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Aachen Samstag, 13.09.2025 11:14 Uhr CET

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Kurt wartete unten im Flur. Er hatte sich bereits vor einer Viertelstunde fertiggemacht, doch seine Frau war immer noch oben im Bad. Kurt war sich dessen bewusst, dass es ein Schicksal war, dass er mit allen verheirateten Männer auf der Welt teilte. Tanja und er hatten am Morgen ihre Wochenendbesorgungen erledigt und waren für den Rest des Tages auf eine Feier eingeladen. Kurt stand da in seinem dunkelgrauen Schurwollanzug, dem Autoschlüssel und dem Geburtstagsgutschein in der Hand. Warum Frauen auch immer so lange brauchen, um sich fertig zu machen. Es war doch nur der 70. Geburtstag von Onkel Ferdinand, keine Hochzeit … dachte er im Stillen.

Die Familie würde da sein und ein paar der unvermeidlichen Honoratioren. Schließlich war Ferdinand Professor und im Vorstand des Hegerings, des Gesangsvereins und wahrscheinlich noch in drei bis vier weiteren Vereinen. Dennoch war sein Geburtstag eine recht zwanglose Angelegenheit und es gab keinen Grund so lange vor dem Spiegel zu verweilen.

„Liebes, bist du bald fertig?“

„Klappe halten da unten. Du bist verheiratet und hast zu warten. Jetzt lass mich in Ruhe, sonst dauert es noch länger!“

Kurt lächelte müde. Wenigstens war man sich über seine Rolle einig.

Zwanzig Minuten später saßen sie im Auto. Ferdinands Haus lag ganz in der Nähe des Kaiser Friedrich Parks am Brüsseler Ring in Aachen, in einem alten und gediegenen Villenviertel. Es war der Familiensitz der Houbens. Konrad Houben, Kurts Vater, war nach seiner Hochzeit ausgezogen und hatte seinem älteren Bruder Ferdinand das Haus der Eltern überlassen. Er nannte es immer noch „das Verlies“, denn es war recht dunkel und verströmte die muffige Atmosphäre einer vergangenen Epoche. Es ähnelte fast einer Burg. Eine dreistöckige Villa mit kleinen Fenstern, und einem Schieferdach.

Das Haus war viel zu groß für Ferdinand allein. Seine Frau war vor mehr als 20 Jahren gestorben und er hatte nie wieder geheiratet, obwohl sich einige Kandidatinnen gefunden hätten. Eine Haushälterin ging ihm in den täglichen Dingen des Lebens zur Hand. So konnte er sich voll und ganz seinen Leidenschaften hingeben: dem Lehrauftrag an der Uni, seinen Vereinen und natürlich der Jagd. Heute jedoch war die Familie dran.

Kurt parkte den Wagen am Rand der aufsteigenden Straße. An der Anzahl der Autos konnte man sehen, dass die Feier bereits begonnen hatte. Kurt nahm Tanja bei der Hand und sie gingen gemeinsam den steilen Weg zum Eingang des Familiensitzes hoch. Am Eingang hielt Kurt inne, musterte seine Frau liebevoll und fragte: „Bereit?“

Tanja lachte und antwortete: „Auf in die Löwengrube!“

Kurt klingelte. Es war eine Klingel, wie aus einem alten Krimi von Edgar Allen Poe, Marke „altes englisches Aristokratenschloss“ - Ding-Dong.

Tanja musste jedes Mal kichern, so kitschig war sie.

Hilde, die Haushälterin kam zur Tür.

„Hallo Kurt, hallo Tanja. Ferdinand und die anderen sind oben im Salon.“

Kurt ging voraus, die steile Treppe hoch ins erste Obergeschoss. An der Wand hingen, wie konnte es anders sein, die Insignien eines alten Familiensitzes: Gemälde und liebevoll eingerahmte Fotografien längst verblichener Vorväter mit verzwirbelten Schnurrbärten und Vormütter mit Hauben und Trachten. Dazwischen, wo Platz war, die Trophäen: Gehörne vom Rehbock, Hirschgeweihe, Gewaff vom Schwarzwild und Schnecken von Muffelwidder.

„Was wirklich noch fehlt ist ein Elchkopf!“ stichelte Tanja.

„Sag’s ihm nicht, sonst werden wir nächsten Sommer nach Finnland beordert und du kannst Bali ein weiteres Jahr verschieben.“, ermahnte Kurt seine Frau nur halb im Scherz.

Kurt war mit Ferdinand bereits zweimal nach Finnland zur Jagd gewesen. Ferdinand hatte einen alten Freund aus dem finnischen Finanzministerium, Matti Vaaltari. Sie kannten sich bereits aus einem Austauschprogramm. Matti und Ferdinand hatten sich an der Hochschule in Köln getroffen und Ferdinand hatte Matti gleich zu Beginn mit auf die Jagd genommen. Von da an waren die beiden unzertrennlich und jede freie Minute auf der Pirsch. Kein Mensch wusste wie sie ihre Prüfungen bestanden hatten, und das auch noch gut. Matti, der vorher nicht gejagt hatte, war fortan mit Passion Jäger und ergatterte sich vom ersten richtigen Geld ein Revier in Ost-Finnland im Grenzbereich zu Karelien. Und so trafen sie sich alle paar Jahre, mal in Finnland und mal in der Eifel. Eine alte und bewährte Jägerfreundschaft war entstanden.

Kurt und Tanja gingen den Flur entlang. Die Tür zum Salon stand offen und es drang ein heiteres Stimmengewirr hinaus. Kurt trat voraus in den Raum.

Links standen sein Bruder Klaus und sein Vater Konrad. Kurt wappnete sich für das was jetzt kommen würde. Tanja ließ er zu seiner Mutter Evelyn entfliehen.

Klaus sah ihn zuerst. „Brüderchen, hat dich die Wettbewerbsbehörde noch nicht wegen deiner dubiosen Gasimportverträge vorgeladen?“

Kurt nahm die Herausforderung an. „Und das von einem Rechtsverdreher wie dir. Wie viele Ganoven hast du denn diese Woche vor einer gerechten Strafe bewahrt." Sie schüttelten sich die Hände und lachten. Konrad stieß dazu: „Kurt, da schau einer an. Nur drei auf einen Streich, du lässt nach. MEIN Sohn, hätte sie alle vier gekriegt!“

Kurt seufzte. So war das immer in seiner Familie.

„Papa, ich musste doch eine für dich übriglassen. In fünf oder sechs Jahren ist die Sau so alt und tatterig, dass sogar du eine reale Chance hast, sie auf der Kirrung zu strecken.“

Sein Vater blickte ihn trotzig an. Bei Konrad wurde aus Spaß immer schnell Ernst.

„Was soll das denn heißen, bitteschön? Bleiben für mich am Ende nur noch alte Sauen übrig. Ich bezahle seit Jahren die Pacht und will, dass du mir etwas Kapitaleres erspähst, statt nutzlos im Wald herum zu pirschen und kleine Schweinchen zu strecken. Ich will endlich meinen Lebenshirschen erlegen.“

Kurt wusste dass es wenig Sinn hatte, das Spiel noch weiter mitzuspielen. Er fühlte sich zwar versucht seinem Vater die Stirn zu bieten, aber das würde ihn nur noch weiter reizen. Kurt war eben nicht der Lieblingssohn seines Vaters. Damit hatte er sich schon vor langer Zeit abgefunden. Er seufzte, winkte ab und sagte mit einem milden Lächeln: „Ich gehe dann mal dem Geburtstagskind gratulieren.“

Kurt wendete sich von den beiden ab und ging auf die Gruppe von Senioren zu, die sich vor der Bar postiert hatte. Ferdinand stand da im Kreis alter Freunde. Da waren Jäger, die selbst auf einen Geburtstag noch in Knickerbocker kamen. Anzugträger, die die Hände steif auf dem Rücken verschränkt hatten und nach Richtern oder Notaren aussahen. Damen, die zumeist zu einem der Herren gehörten. Der solarium-gebräunte, ewig grinsende, stellvertretende Bürgermeister durfte auch nicht fehlen. Er war gerade mit Ferdinand im Gespräch und es hatte den Anschein, als wolle er dem Onkel ein Auto verkaufen. Ferdinand war ein von Natur aus ruhiger und geduldiger Mann. Kurt wusste, dass ihm dieses Netzwerken zwar keine große Freude machte, aber seine Stellung brachte Verpflichtungen mit sich und Ferdinand stellte sich mannhaft.

Dann erblickte er Kurt aus dem Augenwinkel. Ein heiterer Zug flüchtete über sein Gesicht. „Herr Lienen, darf ich sie einen Augenblick vertrösten. Mein Neffe ist gerade gekommen. Ich möchte ihn begrüßen.“

„Aber gewiss doch, Herr Professor“, entgegnete der Bürgermeister etwas verdattert.

Ferdinand kam auf Kurt zu. Er blickte ihn über seine Brille hinweg freundlich an.

„Waidmannsheil, mein lieber Kurt. Drei Sauen auf einen Streich. Du hast es nicht verlernt. Den Abschuss im Revier werden wir damit bald erfüllt haben.“

Kurt entgegnete: „Ach ja Onkel, du weißt wie das ist, mit den Sauen. Selbst wenn du sie alle aus deinem Revier schießen würdest, ist nächste Woche eine neue Rotte da. Übrigens, alles Gute zum Geburtstag. Tanja übergibt dir noch dein Geschenk.“

Ferdinands Augen funkelten munter. „Wo ist denn deine schöne, junge Frau?“ Kurt neigte den Kopf rechts hinüber. Dort auf dem alten Biedermeiersofa saß Tanja mit Kurts Mutter Evelyn - die beiden Frauen in seinem Leben: seine Frau Tanja, die er liebte und seine Mutter, die er abgöttisch verehrte.

„Dort drüben, Onkel. Versuchs erst gar nicht sie vom Tratschen abzubringen, Geburtstagskind oder nicht. Vielleicht wird sie nach dem Dessert Zeit für dich haben. Zuerst jedoch, sind familiennachrichtendienstliche Ermittlungen anzustellen.“

Beide lachten und Ferdinand goss Kurt einen Sherry ein.

Als Kurt Tanja das erste Mal nach Hause brachte, hatte seine Mutter sie nach kürzester Zeit ins Herz geschlossen und entschieden, dass Kurt sie heiraten würde. Alles andere kam überhaupt nicht in Frage und sein Vater witzelte immer, dass eine Scheidung von Tanja auch gleichzeitig eine Enterbung mit sich bringen würde. Hier waren zwei Frauen, die – so drängte es sich jedem Betrachter auf – bereits in einem früheren Leben Busenfreundinnen gewesen sein mussten. Ein Herz und eine Seele, verbunden im inniglichen Gespräch. Es ging um Familie, Arbeit, Gerüchte, Kochrezepte, Ärzte, Modegeschäfte, Bioläden und natürlich ums Reiten. Beide ritten für ihr Leben gerne und ab April war der frühe Sonntagmorgen fest für den gemeinsamen Ausritt reserviert. Dies passte gut, da die Männer ab Mai, Sonntagsmorgens zur Jagd gingen. Man versammelte sich im Anschluss um 11:00 Uhr zum gemeinsamen Gang in die Messe und kehrte dann in eine Gaststätte ein. So war alles geregelt, in der Familie Houben.

Kurt wusste, dass seine Frau vorerst hermetisch abgeriegelt war und dass Ferdinand sich um seine Gäste kümmern musste. Er hatte keine Lust sich zu Konrad und Klaus zurück zu gehen, denn es ging bei ihren Gesprächen wie immer um Fälle. Alles kreiste bei ihnen immer nur um ein Thema. Kurt war zwar auch Anwalt, aber seine Spezialisierung auf Energierecht und Regulation bot wenig gemeinsamen Nenner mit seinem Vater oder seinem Bruder. Kurt war so unterschiedlich zu den beiden. Beide hatten ein sehr großes Ego, wobei es beim Bruder ein wenig in Narzissmus umschlug und Konrad mehr zum alten Patriarchen neigte. Der beruflicher Erfolg seines Vaters tat ein Übriges, um ihm eine gewisse Unnahbarkeit zur geben. Kurt schlug mehr nach seiner Mutter. Sie war Belgierin aus Kelmis, eine gebürtige Pétange, ein ‚grenznaher Import’, wie Konrad immer provokant zu sagen pflegte. Aber Evelyn hatte auch ein großes Selbstbewusstsein und sie konnte ihrem Mann sehr gut Paroli geben. Energie und Humor waren ihre mächtigsten Waffen wenn Konrad, wie des Häufigeren, sich in seiner Selbstbeweihräucherung verlor. Dann lachte sie ihn so lange aus, bis er zunächst erbost, dann brüskiert zuletzt selbst in das Lachen mit einstimmte. Denn sie lachte immer nur über seine kleinen Schwächen. Durch Evelyn hatte er gelernt, sie leichter, nicht so ernst, zu nehmen. Seine Besserwisserei, seine Eitelkeit, und die Tendenz sich selbst zu wichtig zu nehmen. Konrad hatte zwar von Hause aus Status und Erfolg in die Wiege gelegt bekommen, aber die Lebensfreude und die Leichtigkeit des Seins - dass war ihm schon als junger Mann bewusst geworden - würde jemand anderes beisteuern müssen. Und dieser jemand, war Evelyn.

Kurt trank seinen Sherry und sah seiner Frau und seiner Mutter noch einen Augenblick zu. Dann bewegte er sich zum Ende des Raums wo Matti, abseits von allen anderen, für sich alleine stand. Er streckte die Hand zum Gruß aus und Matti nahm sie in seine Pranke. Er war groß gebaut wie ein russischer Bär, hatte aber ein spitzbübiges Lächeln und ein freundliches Gemüt.

„Hallo Kurt. Guten Tag.“ Er sprach ein gutes Deutsch mit dem typischen, liebenswürdigen finnischen Einschlag.

„Hallo Matti, wie lange bist du schon in Deutschland?“

„Schon einige Zeit, ich war zuvor in der Schweiz, eine BIS-Tagung. Bin dann hierher gefahren. Ich wollte den Geburtstag von Freddy nicht verpassen.“ Er schaute Kurt mit seinem kuriosen Blick an. „Sag mir Kurt, hast du noch die TRG-22, die ich dir damals vermacht habe oder hast du sie gewinnbringend verkauft?“

Kurt lachte schallend auf und entgegnete dann mit einem Augenzwinkern: „Das würde mir im Traum nicht einfallen. Ich benutze seither keine eine andere Büchse. Sie ist an mir festgewachsen.“

Matti lächelte. Mit Kurt hatte er einen Liebhaber für finnische Repetierer gewonnen und Sako baute einige der besten Jagd- und Militärgewehre der Welt. Die TRG-22, also ein Scharfschützengewehr, hatte Kurt vor Jahren von Matti zu einem Schnäppchenpreis gekauft. Eigentlich hatte Matti sie ihm quasi geschenkt, weil sie ihm zu schwer geworden war und er Kurt für einen würdigen Nachbesitzer hielt. Der Kaufpreis war mehr symbolisch, denn Jäger waren abergläubisch und eine Waffe zu verschenken würde die Freundschaft zerstören. Aber bei einem Verkauf, so der Mythos, bliebe die Freundschaft intakt.

Kurt hatte sich von der ersten Sekunde an in die Waffe verliebt. Sie war keine elegante oder in dem Sinne ‚schöne’ Waffe. Sie war recht einfach konstruiert fast klobig und schwer, sehr robust und vor allem – sehr präzise. Nachdem Kurt sich an das Gewicht gewöhnt hatte, schoss er keine andere Büchse mehr. Er hatte die Pulverladung und die Setztiefe seiner handgemachten Munition so optimiert, dass die Präzision etwa bei einer Viertel-Bogenminute lag - ein recht guter Wert. Mit dem Schmidt-und-Bender Zielfernrohr wirkte das Gewehr zudem sehr „cool“ und „bad-ass“, was Kurt ebenfalls zusagte. Nur die anderen Jäger verlachten ihn wegen seiner „Finnenkanone“. Ihm war es einerlei. Er würde nie wieder eine andere Büchse schießen.

Kurt fragte Matti: „Kommst du morgen mit auf einen Ansitz. Wir haben ein großes Kahlwildrudel im Revier. Die Brunft geht in vier Wochen los und wir schonen die Alttiere, haben aber noch ein bis zwei Schmaltiere, die zum Abschuss freigegeben sind. Interesse?“

Matti lächelte: „Freddy hat für morgen schon alles organisiert. Wir sitzen unten in der Zweifaller Ecke, in dem großen Eichenwald.“ Kurt kannte den Bestand gut. Er wurde selten bejagt, damit sich das Rotwild dort wohl und sicher fühlte.

„Ja das ist ein guter Platz. Geht früh! Sie kommen, wenn überhaupt, im frühesten Büchsenlicht. Ich werde mich oben an die Pipeline setzen.“

Von der Seite erspähte Kurt eine bekannte Gestalt. Es war Peet, sein Neffe, Klaus’ Sohn. Und er hatte seine Freundin Julia mitgebracht.

„Matti, du kennst Peet und Julia noch nicht. Das ist Peet, mein Neffe und dies ist Julia, seine Freundin. Peet, das ist Matti, einer der ältesten Freunde von Ferdinand. Er kommt aus Finnland.“

Peet streckte die Hand aus. Glückwunsch Alter zur EM!“

Matti schaute ein wenig verdutzt, dann aber erhellte sich sein Gesicht.

„Ja, es wurde aber auch Zeit dass wir die Schweden einmal schlagen. Gut dass die Russen nicht dabei sind, sonst hätte unser Eishockeyteam keine Chance gehabt.“

Peet schaute etwas verdutzt drein. Er war sich nicht sicher, ob er hier mit den alten Säcken abhängen oder lieber schnellstmöglich mit Julia abhauen sollte. Sie wollten noch gemeinsam ins Fitness-Center gehen, anschließend ein wenig chillen und später dann die Pontstraße besuchen, wo sich abends viele Aachener Jugendlichen und Studenten einfanden.

Matti fragte: „Na, wirst du morgen deinen Onkel nicht auf die Jagd begleiten?“

Kurt lachte und schüttelte nur den Kopf. Peet entgegnete etwas verunsichert:

„Eh, nöh, ... Jagd ist nix für mich, Tiere töten und so. Das ist so was von uncool. Macht ihr das nur mal.“ Er hob die Hand, winkte kurz und lässig zum Abschied, nahm Julia an der Hand und zog sie in Richtung seiner Großmutter und seiner Tante.

Kurt schaute Matti verständnissuchend an, aber Matti lachte nur. Er hatte auch Kinder und Neffen und wusste nur allzu gut, dass sie ihren eigenen Weg gehen müssen.

Peet studierte Bauingenieurwesen an der RWTH in Aachen und Julia studierte Sport. Im Gegensatz zu allen Männern der Houben-Familie hatte Peet mit der Jagd nichts am Hut. Er war zwanzig und Julia neunzehn Jahre alt. Beide waren typische Vertreter ihrer Generation. Sie hatten sich beim Hochschulsport kennengelernt. Sie waren begeisterte Crossfit-Fans und trainierten jede freie Minute gemeinsam. Ansonsten wollten sie das Leben genießen, einen coolen Job finden und sich einen mondänen Lebensstil zu Eigen machen. Julia hielt die Houbens für eine weltfremde Merowinger-Familie. Aber sie konnte Tanja und Evelyn gut leiden. Als Julia bei den beiden ankam, wurden sie warmherzig begrüßt.

Evelyn machte den Anfang: „Ah, da ist sie ja die Süße. Hallo Julia!“ Sie zog Julia an sich heran und umarmte sie herzlich. Tanja machte weiter, umarmte Julia ebenfalls und beide scherzten ein wenig.

„Hilfst du uns ein bisschen mit dem Essen? Hilde wird das nicht alles allein hinbekommen.“

Julia zog die Augenbraunen hoch. „Nur wenn Peet mithilft. Das Patriarchat in dieser Familie wird mit meiner Generation beendet!“ Sie gab Peet einen Stoß mit dem Ellbogen in die Rippen und alle prusteten vor Lachen.

Kurt gesellte sich dazu. „Habe ich etwas verpasst?“

Tanja fing die ganze Sache ab. „Nichts hast du verpasst, Mausebär! Hilf lieber deinem Onkel mit dem Aperitif.“ Kurt gehorchte freimütig und machte sich auf zur Anrichte, wo der Sekt, der Aperol und der Orangensaft bereitstanden.

Tanja, Julia, und Evelyn gingen zusammen mit Hilde in die Küche. Peet trottete hinterher. Auf der Anrichte waren silberne Tabletts mit Antipasti, Wurst und Käse, der große Korb mit den Brotvariationen und die übermächtige Terrine mit der Suppe platziert. Sie fingen an die Frischhaltefolien von den Tabletts herunterzuziehen. Peet und Julia trugen die ersten Tabletts heraus und marschierten in Richtung Speisesaal.

Evelyn fragte Tanja. „Und, sollten wir nächste Woche mal was unternehmen, shoppen oder zu Van-den-Daehle uns ein schönes Stück Torte genehmigen?“

Tanja war für jede Schandtat zu haben, so lange Evelyn mit dabei war. Es war die genau umgekehrte Beziehung, die man zwischen Mutter und Schwiegertochter erwartete.

„Klar, bin dabei, nur Donnerstag geht nicht. Da muss ich auf eine Weiterbildung nach Düsseldorf und werde abends wahrscheinlich zu erledigt sein. Aber Freitag mache ich etwas früher Schluss. Wir könnten uns am Domkeller treffen und gehen anschließend wohin es uns treibt.“

Der Domkeller war einer der ältesten und urigsten Kneipen Aachens. Sie galt den Einheimischen neben Dom und Rathaus als ein Wahrzeichen der Stadt. Bei schönem Wetter konnte man draußen sitzen und den schönsten Blick der Stadt genießen. Evelyn nickte. „Also abgemacht. Freitag, drei Uhr nachmittags am Domkeller! Nun aber raus mit all diesem Essen.“ Die beiden Frauen nahmen sich zwei Tabletts und machten sich auf, in den Speisesaal gegenüber. Die Gäste hatten sich eingefunden und der gemütliche Teil des Festes hatte begonnen - das letzte Fest der Familie Houben.

Flucht

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