommen. Du diesem Zweck wurde die Firma Optosanex gegründet.

Öffentliche Dienstleistungsverträge mussten ab einer gewissen Größenordnung europaweit ausgeschrieben werden. Optosanex beteiligte sich in ganz Europa seit 2014 an allen Ausschreibungen öffentlicher Liegenschaften zur Vergabe von Serviceverträgen im Bereich Sanitär. Optosanex betreute Toilettenanlagen. Die Firma wurde vom chinesischen Geheimdienst über ein dichtes Netz von europäischen Scheinfirmen finanziert und konnte somit unter Kosten anbieten. Dadurch hatte Optosanex über ein Jahrzehnt kontinuierlich die meisten öffentlichen Ausschreibungen zur Bewirtschaftung der Sanitäranlagen gewonnen. Dass sie mit wirtschaftlich unmöglichen Preisen die Konkurrenz ausstach, interessierte in den schuldengeplagten Verwaltungen europäischer Gemeinden, Krankenhäusern, Raststätten, Ämtern und vor allem in den Kasernen, Militärflughäfen und Marinehäfen am Ende niemanden. Die hygienischen Verhältnisse waren stets tiptop, die Bezahlung des Personals war so auskömmlich, dass niemand Anstoß nahm. Optosanex wurde von mehreren Geheimdiensten geprüft aber man fand nie etwas Anrüchiges. Da die Leistungen über lange Zeit tadellos waren, hatte Optosanex eine Monopolstellung aufgebaut. China hatte in der Zeit hohe Millionenbeträge in die Subventionierung der Firma gesteckt. In den kommenden Tagen würde sich dieses Investment auszahlen. Optosanex war der Schlüssel zur Infizierung eines Großteils der Personen, die für die Verteidigung und die für Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität in Europa betraut waren.

„Sind wir sicher, dass die Waffe wirkt und den Europäern nichts einfällt, um ein Gegenmittel zu entwickeln?“, fragte Wong Li nach.

„Ja, ich bin sicher, dass sie wirkt. Hunderte toter Rhesusaffen und einige Dutzend toter Delinquenten können das bezeugen. Und nein, keinesfalls finden sie ein Gegenmittel. Bei dem Erreger handelt es sich um einen künstlich geschaffenen Virus aus der Biowaffenabteilung des Militärischen Geheimdienstes. Es ist ein neuartiges genetisches Design, bei dem zum Teil Erbgut des Ebola-Virus und des Lassafiebers genutzt wurde. Damit ist es gelungen, die hohe Sterblichkeit des Ebola mit der großen Ansteckungsgefahr des Lassafiebers zu kombinieren. Sie haben keine Chance. Nur das CDC in Atlanta könnte mit etwas Glück ein Gegenmittel finden. Aber auch sie würden Wochen oder Monate brauchen. Bis dahin gehört Europa uns.“

Wong lächelte kühl. Das war genau das, was er hören wollte. Auf diese kleine Ratte Shi konnte er sich verlassen. Nächste Woche Montag trat das wichtigste und entscheidende Gremium für Militärfragen zusammen, die Zentrale Militärkommission der KPC. Staatspräsident Zhou und elf weitere Minister und Militärs würden über Krieg und Frieden entscheiden. Wong und Shi waren Mitglieder der ZMK. Wong hatte viele Jahre daran gearbeitet, diesen Krieg vorzubereiten. Krieg war eine Zeit, in der skrupellose und entscheidungsstarke Männer nach oben kamen und Zauderer und Schwächlinge abserviert würden.

Wong Li war stark, skrupellos und hart, ein begnadeter Organisator und ein effektiver Intrigant. Nur Zhou, der Staatspräsident, hatte ein besseres Netzwerk und eine breitere Machtbasis als er. Der kommende Krieg, davon war Wong Li überzeugt, würde das ändern.

Wong entstammte, wie viele der sogenannten Prinzlinge, einer alten kommunistischen Familie und wie Zhou war auch Wong für das höchste Amt bestimmt gewesen. Sein leiblicher Vater war ein hohes Mitglied in der Regionalverwaltung in Lanzhou. Er hatte sich jedoch eine jüngere Frau genommen und Wong mit seiner Mutter verstoßen. Wongs Onkel, Wong Inlei, nahm Li und seine Mutter bei sich auf und spielte fortan die Rolle des Vaterersatz für den kleinen Li. Wong Inlei gehörte zum mittleren Kader und war ein einflussreicher Beamter im Ministerium für Kohle und Stahl. Dort machte er in den Goldgräberjahren der Neunziger und des ersten Jahrzehnts nach dem Millennium auch ein stattliches Vermögen. Er entwickelte die vorzüglichen Verbindungen, die Reichtum mit sich brachte, und ebnete Wong Li den Weg.

Der Rückschlag kam unter der Präsidentschaft von Xi Jinping. Onkel Wong fiel einer Antikorruptionswelle zum Opfer. Fast wäre Wong Lis Karriere ebenfalls mit der seines Onkels beendet gewesen. Doch er hatte bereits selber, durch ein weitverzweigtes und loyales Netzwerk im Umfeld des Ministeriums für Staatssicherheit, sein eigenes politisches und vielleicht auch leibliches Überleben sichern können. Wahrscheinlich wäre Wong auch ohne diesen Rückschlag nicht Staatspräsident geworden, denn Zhou war bereits zu diesem Zeitpunkt Politbüromitglied und hatte somit die Nase vorn.

Wong musste einige Jahre im Ministerium für Staatssicherheit seine Wunden lecken und wurde schließlich ins Politbüro berufen, wo er mit vorgegebener Loyalität und mit knirschenden Zähnen, Zhous Weg zur Präsidentschaft aus nächster Nähe verfolgte. Wong Li hatte die Demütigung nie verwunden. Er fühlte sich seither von dem Establishment der KPC verraten und verachtet. Doch seine Zeit war damals noch nicht gekommen, er musste pragmatisch bleiben. Er half Zhou seine letzten Gegner aus dem Politbüro zu beseitigen und wurde von Zhou dafür zum Verteidigungsminister berufen. Wongs Loyalität gründete auf Notwendigkeit, nicht auf Respekt oder Freundschaft und er hätte Zhou bei jeder passenden Gelegenheit gerne entmachtet und in die Wüste geschickt. Doch Zhous politische Maschinerie war der seinigen überlegen. Und so musste Wong den verlässlichen Vasallen für Zhou geben, bis seine Zeit gekommen war. Und seine Zeit kam jetzt.

„Hast du schon deine Präsentation fertig? Du weißt, du trägst den Plan für die ganze Operation Kǎixuán vor. Ich erwarte nicht weniger als einen perfekten Vortrag.“

Shi Deliang stockte. Er hatte einen Klos im Hals. Egal wie hoch man gekommen war. Wer Wong Li enttäuschte verschwand, in der Regel für immer.

„Mein Vortrag wird perfekt sein. Sie werden alle zustimmen, da bin ich sicher. Nur Yao macht mir Sorgen.“

Wong hob eine Augenbraue. Er wollte nichts von Sorgen hören, nur von Zuversicht. Shi bemerkte seinen Fehler sofort und beschwichtigte eilig: „Aber wir haben ihn weitgehend isoliert. Er sollte kein Problem darstellen.“

Wong hatte sein fieses, kaltes Lächeln im Gesicht als er sagte: „Gut, Shi, sehr gut! Du kannst gehen.“

Wong drückte auf eine Ruftaste und Sekunden später kam seine Vorzimmerdame, eine frühere Miss Shanghai, herein und begleitete den verdatterten Shi aus dem Raum.

Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

Wong stand auf und nahm sich eine Zigarette. Er zündete sie an und sog den Rauch tief in sich hinein. Während der Rauch von der Zigarette aufstieg und der Kick des Nikotins einsetzte, schaute Wong zum Fenster hinaus auf den Tiananmen Platz. Er war seinem Ziel nahe. Seine Zeit war gekommen.

Flucht

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