Читать книгу Flucht - Conrad Martell - Страница 14
Beijing Montag, 15. 09.2025 10:42 Uhr CST
ОглавлениеZhou Yinhong, der Staatspräsident der Volksrepublik China, sah hinaus in das graubraune Fiasko, das außerhalb seiner Limousine stattfand. Der Smog war heute wieder besonders schlimm. Ein starker Wind hatte den braungelben Staub der versteppten Gebiete im Norden Beijings mit dem Ruß und den Abgasen der 20-Millionen-Stadt zu einem giftigen Nebel vermischt, durch den sich die Passanten quälten.
Die Menschen, die Zhou draußen sah, hatten in der Mehrzahl der Fälle Papiermasken auf. Diejenigen, die es sich leisten konnten, trugen diese neuen Ganzgeschichtsmasken, mit den feinporigen und wechselbaren Filtern. Mit diesen Masken konnte man die Gesichter der Menschen sehen, und sie wirkten damit weniger bedrohlich, als die Masken der ABC-Anzüge mit ihren zwei runden Augenfenster, wie sie das Militär verwendete.
Das Stadtbild war gespenstisch, fast endzeitlich. Eine Kommunikation mit den Masken war nur eingeschränkt möglich, doch das hatte für die meisten Passanten keine Bedeutung. Jeder eilte so schnell er konnte zum seinem Ziel und versuchte dabei, sich möglichst wenig zu vergiften. Das diese Luft die Lebensspanne eines jeden Einzelnen drastisch verkürzte, war eine Tatsache, die mit größter kollektiver Anstrengung ignoriert wurde, zumindest öffentlich. An seiner Arbeitsstelle oder zuhause angelangt, konnte man wieder gute gefilterte Luft atmen. Die Reichen und Privilegierten, wie Zhou, fuhren große Autos mit Partikelfilter, die man mit unterschiedlichen Duftnoten bestellen konnte. Zhous Limousine hatte derzeit einen Filter mit Sandelholz-Duft. Die Armen, die Heerschar der entlassenen Fabrikarbeiter aus den geschlossenen, staatseigenen Betrieben, hatten noch nicht einmal das Geld für die Papiermasken. Solche Menschen wurden kaum älter als fünfzig. China war zu einer sehr ungleichen Gesellschaft geworden.
Tausende Menschen sah Zhou an sich vorbeiziehen, im täglichen Ausnahmezustand der Hauptstadt. Er fragte sich, wie lange sie noch diese katastrophalen Umweltbedingungen so stoisch ertragen würden. Die zahlreichen sogenannten Umweltaktivisten saßen wegen Aufwiegelung oder Störung der öffentlichen Ordnung im Gefängnis. Aber auf Dauer – und das wussten alle im Politbüro - würden diese Umweltbedingungen zu einem Aufstand führen.
Vor Jahren hatte man bereits die strengsten Umweltauflagen der Welt für die Industrie in der Umgebung der Hauptstadt in Kraft gesetzt. Aber die Schwerindustrie produzierte trotz der Umweltauflagen weiterhin Schadstoffe in gigantischem Ausmaß. Elf Millionen Pkw und 900.000 Lkw taten das ihre. Als das Politbüro ein Gesetz zur Begrenzung der Anzahl von Privat-Pkw in der Hauptstadt vorschlug, kam es zu Massendemonstrationen der Mittelschicht. Die Menschen sahen in einem Auto das Statussymbol ihres Aufstiegs. Dafür hielten sie die Wirtschaft am Laufen, tolerierten ohne zu murren die Korruption, die Gängelei und die Skandale der Eliten. Alles was sie verlangten, war ein kleines bisschen Wohlstand: eine eigene Wohnung, ein eigenes Auto und natürlich die Möglichkeit es zu nutzen - uneingeschränkt. Diesen Wohlstand hatten sie sich hart erarbeitet. Den würden sie sich nicht nehmen lassen und dafür gingen sie auf die Straße. Das Gesetz trat nie in Kraft.
Die innenpolitische Lage im Land wurde immer gespannter. Die Internet-Chatrooms von Regimekritiker konnten nicht so schnell gelöscht werden, wie sie neu eingerichtet wurden. Dutzende von Demonstrationen mussten in allen Teilen des Landes jeden Tag aufgelöst werden. Im letzten Monat waren über dreitausend sogenannte „Bürgerrechtler“ verhaftet und interniert worden. In Summe waren zu jeder Zeit über 500.000 politische Gefangene in Haft. Die meisten Verhafteten waren nur Mitläufer und wurden nach kürzester Zeit wieder freigelassen. Die Behörden, die Fabriken und die Dienstleistungsunternehmen des Landes brauchten sie schließlich. Aber für beide Seiten, das Regime und die Bürger, war es eine heikle Patt-Situation.
Elektrofahrzeuge konnten sich nur die wohlhabendsten Genossen leisten. Es wurde zur Pflicht für jeden im Kader eines zu fahren. Auch die Staatskarosse des Präsidenten war mittlerweile ein Elektrofahrzeug. Doch dieses Zugeständnis beruhigte das Volk nur wenig. Das eigene Volk war heute, mehr denn je, die größte Gefahr für den Machtanspruch der Kommunistischen Partei Chinas. Ihr Machterhalt und der Erhalt der öffentlichen Ordnung waren die obersten Staatsmaximen. Um sie zu wahren würde man sogar einen Krieg führen.
Und um das ging es heute: Krieg oder Frieden, wenn man die augenblickliche Situation so nennen konnte. Ein Krieg würde als ein Überdruckventil fungieren, um beim Volk Dampf abzulassen. Nichts eint ein Volk so sehr, wie ein äußerer Feind. Die Partei brauchte diesen äußeren Feind jetzt, um sich im Sattel zu halten und als legitimes Führungsorgan des Volkes zu gelten.
Der Schutzkorso des Staatspräsidenten Zhou Yinhong war von der Dongchang’an Jie abgefahren. Die drei Fahrzeuge bogen in die südlich verlaufende Zhengyi Lu ein. Rechter Hand lag das Ministerium für Staatssicherheit. Hier fand die Sitzung der Zentralen Militärkommission statt, dem Oberkommando der Volksrepublik China. Die Wagen umrundeten das östliche Gebäude und fuhren die Rampe zur Tiefgarage hinab. Ein Aussteigen auf dem pittoresken Vorplatz, von wo aus man an klaren Tagen die nach Jasmin duftenden Gärten des Kulturpalastes hätte sehen können, war nur noch selten möglich.
Die Sicherheitsleute stiegen aus dem vorderen und dem hinteren Fahrzeug aus und umstellten den Wagen des Präsidenten. Einer öffnete dem Präsidenten die Tür. Zhou stieg aus und drehte sich ohne zu Zögern – und ohne zu Atmen - auf dem Absatz und ging schnellen Schrittes in Richtung des Eingangs.
Das Gebäude war riesig, wie alle in der Umgebung des Tian’anmen Platzes. Sechshundert Meter in östlicher Richtung lag der Platz des himmlischen Friedens – der größte innerstädtische Platz der Welt. In seiner südlichen Hälfte lag das gigantische Mausoleum Maos. Als Junge hatte Zhou zum ersten Mal dort den einbalsamierten Leichnam des Staatsgründers gesehen und sein Wunsch war dort entflammt, eines Tages ein so bedeutender Mann wie Mao zu werden. Nun war er Staatspräsident, und die heutige Entscheidung würde ihn zum bedeutendsten chinesischen Staatsmann der Neuzeit machen oder zum größten Schurken der Weltgeschichte. Das hing vom Ausgang des Plans ab.
Er ging durch den Eingang in das kleine Foyer des Untergeschosses. Seine Bodyguards bogen rechts in den Wartebereich für Fahrer und Security ab, während sich Zhou weiter geradeaus hielt. Am Eingang zum Sicherheitsbereich wurde er von zwei Mitarbeitern des Ministeriums flankiert, die ihn fortan begleiteten. Hier im Innern des Gebäudes übernahmen die Ministeriumsangestellten die Security. Wie bei den meisten Geheimdiensten, misstraute man jedem, der nicht dem eigenen Haus angehörte.
Zhou kannte den Weg. Er bog rechts ab. Das Gebäude war ein langgezogenes L mit kühlen dunklen Gängen. Obwohl das Ministerium für Staatssicherheit eines der wichtigsten Ministerien des Landes darstellte, war es vergleichsweise spärlich ausgestattet und der graue Linoleumboden roch nach Ostblock-Amtsstube. Zhous Schritte schallten weit und lang-anhaltend durch die Gänge. Seine Wächter hatten Kreppsohlen und ihre Schritte waren unhörbar, was Zhou ein wenig irritierte. Aber nicht viel. Er hatte auf seinem langen Weg nach oben die meisten Behörden, Ministerien und Kasernen von innen kennengelernt. Er war, seit seinen frühen Tagen als Kadett der Volksbefreiungsarmee, ein integraler Bestandteil dieser Maschinerie der Macht geworden.
Auf dem Weg zu der wichtigsten Sitzung seiner Karriere ließ er vor seinem inneren Auge seine eigene Geschichte vorüberziehen. Es war die Geschichte des modernen China und der modernen kommunistischen Partei.
Zhou Yinhong war, wie fast alle Mitglieder des Politbüros, ein sogenannter „Princeling“, ein Abkomme des KP-Uradels. Schon sein Vater war Mitglied des Politbüros und gehörte dem Netzwerk um Jiang Zemin an, welches mal ehrfurchtsvoll, mal hämisch, die Shanghai-Clique genannt wurde. Seinem Sohn vererbte der Vater die politischen Kontakte und den Zugang zu den geheimen Netzwerken der Macht. Aus den familiären Zirkeln von damals, entwickelte der Vater für seinen Sohn die lange Kette von Verpflichtung und Gunst, die Zhou viele wohlwollende Mentoren und Gönner in höchsten Kreisen brachte. Im Gegenzug war Zhou seinem Vater, der Familie und - vor allem - der Partei zu Gehorsam und Aufopferung verpflichtet.
Das war der Deal.
Im Verständnis seines Vaters war man als Kommunist zuvorderst ein Kämpfer. Und jede Ausbildung eines Spitzenkommunisten begann mit der Stählung in der Armee. Also musste Zhou in der Offiziersschule der Volksbefreiungsarmee seine Ausbildung zum Offizier absolvieren. Ein Kampfeinsatz blieb ihm glücklicherweise erspart und er konnte nach zwei Jahren sein Studium der Rechtswissenschaften in Harvard aufnehmen.
Er war in Massachusetts zur Jahrtausendwende angekommen, als China seinen Aufstieg zur Supermacht begann. Er – der von Kindesbeinen an Privilegierte - trug schwer daran, wie mitleidig und herablassend er von den blaublütigen amerikanischen Ostküsten-Zöglingen behandelt wurde - als käme er aus einem afrikanischen Entwicklungsland mit steinzeitlicher Kultur. Doch die Armee hatte ihn Disziplin und Durchhaltevermögen gelehrt und er hatte die ur-chinesischste Tugend im Übermaß: Fleiß.
Einhundertstundenwochen sind auch in Harvard nicht die Regel. Mit Zhous zunehmenden akademischen Erfolgen schwand sein Zorn und stieg sein Selbstbewusstsein. Bald konnte ihm keiner mehr im internationalen Wirtschaftsrecht etwas vormachen. Er hätte eine sehr erfolgreiche Karriere in Washington, New York oder Genf machen können. Doch er war einen Deal eingegangen. Ihn zu brechen wäre undenkbar gewesen.
Also begann er seinen unaufhaltsamen Aufstieg in der KP. Trotz seiner überragenden Qualifikationen und seinem hervorragenden Netzwerk, war Zhous Weg von Gefahren, Intrigen, Eifersüchteleien und Feindschaften gepflastert. Wenn man in einem totalitären System zur Spitze aufsteigen will, muss man einen unbeugsamen Willen und eiserne Härte als Grundvoraussetzung mitbringen, dazu taktisches Geschick und die Fähigkeit, Menschen an sich zu binden. So gelangte Zhou nach oben. Das führte ihn hierher, zur heutigen Sitzung.
Er kam an die zweiflüglige Eingangstür des Sitzungssaals. Zwei Wachen mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen standen davor, salutierten und öffneten die Tür. Er trat in den Raum und sah zuerst auf die goldene Uhr an der gegenüberliegenden Stirnseite des Raums.
Punkt elf Uhr.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, wenn schon alle anderen auf ihn warten mussten, wie es von jeher das Privileg des Präsidenten war, so wollte er aus Respekt vor seinen Kollegen stets pünktlich sein. So auch heute.
Die anderen zehn Mitglieder der Zentralen Militärkommission waren bereits aufgestanden und nahmen Haltung an. Zhou war als Präsident, nach den Regelungen der Kommunistischen Partei Chinas, Oberbefehlshaber der chinesischen Streitkräfte und allen Anwesenden waren ihm vom Rang her unterstellt. Doch seit den Eskapaden unter Mao hatte man sich entschlossen, militärische Entscheidungen gemeinschaftlich zu tätigen – hier in der Zentralen Militär-kommission.
Die anderen Mitglieder waren zu je fünf auf den beiden Seiten eines langen dunklen Konferenztisches platziert. Der Präsident saß an der Stirnseite. Drei Generäle und ein Admiral, die Kommandeure der Luftwaffe und der Befehlshaber der Raketen-Streitkräfte, darüber hinaus der Direktor der Militärlogistik und des Militärpersonals waren anwesend. Zuletzt vervollständigten der Verteidigungsminister und der Chef des Militärgeheimdienstes die Kommission.
Die wichtigsten Personen neben Zhou waren der Verteidigungsminister Wong Li und General Yao Guang, Oberkommandeur der Armee und ranghöchster Militär. Sie saßen links und rechts von Zhou. Je höher der Rang, desto größer die Nähe zum Präsidenten. Links neben Wong Li saß sein Intimus, Shi Deliang, der neben dem Militärgeheimdienstposten auch Vorsitzender der politischen Abteilung der Zentralen Militärkommission war. Auf der gegenüber liegenden Seite saßen General Liu Mu, Kommandeur der Landstreitkräfte und Admiral Leung Panmao, Held der Seeschlacht vor Taiwan, dann noch der Personalvorstand und der Direktor der logistischen Abteilung der Volksbefreiungsarmee. Links von Shi waren da noch der Direktor der Rüstungsabteilung und die Kommandanten der Luftwaffe und der nuklearen Raketeneinheit.
Zhong nahm seinen Platz ein. Daraufhin setzten sich alle anderen und die Sitzung konnte beginnen. Es war, wie in der asiatischen Kultur üblich, so eingerichtet, dass der mächtigste Mann des Raumes zuletzt sprach, ganz im Gegensatz zur westlichen Managerkultur. Somit war es die Aufgabe des zweitmächtigsten Mannes in die Sitzung einzuführen. Wong Li, stellvertretende Vorsitzender der zentralen Militärkommission, und Verteidigungsminister, war dieser Mann.
Für ihn ging es heute um sein Lebenswerk – um alles. Er hatte diesen Krieg vorbereitet und geplant. Würde es gelingen, dann wären alle Herren hier Trittbrettfahrer und würden ihren Beitrag zum Großen vaterländischen Sieg über die europäischen Barbaren hervorheben und ein Stück vom Ruhm wollen. Sollte aber die Unternehmung scheitern, würde man ihm allein die Schuld geben. Der Sieg hat viele Väter … nicht so die Niederlage.
Doch das ließ er jetzt nicht an sich herankommen. Nichts würde ihn in diesem Augenblick erschüttern. Er würde seine Chance um nichts in der Welt verpassen. Er stand auf.
„Herr Präsident, Genossen, heute liegt eine große Verantwortung auf unseren Schultern, eine große Aufgabe. Der Grund, warum wir uns heute entscheiden müssen sehen sie, wenn sie aus dem Fenster blicken.“ Er streckte seinen Arm aus und deutete auf das Fenster an der rechten Seite der Wand.
„Was sie da draußen sehen ist ein Volk, das zugrunde geht. Es ist unser Volk. Unser Volk erstickt.“
Er wandte sich seinen Zuhörern zu.
„Der vom Westen verursachte Klimawandel tötet unser Volk und verwüstet unser Land. Während die Menschen im Westen im Überfluss leben, sind unsere Felder vertrocknet. Unsere Investitionen in Ländereien in Afrika, zur Sicherung der Versorgung unserer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, waren vergeblich. Die Erträge sind aufgrund der auch dort herrschenden Dürren zu gering. Das von den Amerikanern und Europäern verursachte Schmelzen der Polkappen und die immer stärker werdenden Zyklone, überfluten und vernichten unsere Küsten. Unsere Fischereiwirtschaft kann, aufgrund der durch den Westen verursachten Überfischung, kaum mehr etwas einfahren. Die Menschen verhungern. Wir müssen das Wenige was wir zu essen brauchen von den Imperialisten einkaufen, und ihre sogenannten ‚Marktpreise’ sind dabei explodiert.“
Er ging um den Tisch herum und sah seine Kollegen eindringlich an.
„Selbst wenn es genug zu essen gäbe, die Menschen können nicht atmen. Zweihundert tausend unserer Neugeborenen gehen jedes Jahr aufgrund der Luft- und Wasserverschmutzung jämmerlich zugrunde. Wir verlieren über eine Millionen Menschen jedes Jahr vorzeitig aufgrund der Folgen des Klimawandels. Und während wir hier vor die Hunde gehen, leben die Menschen in Europa auf einer grünen Insel der Glückseligkeit. Sie geben sich fortwährend dem Müßiggang, der Frivolität hin und verschwenden ihre Ressourcen ohne Scham. Sie ergehen sich in einer solch würdelosen Degeneration, dass es eine Schande für die Menschheit ist und ohne Beispiel in der Geschichte.“
Er machte eine kurze Pause und ließ die Worte wirken.
„Es kann vor dem Hintergrund des Leidens unseres Volkes und der Verwerflichkeit der Europäer nicht angehen, dass Chinesen sterben und die Europäer prosperieren. Heute müssen wir für unser Volk entscheiden. Es wird die bedeutendste Entscheidung der letzten tausend Jahre sein.“
Er war wieder an seinem Platz angekommen, zog den Stuhl vor und setzte sich. Er verschränkte die Hände vor sich und warf Zhou einen Blick zu.
„Doch bevor wir über die Zukunft entscheiden, sollten wir in die Vergangenheit schauen. Dort sehen wir den Pfad der Geschichte – die Geschichte des chinesischen Volkes. Es ist eine Geschichte des Kampfes gegen die Imperialisten von außen und gegen unsere eigene Schwäche von innen. Die Größe des chinesischen Volkes und seine Bedeutung in der Welt kann man stets an der Größe seiner Führer erkennen, an ihrer Entschlossenheit, ihren Taten, den Leiden und Opfern, die sie auf sich nahmen, um ihrem Volk zu dienen. Vor dem Sieg unserer Partei und der Gründung unserer Volksrepublik 1945 war der größte Feind Chinas stets die Schwäche und die Zerstrittenheit unserer Führer. So ist uns 1885 Vietnam und 1895 Taiwan verloren gegangen. Die Stärke der Kommunistischen Partei Chinas aber ist die Einigkeit ihrer Führung. Geht sie verloren, wird China wieder vom Westen besiegt und gedemütigt. Und wir haben bereits ein Jahrhundert der Demütigung hinter uns gebracht. Bewahren wir jedoch Einigkeit und stehen wir geschlossen zusammen, dann wird das jetzige Jahrhundert geprägt sein vom Ruhme Chinas, dass ein für alle Mal groß und bedeutend sein wird. Zukünftige Generationen werden mit Stolz auf uns zurückblicken.
Vergessen wir nicht, dass diese Nationen, gegen die wir heute in den Kampf ziehen, eben jene waren, die im Boxeraufstand 1900 gegen uns gekämpft und gesiegt haben. Heute werden wir gegen sie und weitere zwanzig Nationen kämpfen und diesmal werden wir siegreich sein, weil wir einig sind und sie sind uneins; weil wir das Recht auf unserer Seite haben und sie im Unrecht sind; weil wir die Technologie haben und sie die technologische Vorherrschaft verloren haben; weil unsere Zeit gekommen und ihre verflossen ist.“
Er legte seine Hände vor sich auf dem Tisch und atmete tief und lang aus. Man konnte die Spannung im Raum wie Elektrizität spüren.
„Heute, in der Stunde unserer größten Not, rufe ich euch auf, eure Pflicht zu tun, und mit Präsident Zhou für unser Volk und seine Zukunft zu kämpfen. Im Kampf der Nationen um das Überleben wird unser Volk als Sieger hervorgehen. Wir werden unsere Feinde mit aller Härte schlagen, werden ihnen keine Gelegenheit zur Rast geben, werden sie in einem einzigen kontinuierlichen Angriff entschieden und für immer vernichten. Wir werden ihr Land unbeschädigt übernehmen und den Chinesen eine neue Heimat geben, wo sie leben und glücklich sein können. Hierfür wird uns große Ehre zuteilwerden und die ewige Dankbarkeit des größten Volkes der Erde.“
Er setzte sich hin.
Für einen Moment war es still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Wong Li sah die Wirkung seiner Worte. In den Gesichtern der Generäle konnte man eine Mischung aus Euphorie und Entsetzen sehen. Alle kannten die Pläne seit Monaten, einige arbeiteten seit der Eroberung Taiwans an den Vorbereitungen. Aber nun, heute, so nah an der endgültigen Entscheidung zu sein, löste bei den Anwesenden eine Furcht vor der eigenen Courage aus.
Zeit für Shi. Er würde ihnen die Angst nehmen. Nichts vertreibt die Furcht so effektiv, wie ein gut durchdachter Plan. Und Shi hatte einen. Das wusste Wong.
„Ich möchte das Wort an Genossen Shi übertragen, der sie in die Details unseres gemeinsamen Plans einführen wird.“
Shi nahm sein Tablet zur Hand und öffnete seine Präsentation. Sie wurde auf einen großen Bildschirm am Kopfende des Tisches, gegenüber vom Staatspräsidenten, übertragen. Alle Köpfe wendeten sich dorthin.
„Genossen, unsere Operation hat den Kodenamen Operation Kǎixuán (Heimkehr). Ziel dieser Operation ist die Eroberung Süd-, West- und Zentraleuropas, sowie Skandinaviens. Davon ausgenommen sind die Baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, sowie die Ukraine, Bulgarien und Rumänien. Diese Territorien werden von unserem Bündnispartner Russland in Anspruch genommen. Im Gegenzug dafür, werden die Russen uns logistisch und militärisch unterstützen. Ohne die Hilfe der Russen wäre ein solch ambitioniertes Unterfangen nicht möglich.
Die Operation gliedert sich in sieben aufeinander folgende Missionen:
1). Mission Xùqǔ (Ouvertüre). In der ersten und der darauf folgenden zweiten Mission geht es um die Schaffung einer Ausgangssituation, die eine punktuelle Landung unserer Sturmtruppen in den Flug- und Marinehäfen der großen Ballungszentren Europas erlaubt. Dies kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, die Wehrfähigkeit der europäischen Streitkräfte zu zerstören und gleichzeitig eine Situation von Chaos und Panik zu erzielen, in der die Organisation von Widerstand unmöglich ist. Es sollen zunächst alle militärischen Einrichtungen aber auch Einrichtungen der Polizei und des Zivilschutzes getroffen werden. Erreicht wird dies durch die breit gestreute Ausbringung einer biologischen Waffe. An tausenden von Orten in Europa werden gleichzeitig Erreger freigesetzt, die vorrangig Soldaten und Ordnungskräfte infizieren und schließlich töten sollen. Die Infektion erfolgt über eine Waschlotion. Sie wird in entsprechenden Spendern von Sanitäranlagen unserer Firma Optosanex platziert. Das Virus wurde zu diesem Zweck so optimiert, dass die Infektion über Risse in der Haut, durch Einatmung des Aerosols beim Händewaschen oder durch Berührung des Mundes mit den infizierten Händen erfolgen kann. Die Inkubationszeit konnte auf zwei bis drei Tage verkürzt werden. Die Letalität beträgt ohne ärztliche Versorgung etwa 80 %. Bei optimaler medizinischer Betreuung muss immerhin noch mit einer Sterblichkeitsrate von 30 % gerechnet werden. Der Tod tritt bei üblichem Krankheitsverlauf, je nach gesundheitlicher Verfassung der Feindperson vor der Infektion, innerhalb von zwei bis vier Tagen ein. Sollte eine Versorgung durch Familienmitglieder ohne Schutzanzüge und Handschuhe erfolgen, wovon in der Regel ausgegangen werden kann, wird mit größter Wahrscheinlichkeit eine Ansteckung aller Familienmitglieder oder Mitglieder der Hausgemeinschaft eintreten.
Aufgrund der europaweiten Marktführerschaft unserer Firma Optosanex bei Sanitärdienst-leistungen für öffentliche Träger, sind wir in so gut wie allen Kasernen Europas, in nahezu allen Behörden, Raststellen, Polizeiwachen, Schulen und Ämtern für die Sanitärreinigung zuständig. Die mit dem Viruspräparat befüllten Waschlotion-Container, werden in Kürze von Agenten aus unterschiedlichen Ländern nach Europa gebracht, da die Haltbarkeit der Viren begrenzt ist. Unsere Kalkulationen laufen darauf hinaus, dass es uns gelingen sollte, mindestens 50 % aller Angehörigen der europäischen Streit- und Ordnungskräfte, der Administration, sowie etwa 5 bis 15 % der allgemeinen Bevölkerung im ersten Schritt zu infizieren. Durch sekundäre Infizierung erwarten wir eine Erkrankung von etwa 45 bis 65 % der Bevölkerung. Wir rechnen mit 30 bis 90 Millionen Toten in den ersten zwei Wochen allein durch das Virus. Durch den unweigerlichen Zusammenbruch aller sozialen Systeme - insbesondere des Gesundheitssystems - kann von einer Gesamtzahl in der Größenordnung 160 bis 230 Millionen Toten ausgegangen werden, Sekundäreffekte miteingerechnet.
General Liu hob die Hand.
„Gibt es keine Gefahr für die Ansteckung des chinesischen Volkes. Können wir sicher sein, dass das Virus nicht ungewollt auch bei uns ausbricht?“
Shi war auf diese Frage vorbereitet.
„Alle Soldaten, Techniker und auch das Flugpersonal des chinesischen Militärs sind geimpft. Die Maschinen kehren nach dem Löschen ihrer Fracht und der Betankung in den europäischen Flughäfen noch auf dem Rollfeld um. Es steigen keine Personen ein und das Flugpersonal steigt auch nicht aus. Sollte ein Mitglied des Flugpersonals trotz Impfung über Symptome klagen, landet das Flugzeug auf einem speziell hierfür eingerichteten Quarantäneflughafen und man nimmt sich dort der Kranken an. Unsere Verwundeten werden vor Ort in Europa behandelt. VIPs werden im Falle einer Verwundung zu den Quarantäneflughäfen gebracht und dort versorgt. An dieser Stelle möchte ich meinen Faden wieder aufgreifen und mit der Vorstellung der zweiten Phase weiter machen.
2.) Die zweite Mission hat den Codenamen Nù (Zorn) und startet fünf Tage nach der Mission Ouvertüre, wenn die Epidemie ausgebrochen ist und sich Chaos und Panik verbreitet haben. Sie wird durch Auftragnehmer vor Ort durchgeführt und hat die Funktion eines Brandbeschleunigers für den Zerfall der öffentlichen Ordnung. Ziel dieser Mission ist zum einen, die Verluste der Zivilbevölkerung durch Chaos und Anarchie zu maximieren. Zum anderen soll die Verteidigungsfähigkeit in den Ballungszentren, soweit überhaupt noch vorhanden, weiter reduziert werden. Unsere Partner vor Ort werden zuvor von unseren Agenten ausgerüstet. Ihre Ziele sind Krankenhäuser und Kliniken, Polizeistationen, Kirchen und alle Zentren des gemeinschaftlichen Lebens. Die Angriffe erfolgen mit Sprengladungen, Handgranaten und Maschinenpistolen. Die noch einsatzfähigen Sicherheitskräfte sollen sich auf die Terrorabwehr konzentrieren und von den Zielen unserer 3. Mission abgelenkt sein, nämlich von den Flug- und den Marinehäfen.“
Zhou unterbrach: „Wie kommen die Waffen denn nach Europa?“
Shi lächelte kalt und antwortete: „Über Piräus. Wir haben den Hafen gekauft und beste Beziehungen zu den Gewerkschaften der Hafenarbeiter entwickelt. Wenn man etwas Geld in die Hand nimmt hat man mit denen keine Schwierigkeiten. Morgen werden wir sechstausend Tonnen Kleinwaffen - über dreihundert Sattelschlepper - vor ihrer Nase löschen und als Unterhaltungselektronik deklarieren. Piräus ist der einzige Hafen Europas, den wir nicht militärisch erobern müssen. Mit ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, fahre ich jetzt fort.“
Zhou nickte.
„Unseren Einschätzungen zufolge werden alle Sozialsysteme binnen kürzester Zeit zusammenbrechen. Kriminelle und gewaltbereite Angehörige der vielen ethnischen Parallelgesellschaften und der Unterschicht werden ihre Zeit der Rache gekommen sehen und zu den Waffen greifen. Die voraussichtliche Anzahl der Toten wird sich auf dreißig bis fünfzig Millionen belaufen. Diese Phase wird mindestens eine Woche dauern und dann langsam abebben.“
3) Gleichzeitig mit Mission Zorn beginnt die Mission Codename Yùdìng (Reservierung). Sie wird von den Spezialeinheiten der Armee in Zusammenarbeit mit der Luftwaffe durchgeführt. Hierzu wird Genosse Xu, Kommandeur der Luftwaffe, später ausführen. Sie hat die Sicherung der Flug- und Marinehäfen Europas zum Ziel. Mit dem Beginn von Reservierung ist die Beteiligung der Volksrepublik China offensichtlich. Mission Ouvertüre und Zorn hatten das Ziel, die Landstreitkräfte und soweit als möglich auch die Luftstreitkräfte der Europäer zu schwächen. Ihre Marine hingegen wird voraussichtlich weitgehend intakt sein. Deswegen beginnt zeitgleich mit Reservierung auch der konventionelle Angriff auf die Seestreitkräfte der europäischen Nationen. Der Angriff erfolgt mit U-Booten, von denen aus Antischiff-Marschflugkörper und –Raketen gestartet werden, um die Seemacht Europas zu zerstören. Die U-Boote sind bereits in Position. Im zweiten Gang werden wir mit Zerstörern, Fregatten und Minensuchern der Südseeflotte nach Europa einlaufen. Sie befinden sich gerade im Indischen Ozean, dem Mittelmeer und dem Atlantik. Als Tarnung fungiert die Einladung der Russen zu einem gemeinsamen Nordmeer-Manöver. Es wurde bereits vor einem Jahr veröffentlicht und sollte zunächst kein Misstrauen erwecken.
4) Die vierte Mission hat den Codenamen Yuè (Sprung) und beinhaltet den Transport der Expeditionstruppen nach Europa, sowie den Ausbau der Marine- und Flughäfen zu unseren Operationsbasen. Es werden kontinuierlich Expeditionstruppen nachgeführt. In der ersten Woche werden drei Millionen Soldaten eingeflogen. Danach alle vier Wochen sechshundert tausend mehr, je nachdem wo Bedarf vorliegt.
5) Die fünfte Mission hat den Codenamen Jú (Partie). Sie beinhaltet zum einen den Einsatz der Roboter zur Ausräumung der Zivilbevölkerung. Wir haben uns entschlossen, diesen unappetitlichen Teil der Operation soweit es geht virtuell durchzuführen.
6) Zug um Zug schreitet mit der Mission Partie auch die sechste Mission mit dem Codename Kuòzhāng (Expansion) voran. Sobald die Expeditionstruppen eine ausreichende Stärke aufweisen und mit Transportfahrzeugen ausgestattet sind, beginnen sie – ausgehend von unseren Brückenköpfen - die Hauptverkehrswege zwischen den von uns eroberten Ballungszentren zu sichern. Das bedeutet, sie werden die Autobahnen einnehmen und somit die bisher isolierten Brückenköpfe der Flug- und Marinehäfen verbinden. Hieraus entsteht ein Netzwerk unserer Macht. Die Maschen dieses Netzwerkes werden eine nach dem anderen von Feindpersonen geräumt und gesichert. Die Roboter werden hierzu innerhalb der Masche ausschwärmen und alle Feinde eliminieren. Ist ein Gebiet weitgehend geräumt, rücken die Expeditionstruppen nach und erledigen den Rest. Gleichzeitig ist ihre Aufgabe die Beseitigung aller kulturhistorischen Zeugnisse europäischen Lebens. Diese Phase wird geschätzt sechs Monate dauern.
7) Die siebte und letzte Mission heißt Zhuǎnhuàn (Überführung) und beginnt mit der Auswanderung der ersten Bevölkerungsanteile aus dem heutigen Heimatland in die zukünftige Heimat. Wir denken, dass in zwei Jahren eine Besiedelung Europas durch 100 Millionen unserer verdienten Angehörigen der Han-Chinesen erreicht sein dürfte. Die letztendliche Zahl unserer Landsleute, die in Europa eine Zukunft finden soll, wird auf 600 Millionen geschätzt. Das dürfte vier bis sechs Jahre dauern. Die anderen Bevölkerungsanteile verbleiben in Kontinentalchina und auf Taiwan.“
Shi nickte in Richtung von General Xu Cheng. Xu stand abrupt auf, verschränkte einen Arm hinter den Rücken. Mit der anderen Hand hielt er seine Notizen vor sich und begann abzulesen.
„Die Luftwaffe ist mit ihren Vorbereitungen fertig. Mission Reservierung beinhaltet die Entsendung von Spezialeinheiten zur Eroberung und Sicherung der wichtigsten internationalen Flughäfen Europas. Unsere Truppen gelangen mit konventionellen Linienflügen zu den Zielobjekten und nehmen sie von den Gates aus ein. Mission Sprung betrifft die Verschiffung von Expeditionstrupps zu den Flughäfen, um die Zielobjekte zu sichern und eine anschließende Expansion durchzuführen. Vor dem Beginn von Mission Zorn, also den Anschlägen in den europäischen Metropolen, werden zwei Dinge geschehen.
Erstens, alle Passagierflugzeuge, die von China aus auf dem Weg nach Europa sind oder auf chinesischem Boden zwischenlanden, werden beschlagnahmt, aufgetankt, mit unserem eigenen Flugpersonal besetzt und als trojanische Pferde mit Spezialeinheiten in Richtung Europa geschickt. Bei Maschinen mit ungenügender Reichweite erfolgt eine Zwischenbetankung in Russland. Wir werden in der ersten Phase etwa sechzig Maschinen mit 30.000 Mann der Spezialeinheiten entsenden.
Als Zweites wird, etwa dreißig bis sechzig Minuten nach dem Start der ersten Welle, eine zweite Welle von Flugzeugen - Militärtransporter mit den Expeditionstruppen und Jagdflugzeuge - auf den Weg gebracht.
Yao Guang unterbrach: „Was geschieht mit den Fluggästen und dem Flugpersonal der Linienflüge?“
Xu war zunächst irritiert. Er wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Ob er die offensichtliche Wahrheit sagen sollte? Shi kam ihm zuvor: „Im Falle von chinesischen Staatsbürgern wird ihnen mitgeteilt, dass vorerst eine Ausreise nach Europa aus Gründen der Staatssicherheit nicht möglich sei. Daraufhin werden sie nach Hause geschickt. Im Falle von Staatsangehöriger neutraler Staaten, im Wesentlichen alle Staaten außerhalb Europas, werden die Personen untergebracht, bis sie zur Weiterreise in ihre Heimatländer aufbrechen können. Im Falle von Europäern, werden diese von den übrigen Passagieren getrennt, abtransportiert und still und ohne Aufsehen liquidiert.“ Shi nickte Xu zu, um ihn zum Weitermachen aufzufordern. Es gab keinen Grund, diese unangenehme Frage noch weiter zu vertiefen.
General Xu Cheng fuhr fort:
„Ja, also konkret sieht der Einsatzplan folgendes Vorgehen zur Sicherung der Flughäfen vor: die etwa sechzig Flugzeuge der ersten Welle, beladen jeweils mit zwischen dreihundert und neunhundert unserer besten Soldaten werden, wie im Flugplan von Eurocontrol geloggt, in den wichtigsten Flughäfen Europas landen. Sobald sie gelandet sind, stürmen sie den Tower und die Administration, besetzen die Zugänge und riegeln den Flughafen nach allen Seiten ab. Besonders ausgerüstete Techniktrupps werden unmittelbar danach, sämtliche Masten des Mobilfunknetzes in der Umgebung der Flughäfen vorübergehend außer Betrieb setzen. Die Steuerwarten des Festnetzes werden bereits zehn Minuten vor der Landung von unserer „Cyber-Warfare-Einheit“ mit einem Virus infiziert und gehen offline. Keine Information kommt rein oder raus. Unsere Truppen kommunizieren über Satellitentelefone mit der Einsatzzentrale. Vor Ort verwenden wir Funkgeräte. Besonders ausgebildete Trupps kümmern sich um die Wartung unserer Maschinen. Jeder ziviler Flugverkehr wird unterbunden.
Etwa eine Stunde nach erfolgter Einnahme der Flughäfen, beginnen die Maschinen mit den Expeditionstruppen zu landen. Die Flugzeuge werden von unseren Spezialeinheiten sofort betankt und, wie Genosse Shi bereits erwähnt hat, ohne Verzögerung zurück nach China geschickt. Die zweite Welle wird innerhalb von vier Stunden etwa fünfzig tausend Truppen nach Europa fliegen. Diese sollten zunächst in dem ausbrechenden Chaos reichen, um die etwa vierzig Flughäfen zu sichern. Innerhalb der darauf folgenden vierundzwanzig Stunden werden rund zweihundertfünfzig tausend Truppen landen und sich daran machen, die Umgebung der Flughäfen zu sichern. Danach, sobald alle Brückenköpfe gesichert sind, werden wir, Welle-für-Welle, alle vierundzwanzig Stunden insgesamt vierhundert tausend Mann einfliegen. Innerhalb von einer Woche haben wir drei Millionen Mann in Europa. Wir werden die Präsenz der Expeditionstruppen alle vier Wochen um zirka 600.000 Mann erhöhen bis die Endstärke von etwa fünf Millionen Mann erreicht ist.“
Zhou nickte. „Wie viele Flugzeuge werden beteiligt sein?“
„Die erste Welle machen die Spezialeinheiten mit sechzig Flugzeugen. Die zweite Welle werden etwa einhundert Flugzeuge sein. Von der dritten Welle an werden alle zwölf Stunden etwa fünfhundert Maschinen landen.“
Leung hob die Hand. „Wer sichert die Flugzeuge und den Luftraum?“
General Xu führte weiter aus. „Über China und Russland erfolgt kein gesonderter Schutz. Auch die amerikanischen Einheiten in Incirlik werden nicht nach Russland hineinfliegen wollen. Sind die Spezialeinheiten gelandet, werden russische Jägerstaffeln aus Leningrad die Sicherung des ost- und mitteleuropäischen Luftraums vornehmen. Sind die westeuropäischen Flughäfen Stockholm, Kopenhagen, Berlin, Frankfurt, München, Wien, Budapest, Madrid, Lissabon und Rom eingenommen, werden zehn unserer Jägerstaffeln zu je acht Jagdflugzeuge vom Typ SAC J-16 EW und J-31 an diesen Flughäfen postiert und nehmen den Kampf mit den westeuropäischen Jägern auf. Die J-16 sind besonders auf die Störung der gegnerischen Elektronik ausgerichtet. Die J-31 verfügen über hervorragende Flugeigenschaften und sind die besten Kampflugzeuge der Welt. Nur die amerikanische F-22 kann ihr gefährlich werden. Und über diese Maschine verfügen die Europäer nicht. Sollte die Biowaffe aber ihr Ziel erreichen, werden keine feindlichen Maschinen aufsteigen können.“
General Leung meldete sich zu Wort:
„Werden die Russen auch ins Kampfgeschehen eingreifen?“
Diese Frage wurde von Wong übernommen. „General, ich habe mit einigen Genossen aus dem Politbüro die Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten übernommen. Die Übereinkunft ist wie folgt: die russische Luftwaffe erobert und sichert die Lufthoheit östlich einer Linie, die durch Berlin und Wien geht, bis wir die Flughäfen in Besitz genommen haben, die notwendig sind um auch diesen Luftraum zu sichern. Alles westlich davon, werden wir von Beginn an selber sichern müssen. Unsere Jägerstaffeln fliegen mit der zweiten Welle ein, werden also sechzig Minuten nach dem ersten Eintreffen der Sturmtruppen auf den westlichen Flughäfen landen, sofort betankt und bei Bedarf neu bewaffnet, mit frischen Piloten aufsteigen und über dem Flughafen den Luftraum sichern. Die Auswechselmannschaften der Jägerstaffeln fliegen in der dritten Welle mit. Jede Schicht fliegt 6 Stunden. Russische Kampfverbände werden vierundzwanzig Stunden nach dem Beginn der Mission Reservierung, die Ukraine und die baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen angreifen und sie in ihren Staatsverband re-integrieren. Des Weiteren haben wir ihnen Rumänien und Bulgarien zugesprochen. Uns gehört der Rest von Europa. Sie werden weder Skandinavien, noch Polen angreifen.“
Die Mitglieder der Kommission quittierten reihum mit einem Kopfnicken.
Zhou wandte sich zu Shi:
„Wird die Biowaffe funktionieren?“
Shi antwortete respektvoll aber entschlossen: „Wir werden sie in allen Kasernen und allen Militärflughäfen, allen Marinehäfen, allen Logistikzentren, allen Kommandozentralen und allen Nato-Niederlassungen gleichzeitig einsetzen. Innerhalb von zwei Tagen nach Ausbringung sollten 40 bis 70 % des Personals tot oder außer Gefechtsbereitschaft sein. Der Rest versinkt in Chaos und Verzweiflung, von den vielen zivilen Behörden, Polizei, Grenzschutztruppen etc. ganz zu schweigen. Innerhalb von einer Woche, das versichere ich ihnen Herr Präsident, ist jeder Europäer nur noch mit seinem eigenen Überleben beschäftigt. Eine koordinierte Verteidigung wird es zu keiner Zeit geben.“
Zhou wandte sich nach rechts Admiral Leung zu.
„Admiral, wie steht es um die Vorbereitung der Marine?“
Leung Panmao stand auf, gradlinig und ganz der perfekte Kriegsheld.
„Die Vorbereitungen der Marine sind abgeschlossen, Genosse Präsident. Fracht und Personal sind bereits seit zwei Wochen auf See. Die Schiffe sollten keinerlei Aufmerksamkeit auf sich ziehen – normale Containerschiffe auf gewöhnlichen Routen. Sie sollten Antwerpen, Hamburg und Rotterdam, Danzig, Genua und zehn weitere Häfen in sieben bis neun Tagen erreichen.
Gleichzeitig mit der Eroberung der Flughäfen beginnen Elitesoldaten von Containerschiffen aus, die Häfen zu stürmen und zu sichern. Damit sollten wir, von der Seeseite her, innerhalb von zwei Tagen vierhundert tausend Truppen und eineinhalb Millionen Tonnen Kriegsgerät in Europa haben. Dass klingt nicht viel, aber es ist alles High-Tech und auf die geringe Verteidigungsbereitschaft der Europäer zugeschnitten. Panzer und Geschütze sind nicht notwendig. Die wesentliche Materialposition sind die Roboter, Luftabwehrraketen, Anti-Schiffs-Marschflugkörper und Anlagen, die zur Übernahme und Abriegelung der Telekomunikation, des Internets und der Satellitenkommunikation notwendig sind. Bisher läuft alles wie am Schnürchen. Kein Grund zur Sorge.“
Zhou nickte und lächelte. Kein Grund zur Sorge hörte er gerne.
Leung fuhr fort: „Nun zur Eliminierung der feindlichen Marine. Wir haben U-Boot-Verbände rings um Europa an den Zielobjekten und entlang der Route dorthin postiert. Mit dem Beginn der Eroberung der Häfen werden alle europäischen Kriegsschiffe in der Region durch unsere SHANG-U-Boote mit ihren modernen Antischiffswaffen vernichtet. Gegenwärtig sind etwa zweihundert Kriegsschiffe des Gegners im Kampfgebiet. Priorität haben die beiden britischen und der französische Flugzeugträger. Danach ihre Fregatten und dann die Zerstörer. Die Küstenwachen und die Minenräumer werden wir in einer zweiten Phase vernichten. Ihre U-Boote werden wir mit unseren YUAN-U-Boote angreifen. Wir rechnen kaum mit Gegenwehr. Unsere informationsbasierten und integrierten Systeme der Kriegsführung sind allem überlegen, was die Europäer haben. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden ist die Marine Europas Geschichte.“
Zhou war zufrieden mit den Aussichten. „Danke Admiral für ihren ermutigenden Bericht.“
Dann schaute der Präsident Yu Changchun an, General und Direktor der Rüstungsabteilung der PLA. Er war als nächster an der Reihe.
„Yu, was machen unsere Roboter. Werden sie wie versprochen einsatzbereit sein?“
Yu Changchun war in der Klemme seines Lebens. Seit Wochen fürchtete er sich vor nichts so sehr, wie vor dieser Frage: Sind die Roboter einsatzbereit?
Er hatte seine Leute angetrieben die KI-basierte Steuerungseinheit zur Reife zu entwickeln. Aber sämtliche Tests waren gescheitert. Das visuelle Mustererkennungsprogramm des Steuerchips funktionierte nicht verlässlich. Die Roboter schossen auf alles was sich bewegte und konnten Freund und Feind nicht unterscheiden. Die Flugeigenschaften, Reichweite, Tötungswirkung, alle waren hervorragend. Aber die Mannschaften, die die Roboter re-munitionieren und betanken sollten, gerieten trotz ihrer Infrarot-Erkennungsmarken immer wieder unter Feuer. Es hatte schon zahlreiche Tote und Verletzte gegeben.
Deswegen hatte Yu, bereits vor einem Jahr, auf einen Plan-B gesetzt. Die Roboter sollten, statt eigenständig zu fliegen, nunmehr als Drohne funkgesteuert betrieben werden. Hierzu hatte man den Steuerungschip durch eine Funksteuerung ersetzt. Eine Umrüstung auf Automatikbetrieb war jederzeit schnell möglich, sollten die Entwicklungen noch abgeschlossen werden können.
Yu hatte, um genügend Drohnenfahrer zu rekrutieren, im ganzen Land Wettbewerbe ausgerichtet. Es galt die besten Ego-Shooter unter Chinas Gaming-Enthusiasten zu finden. Und China hatte davon über hundert Millionen. Die Gewinner hatte man zunächst mit Preisen wie Abonnement-Gutscheine für Szenemagazine und Kleinbeträge abgespeist. Aber nach einigen Wochen wurden sie von Offizieren des Geheimdienstes aufgesucht und rekrutiert. Das alles erfolgte ohne Aufsehen. Und wenn irgendjemand etwas mitgekriegt haben sollte, war der Verdacht wahrscheinlich auf die Cyber-Warfare-Einheit des Militärs gefallen.
Die etwa hunderttausend Gamer waren auf das ‚echte’ Töten umgeschult worden. Das Steuersignal der Drohne würde von Terminals, wie man die Container mit den Steuerungsrechner und den jeweils zwölf Steuerplätzen nannte, über das einheimische Mobilfunknetz geleitet. Es war auch möglich, einen lokalen Funkmast neben dem Terminal aufzustellen, wenn keine Netzabdeckung über Mobilfunk möglich war.
Zwar wären Roboter die beste Lösung für einen vollständig virtuellen Genozid gewesen. Aber mit einem Drohnenfahrer war die ganze Angelegenheit immer noch sehr virtuell. Im vier-Schichten-Betrieb würde man auch sehr viel Arbeit geleistet bekommen. Natürlich hatte Wong Li davon Wind bekommen, wie auch Shi Deliang. Aber Yu hatte ihnen versichert, dass der Einsatz nicht in Gefahr wäre. Nun musste Yu seinen Plan-B hier gut verkaufen, sonst drohte ihm das Gefängnis auf Lebenszeit, ... oder das Ende seiner Lebenszeit.
Wong Li schaute Yu kalt an. Er würde bestehen. Das Ansehen und das Überleben von Yus Familie hing von seinem Erfolg ab. Yu spürte den eisigen Blick Wongs, der auf ihm lastete. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er musste anfangen.
„Die Roboter, Herr Präsident, sind einsatzfähig. Wir werden als Schulungs- und Kalibrierungsmaßnahme Drohnenfahrer mitnehmen. Der Grund hierfür ist, dass wir in der ersten Lernphase die künstliche Intelligenz der Roboter mit Rohdaten füttern werden. Diese gewinnen wir aus Einsatzmustern im manuellen Betrieb durch einen menschlichen Piloten.
In der zweiten Phase werden wir Drohnenbetrieb und Roboterbetrieb parallel aufrechterhalten, um Schwachstellen der Roboter im Realeinsatz so schnell wie möglich zu erkennen und durch Aufspielen von geeigneten Einsatzmustern, die im Drohnenbetrieb gewonnen wurden, zu beheben. So können wir möglichst schnell eine umfangreiche taktische Betriebsbibliothek aufbauen. Die Roboter sollen zu Beginn des Realeinsatzes von den intuitiven Fähigkeiten unserer besten Drohnenfahrern lernen können, bis sie soweit sind und eigenständig ihr Optimum erreichen. Das wäre dann die dritte Phase – optimierter und vollständiger Roboterbetrieb mit maximaler Effektivität. In dieser Phase werden die Roboter durch ihre eigenen Einsätze lernen. Zur Aktualisierung wird das Muttersystem, bei jedem Tankstop der Roboter, aufgezeichnete Einsatzprofile zur Auswertung herunterladen und neue Updates mit verbesserten Einsatzmustern aufspielen, sodass die Effizienz bei allen Robotern im Betrieb stets am Maximum ist.“
Zhou runzelte die Stirn.
„Ich dachte der Plan wäre gewesen, eine vollständig automatische Fahrweise der Flugroboter von Beginn an durchzuführen?“
Yu tupfte sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn.
„Das ist auch nach wie vor der Plan, Genosse Präsident. Wir haben nur, um das Risiko zu minimieren, eine Redundanz geschaffen: für den Fall, dass die Einsatzeffizienz im Roboterbetrieb aus Gründen, die wir derzeit nicht vorhersehen können, zu wünschen übrig ließe, wird die Drohnenfahrt genutzt, um Besserung zu erzielen. Bei einem so gewagten Plan hielte ich eine solche Rückversicherung für das richtige Vorgehen.“
Zhou blickte skeptisch drein.
„Wird dies zu Verzögerungen führen?“
„Alles ist bereits verschifft. Dreihundert tausend Roboter, sieben tausend Terminals, eh ... also die Leitwarten, sämtlich Ersatzteile und Werkzeuge, Munition, Spezialbenzin, was wir an Geräten brauchen, um den Funk einzurichten ...alles ist auf dem Weg. Die Drohnenfahrer sind ausgebildet, auf den Containerschiffen untergebracht und warten auf ihren Einsatz. Die Wartungseinheiten stehen bereit. Keine Verzögerungen, Genosse Präsident. Keine!“
Yu hoffte inständig, niemand würde jetzt noch in den Details bohren, sonst hätte er eventuell noch lügen müssen, statt nur über-optimistisch die Realität zu verzerren. Für Falscheinschätzungen, Fehler oder Unfähigkeit bekam man in China als altgedienter Kommunist lebenslangen Hausarrest. Für das Belügen des Staatspräsidenten aber bekam man die Kugel.
Zhou signalisierte General Yao, dass seine Zeit zu sprechen gekommen war. Der General nickte ehrerbietig, stand auf, zog seine Uniform gerade und setzte zu seinem Vortrag an, während sich Yu Changchun, von der Qual erlöst, setzte.
„Ich danke meinen Vorrednern für ihre Erläuterungen. Der Verteidigungsminister, Genosse Wong, sprach mir in vielen Belangen aus dem Herzen. Auch ich leide mit unserem Volk und empfinde die katastrophale Umweltsituation - ebenso wie er - als unerträglich. Heute stehen wir in einer großen Pflicht. Wir müssen für das chinesische Volk den richtigen Weg finden. Wir müssen den Mut und die Tatkraft, aber auch die Klugheit und die Besonnenheit aufbringen, das Richtige zu tun.“
Wong Li wusste was kommen würde und ballte unter dem Tisch seine Faust.
Yao fuhr fort: „Unser aller Lehrmeister, Sun Tzu, hat hierzu folgende Grundregel für den Sieg festgelegt: ‚Derjenige gewinnt, der weiß, wann man zu kämpfen hat und wann nicht.‘ Diese Weisheit sollten wir bedenken, wenn wir uns heute entscheiden.“
Er schaute Shi Deliang an. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie gerne Shi ihn jetzt erschießen würde, wie er allergrößte Mühe hatte, an sich zu halten. Seine Gelegenheit würde in ein paar Minuten kommen. Aber jetzt war er, Yao, dran.
„Die heutige Entscheidung ist zunächst simpel – sollen wir gegen den Westen Krieg führen oder sollen wir den mühevollen und oft erniedrigenden Weg der Diplomatie gehen? So einfach die Entscheidung sich darstellen lässt, so gravierend sind die Folgen für unser Volk.“ Er holte tief Luft.
„Der Krieg lässt keine Mäßigung zu. Er tendiert immer zum Äußersten. Wir planen Völker zu vernichten. Wir planen, sie mit äußerster Härte und ohne jede Gnade oder Mitgefühl zu töten. Ironischer Weise war es ein Europäer, Niccolo Machiavelli, der die Regel aufgestellt hat, dass man Freistaaten entweder vernichten oder seine Residenz dort aufschlagen soll. Wir wollen beides tun: die Bevölkerung vernichten oder vertreiben und unsere Residenz dort aufschlagen. Wir beenden die Geschichte eines Kontinents und beginnen unsere eigene Geschichte in einer neuen Heimat. Wenn wir aber die Vernichtung von Männern, Frauen, Kindern und Greisen planen, sind wir imstande die Antwort des Schicksals zu ertragen?
Wir sehen uns in einem sozialdarwinistischen Kampf der Gesellschaften. Und in der Geschichte waren es bisher immer wir, die gedemütigt wurden. Deswegen wähnen wir uns heute im Recht. Aber können wir deswegen Völker vernichten? Beschwören wir nicht damit unsere eigene Vernichtung herauf?“
Er blickt um sich in die Runde.
„Wenn die Europäer erst einmal begriffen haben, dass es um ihre Existenz geht, dann sollten wir uns auf den härtesten, grausamsten und entschiedensten Abwehrkampf einrichten, den man sich vorstellen kann. Meine Aufgabe als General ist, den Feldzug in allen seinen Möglichkeiten mit meinen Kollegen aus dem Militär zu durchdenken. Wenn wir unseren Feind kennen und wissen wie er zu agieren pflegt, können wir seine Schritte vorausberechnen und uns entsprechend einstellen. Wie das Wasser sich ohne Mühe und vollständig an das Flussbett anpasst, so müssen wir uns an unseren Gegner anpassen.“
Er schaute an Shi vorbei, nach rechts zu den anderen Militärs.
„Was werden die Europäer tun, um sich zu wehren? Von wem werden sie Hilfe erbitten? Wird sie gewährt werden? Wird ihr Widerstand zusammenbrechen? Viele Fragen sind offen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden werden.“ Er fasste den Direktor der Rüstungsabteilung ins Auge:
„Yu, können wir sicher sein, dass alle Flugroboter in genügender Anzahl vor Ort gebracht, gewartet und ersetzt werden können?“
Sein Blick wanderte weiter nach rechts zum Kommandeur der Luftwaffe.
„Xu, können wir sicher sein, dass unsere russischen Genossen, die Lufthoheit schnell erobern und dauerhaft verteidigen können, bis jeglicher Widerstand auf dem Boden gebrochen ist? Und du, Meng“, er wandte sich an den Kommandeur der Raketenstreitmacht, „können wir sicher sein, dass die nuklear bestückten Raketen der Briten und der Franzosen rechtzeitig in unsere Gewalt gebracht oder zerstört werden, bevor sie auf unsere Heimat abgeschossen werden können? Können wir alle ihre Satelliten zerstören? Und zuletzt du Shi, wird die biologische Waffe den gewünschten Effekt haben? Werden alle Sozialsysteme zusammenbrechen? Panik, Anarchie, Mord und Totschlag ausbrechen und die Menschen verzehren?“
Er wandte sich ab, blickte auf seine Hände, die er vor sich auf dem Tisch abgelegt hatte. „Tausend Fragen bevölkern meinen Kopf, aber noch größer ist ein Zweifel in meinem Herzen. Ist es so, dass die Europäer wirklich die Feiglinge und Schwachköpfe sind, wie wir es vermuten? Völker, die tausende von Jahren unablässig gegeneinander Krieg geführt und über fünf Jahrhunderte hinweg die Welt beherrscht haben. Sind diese Völker innerhalb von nur zwei Generationen wirklich so unfähig geworden, dass wir ihre Chancen auf die Verteidigung ihrer Heimat so gering schätzen?“
Er atmete lange ein und schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht glauben. Unser Sieg ist schon möglich, doch ich denke unsere Männer werden einen furchtbaren Kampf eingehen müssen, schlimmer als wir ihn uns je vorstellen können.“
Ein leises Raunen ging im Kreis der Militärs um. Dass der ranghöchste Offizier Zweifel am Erfolg der Kampagne äußern würde, das hatten die Anwesenden nicht vermutet. Die Stimmung war im Begriff, in eine gefährliche Richtung zu kippen.
Zhou wusste, dass er jetzt agieren musste, sonst könnten Zweifel überhand nehmen. Er nickte in Richtung von Shi Deliang. Er musste es jetzt richten. Shi lies keine Sekunde verstreichen.
„General Yao hat unsere Herzen mit Furcht erfüllt, wo er als oberster militärischer Führer eigentlich unseren Mut und unsere Entschlusskraft stärken sollte. Er hat Zweifel an der Schnelligkeit unseres Erfolgs genährt und ein Zaudern an den Tag gelegt, wie es eines so großen Feldherrn unwürdig ist.“
Er stand auf und sah dem General ins Auge.
„Er hat erstens nicht bedacht, dass wir das Wichtigste, nämlich das Element der Überraschung, auf unserer Seite haben. Er hat zweitens, ebenso wenig bedacht, dass wir doppelt so viel industrielle Wirtschaftsleistung haben, wie die Europäer. Über drei Jahrzehnte haben ihre Unternehmen uns, für ein paar Prozent mehr Ertrag, quasi ihre ganze produzierende Industrie übertragen. Drittens, die Technologien konnten wir von ihnen stehlen, weil es ihnen egal war. Sie glaubten, wir könnten sie nicht weiterentwickeln, doch wir haben es getan. Heute, haben nur die Amerikaner die Fähigkeit, uns Paroli zu bieten. Und viertens, er hat nicht bedacht, dass wir dreimal mehr Menschen haben. Wir könnten in Kürze zehn Millionen Männer unter Waffen stellen. Die Europäer haben zusammen genommen nicht einmal ein Viertel davon – und das, um einen Kontinent mit 28 Staaten zu verteidigen.“
Er schnaubte verächtlich.
„Unser Feind ist schwach, zerstritten, unvorbereitet und völlig ahnungslos. Unsere Vorbereitungen in Europa sind unbemerkt vonstattengegangen. Und wenn wir angreifen, werden wir mit ungeheurer Härte und Entschlossenheit zuschlagen. Wir werden sie direkt im Inneren, ohne Vorwarnung und ohne jede Skrupel vernichten.“
Er war jetzt richtig in Fahrt: „Der ehrwürdige General hat Sun Tzu angeführt. Das ist ehrenvoll und würdig. Auch ich möchte Sun Tzu zitieren, der sagte: ‚der wahrlich fähige Führer wird die Truppen des Feindes unterwandern, ohne gesehen zu werden und ohne Gewalt. Er nimmt Städte ein, ohne sie zu belagern. Er übernimmt Königreiche ohne endlose Feldzüge.‘ Genau DAS werden wir - in bester chinesischer Tradition - tun. Bevor sie ahnen, dass ihnen ein Krieg bevorsteht, werden sie bereits vernichtend geschlagen sein. Wir werden ihren Kontinent unbeschadet übernehmen, in ihren Häusern wohnen, auf ihren Straßen fahren und ihre saubere Luft atmen.“
Sein Schlussplädoyer begann Gestalt anzunehmen.
„Unser Volk ist bereit für diesen Krieg. Unsere Propaganda hat gefruchtet. Das Volk sieht die Schuld für ihr Leiden in den Verfehlungen des Westens und sinnt auf Rache. Ich fasse zusammen: wir haben das Element der Überraschung, die Europäer sind gelähmt in ihrer Uneinigkeit und Zerstrittenheit. Sie haben sich, im Anflug grotesker Selbstüberschätzung, mit ihrer Schutzmacht den USA überworfen. Wir haben die industrielle, technologische und die demografische Überlegenheit. Wir haben uns Jahre auf diese Kampagne vorbereitet und unser Plan ist perfekt. Noch bevor sie verstanden haben, wer sie angreift, wird die Hälfte von ihnen tot sein. Und unter dieser Hälfte, werden alle ihre Soldaten sein. Wer zurück bleibt, wird nicht imstande sein zu kämpfen. Degeneriert wie sie sind, werden sie es wahrscheinlich noch nicht einmal probieren.“
Shi Deliang setzte sich, nahm eine Zigarette aus seinem Etui und steckte sie an. Wong Li sah besinnlich den Rauchschwaden hinterher, die langsam durch den Raum zogen. Wong war mit Shi zufrieden. Er hatte es dem alten Sack ordentlich eingeschenkt. Er hatte ihn isoliert und niemand würde sich mit ihm jetzt solidarisieren. Noch nicht einmal sein Waffenbruder Liu würde ihm zur Seite springen. Auch für Liu stellte diese Kampagne die größte Chance seines Lebens dar. Wong dachte sich, wenn Liu diese Nummer gut durchzieht, würde er Yao beerben können. Wenn er also nicht komplett verblödet ist, spielt er nach unserer Musik und darf die Glorie für sich beanspruchen. Er schaute Liu an und lächelte kalt.
Lius Blick traf auf den von Wong, und er konnte Wongs Gedanken geradezu lesen. Yao hatte zwar Recht, es war ein großes Wagnis. Aber Wong und Shi hatten das Momentum auf ihrer Seite und Liu fielen keine besseren Alternativen ein. Oder überhaupt einen Weg, ihnen Paroli bieten zu können.
Zhou nahm den grübelnden Liu wahr und entschied sich, ihn zur Rede zu stellen: „Liu, wollen sie etwas hierzu beitragen?“ forderte er den General auf.
„Nur, dass ich keine Zweifel an der Operation Heimkehr habe, weder an dem Sinn, noch an der Durchführbarkeit der Kampagne. Ich bin den Plan mit meinen Kollegen in allen Details immer wieder durchgegangen. Er ist perfekt. Wir werden Opfer erbringen müssen, dass ist in jedem Krieg so. Aber an unserem Sieg habe ich nicht den geringsten Zweifel.“
Yao schaute Liu fassungslos an. Liu wich seinem Blick aus.
Yao erkannte die Ausweglosigkeit seiner Lage. Er war kalt gestellt. Dies würde das letzte Mal sein, dass er an einer Sitzung der Zentralen Militärkommission teilnahm. Aber das war nicht wichtig. Schlimmer war, dass sein Land in einen gefährlichen Krieg stürmte. Dieser Krieg gefährdete den schwer errungenen Wohlstand und zerstörte die Möglichkeit auf Koexistenz mit den anderen Ländern in einer friedlichen Welt. Er erwartete das Schlimmste, den schlimmsten Krieg aller Zeiten. Er sank in sich zusammen.
Staatspräsident Zhou lächelte. Er war zufrieden. Es war jetzt an ihm das Bündel zu schnüren. Es gab kein Zurück mehr. Schon seit langer Zeit gab es eigentlich kein Zurück mehr. Der Würfel war gefallen.
Staatpräsident Zhou Yinhong erhob seine Stimme: „Das Wohl der Kommunistischen Partei ist unauflöslich mit dem Wohl des chinesischen Volkes verbunden. Wir sind die militärische Führung und ich bin der politische Führer dieser Partei. Das Politbüro steht in dieser Sache hinter mir. An uns ist jetzt zu entscheiden.
Über kurz oder lang hat unser Volk keine Zukunft mehr in China. Der Boden hier kann nur noch wenige Menschen ernähren und die Bedingungen zum Leben werden von Tag zu Tag schlimmer. An diesem Ort ist das Schicksal des chinesischen Volkes mit seinem Untergang besiegelt.
Wir befinden uns heute in einer zunehmend verdorrenden Welt, in der die Völker um das nackte Überleben kämpfen. Wie nie zuvor, wird das Recht weiter zu leben bestimmt durch das Recht der Stärke. Heute sind WIR in der Position des Stärkeren. Wäre diese Situation vor hundert Jahren eingetreten, so würde es das chinesische Volk sein, dass dem Untergang geweiht wäre. Wir entscheiden heute, so wie die Europäer vor hundert oder tausend Jahren entschieden hätten. So wie jedes Volk seit dem Anbeginn der Zeit entschieden hätte, nämlich für sein eigenes Überleben zu kämpfen. Und im Kampf darf man weder zögern noch zaudern. Was getan werden muss, wird am besten schnell getan - ohne Zweifel - ohne Aufschub. Hiermit leite ich zur Abstimmung über. Jeder, der für die Durchführung von Operation Heimkehr ist, hebe die Hand.“
Neun Hände gingen nach oben. Yaos blieb unten.
Zhou nickte zufrieden und erhob sich. Alle standen auf.
„Verteidigungsminister Wong, General Yao, ich ordne hiermit an, dass in Übereinstimmung mit dieser Kommission, unverzüglich mit der Operation Heimkehr begonnen wird. Genossen, meine Herren, ich danke ihnen für ihre Arbeit und wünsche uns Allen gutes Gelingen.“
Er neigte sein Kopf vor dem Gremium, trat dann einen Schritt zurück und begab sich zur Tür. So ging er hinaus, und das Schicksal nahm seinen Lauf.