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Shanghai Dienstag, 09.09.2025 10:11 Uhr CST

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Das Taxi fuhr auf der S32 und näherte sich Pudong International Airport von Süden. Der Verkehr war an diesem Vormittag so dicht wie eh und je und der Smog tauchte die Stadt in einen grauen Dunst. Die Luft in Shanghai war aufgrund der Nähe zum Meer nicht ganz so unerträglich wie in Peking. Dafür wurde die Stadt mit großer Regelmäßigkeit und mit voller Wucht von tropischen Zyklonen getroffen. Ein Taifun hatte vor kurzem für drei Tage Ausnahmezustand und sechzig Milliarden Yuan Schaden gesorgt. Die Trümmer waren auch nach einer Woche noch nicht alle beseitigt und die Kadaver noch nicht alle geborgen. Über der Stadt hing ein Geruch von Verwesung, den die Menschen, wie alles andere, scheinbar stoisch ertrugen.

Pudong International Airport lag etwa einen Kilometer vor ihnen und wäre an einem klaren und sonnigen Tag ein beeindruckender Anblick gewesen. Am Wasser gelegen, mit drei ineinander geschmiegten stählernen Röhrensegmenten, war es so imposant und futuristisch wie Architektur nur sein kann. Doch in dem grauen Dunst des Smog erschien es trist, wie eine aufgegebene Raumfahrstation aus einem Endzeit-Film von Ridley Scott. Weder der Taxifahrer, noch sein aparter Fahrgast hatten für das Bauwerk ein Blick übrig. Für die dreißig Kilometer vom Stadtzentrum hatten sie - mit dem üblichen Stau - über eine Stunde gebraucht. Der Taxifahrer warf einen verstohlenen Blick auf seinen Fahrgast. Er hatte schon sehr lange nicht mehr, wenn überhaupt jemals, eine solche Perle auf dem Rücksitz gehabt.

Fan Liling war eine hinreißend schöne, junge Frau. Männer hatten so ihre Schwierigkeiten den Blick von ihr abzuwenden. Liling hatte sich seit ihrer Jugend an die begehrlichen Blicke gewöhnt und ignorierte sie zumeist. Ihre Augen waren auf ihr Mobiltelefon gebannt, mit dem sie ihre letzten E-Mails abrief.

Das Taxi fuhr auf der Abflugebene in eine Haltebucht vor. Der Fahrer stieg aus und holte Lilings Gepäck aus dem Kofferraum. Fan Liling wartete mit einem Taschentuch vor dem Mund bis der Taxifahrer den Koffer auf den Gehweg gestellt hatte. Dann nahm sie ihr Telefon und bezahlte mit ihrer Cash-App die Fahrt. Sie verzichtete darauf, ein Trinkgeld zu geben, wandte sich zur Eingangstür und beachtete den Mann nicht weiter. Der Fahrer nahm es mit gefasster Miene hin, ging um sein Taxi herum, stieg ein und fuhr davon.

Liling konnte sich einiges herausnehmen. Trotz ihrer Jugend hatte sie eine divenhafte, fast einschüchternde Präsenz. Sie strömte eine Aura der Unnahbarkeit aus. Sie gab Männern stets das Gefühl, nicht gut genug zu sein - bei weitem nicht gut genug - sie war eine Klasse für sich.

Liling war für eine Chinesin groß gewachsen. Ihre amerikanische Mutter konnte man nicht nur an der Körperhöhe sondern auch an ihrem üppigen Busen erahnen. Ihren langen Hals brachte sie mit einem Seidenchoker verstärkt zur Geltung. Ihre Augen hatten eine perfekte Mandelform, die Nase war spitz und klein und ihre Lippen rosig und voll. Das Haar hing ihr hinab bis zu den Schulterblättern, war rabenschwarz und von seidigem Glanz. Sie wirkte mit vierundzwanzig Jahren sportlich und vital und war insgesamt eine überaus reizvolle asiatischen Schönheit. Männer bekamen in ihrer Gegenwart feuchte Hände.

Liling nahm ihren Rollkoffer am Tragegriff, zog den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und stolzierte in grazilen Schritten durch die gläserne Schiebetür in die Eingangshalle des Flughafens. Sie wollte so schnell wie möglich der widerwärtigen Luft entfliehen. In der Eingangshalle atmete sie tief durch und war für die Segnung der Klimaanlage dankbar. Sie hielt sich links, um zu den Check-In-Schaltern für internationale Flüge zu gelangen. Ihr Blick schweifte über die schier endlos wirkende Kette aneinander gereihter Flugschalter, bis sie den großen Block von Air China entdeckte. Sie hatte sich einen Flug nach Hamburg buchen lassen.

Shanghai-Pudong war der viertgrößte Flughafen in China und hatte jährlich über vierzig Millionen Passagiere, doch heute war der Andrang der Flugreisenden nicht so stark wie sonst und Liling war froh, dass sie ohne die übliche Drängelei an der Gepäckaufgabe und dem Sicherheitscheck zu ihrem Flug gelangen würde.

Sie steuerte direkt die First-Class Reihe an, vorbei an den Touristen und den Studenten, die zu Beginn des Wintersemesters wieder an ihre deutschen Universitäten zurückkehrten. Liling hievte den Koffer auf das Transportband und nahm ihre Tasche von der Schulter. Sie reichte ihren Ausweis mit einem Lächeln an die Dame des Bodenpersonals. Der Koffer verschwand, mit einer Banderole versehen, auf dem Förderband durch eine Klappe. Liling begab sich zur Sicherheitskontrolle. Dabei beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Etwas stimmte nicht. Sie konnte es noch nicht genau zuordnen aber ihre Vermutung war, dass sie observiert wurde. Sie entschloss sich ihre Augen aufzuhalten, als sie sich auf den Weg zu ihrem Abflugsteig machte.

Ein Summen machte sie auf die eingehende SMS ihres leitenden Offiziers Dù Xue aufmerksam. Liling prüfte die Informationen zu ihrer Kontaktperson in Hamburg. Die Adresse hatte sich verändert. Offensichtlich war man beim chinesischen Militärgeheimdienst der Auffassung, das ursprünglich gewählte Sichere Haus sei kompromittiert worden. Deswegen hatte man sich auf ein anderes verständigt.

Dù war Liling bisher bei ihrem Aufstieg von unschätzbarem Wert gewesen. Und sie hatte noch nicht einmal mit ihm schlafen müssen, um sein Vertrauen zu bekommen. Er hatte sie ganz von alleine unter seine Fittiche genommen.

Alle Geheimdienste der Welt haben die Tendenz, junge attraktive Frauen als Nutten zu verheizen, im Außendienst, wie im Innendienst. Als schöne Frau, so bekam man es von jedem suggeriert, müsse man sich den Weg nach oben bumsen. Nicht Liling. Dù hielt seine schützende Hand über sie. Liling hatte, außer in der Ausbildung, noch nie einem ranghöheren Agenten ‚einen Gefallen’ tun müssen.

Liling musste beim Lesen der SMS schmunzeln. Dù war gestandener und erfahrener Agent in seinen Fünfzigern, jedoch fehlte ihm – so dachte Liling - die notwendige Chuzpe und Selbstsicherheit, um unvermeidliche Risiken mit Elan zu bewältigen. Zu viele von Dùs Kollegen waren im Laufe seiner Karriere über Fehler gestolpert und verschwanden in den Lagern des Nordwestens. Auf Dù Xue hatten diese Erfahrungen den gewünschten Effekt der Hypergründlichkeit, ließen jedoch nicht den geringsten Spielraum für Improvisation oder Spontanität, was bei der bevorstehenden Operation von entscheidender Bedeutung sein würde. Kein Plan, auch nicht der detaillierteste, war perfekt. Etwas ging immer schief. Und das erforderte schnelles Denken und beherztes Handeln.

Diese Rolle würde Liling zufallen, und sie würde die Gelegenheit nutzen, Dù und allen anderen zu zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Sie würde ihren Vater stolz machen und für sich und ihre Familie den Durchbruch erreichen, der ihrem Vater - trotz seiner unzweifelhaften Loyalität und seines lebenslangen Einsatzes im Dienste der Partei – verwehrt geblieben war.

Lilings Vater war als Botschaftsattaché in Washington tätig gewesen und hatte ihre Mutter auf einem Empfang 1992 kennengelernt. Zwei Jahre später hatten sie geheiratet, trotz des Protestes beider Familien. Von ihrem Vater hatte Liling den brennenden Ehrgeiz geerbt. Von ihrer Mutter erbte sie die pralle texanische Weiblichkeit und die Fähigkeit, Männer mit intuitiver Leichtigkeit um den Verstand zu bringen. Die Familie zog 2005 nach Beijing und ihr Vater stieg in den höheren diplomatischen Dienst auf. Jedoch hatten die vielen schönen Jahre in Washington für Lilings Vater auch ihren Preis. Ihm fehlte in der Heimat das für den Aufstieg nach ganz oben notwendige Netzwerk innerhalb der Partei. Der somit ausbleibende Erfolg zermürbte ihn. Liling, die ihren Vater vergötterte, brach es das Herz.

Liling richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre SMS. Sie sollte sich mit den anderen Agenten im Sicheren Haus treffen. Der Kampfstoff würde mit den Kollegen aus Singapur eintreffen. Lilings Aufgabe war es, alles vor Ort zu koordinieren, um das Gift an seine Zielorte zu bringen – soweit so gut. Danach sollte sie Kontakt mit der assoziierten Gruppe vor Ort aufnehmen und die Übergabe der Waffenlieferung vereinbaren. Diese Kontakte hatte ihr Führungsoffizier Dù aus seiner früheren Zeit im Nahen Osten mitgebracht. Liling war sich der Gefahr durchaus bewusst, auf diese Fanatiker zu bauen. Was, wenn sie sich nicht vor den Karren spannen ließen? Was, wenn sie eine eigene Agenda hatten und nicht auf den Deal eingingen? Nun, es war ihre, Lilings Aufgabe dafür zu sorgen, dass sie parierten.

Im Gegensatz zu Dù, hatte Liling ein uneingeschränktes Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu improvisieren und zu manipulieren. Noch nie war ihr irgendetwas misslungen. Noch nie hatte ihr jemand etwas ausgeschlagen. Ihr Aussehen, ihre Erziehung, ihr Training und ihre Herkunft machten sie zu einer Gewinnerin. Ihr Aufstieg in die chinesische Elite würde unaufhaltsam sein. So wie die Genossen, die den langen Marsch überlebt damit für sich und ihre Nachkommen eine Existenz als die unangefochtene Elite der kommunistischen Partei Chinas gesichert hatten, so würde Liling nach diesem Krieg die Privilegien ihrer Familie für die nächsten Generationen gesichert haben.

Liling schaute beiläufig über ihre Schulter. Seit der Gepäckaufgabe beschlich sie ein Gefühl beobachtet zu werden. Es waren nicht die Männer, das konnte sie ausblenden. Sie wurde observiert. Sie wusste nur nicht von wem. Bei ihrer Ausbildung hatte man sie darauf trainiert, ihrem Instinkt zu vertrauen und ihren Verfolger zu einem unbedachten Schritt zu animieren. Sie musste sich etwas einfallen lassen.

Liling hatte noch etwas Zeit, der Flug war erst für 12:45 Uhr vorgesehen. Sie stand auf und ging hinüber in den Duty-Free-Bereich. Sie stöberte in der Parfümerie und fand ein Flakon ihres Lieblingsparfüms. Dabei ging sie, scheinbar suchend, durch die Reihen der Parfümerie. Dies gewährte ihr einen 360° Rundblick. Sie studierte die umstehenden Menschen. Es dauerte nicht lange und sie hatte ihre Verfolgerin entdeckt. Eine großgewachsene schlanke blonde Frau, vielleicht Mitte dreißig, mit hochgesteckten Haaren. Sie stand gegenüber am Tresen der Cafeteria. Liling hatte sie zuvor bereits am Check-in gesehen. Sie schien ihr also nachgegangen zu sein. Der Bedienstete der Cafeteria hatte die Frau bereits zweimal angeschaut, um die Bestellung aufzunehmen, war aber ignoriert worden. Die Frau schaute auch nicht auf den Monitor mit den Flugzeiten, sondern beobachtete unmerklich den Duty-Free-Bereich.

Sie war Lilings Verfolgerin.

Liling musste sie loswerden, sonst gefährdete sie noch ihre Mission. Und das konnte Liling auf keinen Fall zulassen. Sie bezahlte das Parfum, ging demonstrativ an der Frau vorbei und sah sie für einen kurzen Moment unverhohlen an. Wenn die andere Frau tatsächlich von einem Geheimdienst war, hatte Liling ihr somit ein Zeichen für Gesprächsbereitschaft gemacht. Liling schritt den Gang hinunter in Richtung Damentoilette. Sie ging durch die Tür und schaute sich in den Kabinen um. Sie war allein. Liling holte das Flakon des neugekauften Parfums aus der Verpackung und stellte es auf den Waschtisch vor sich. Als die blonde Frau durch die Tür kam, war Liling gerade dabei, ihren Lippenstift einzufahren und die Kappe aufzustecken. Die Frau suchte sofort den Augenkontakt, nachdem auch sie sich vergewissert hatte, dass sie und Liling alleine waren. Liling zog unbeirrt ihren Lidstrich nach, beobachtete die Frau im Spiegel und sprach sie an: „Sind sie CIA, MI-6, Mossad ...?“

„Sagen wir, ich komme von einem besorgten, westlichen Dienst, dass sich für die verstärkte Aktivität ihrer Kollegen im Nahen Osten interessiert.“, antwortete die Frau mit einem für Liling sofort erkennbaren Südstaatenakzent.

Das war’s. Diese Frau arbeitete für den CIA. Und sie war nahe an der Operation dran. Liling hatte keine Zeit ein Bogus-Szenario zu entwerfen oder zu versuchen, ihrerseits die Dienste dieser Frau zu kaufen. Sie musste nach Hamburg. Liling hatte keine andere Wahl. Die Frau musste verschwinden. Schnell denken und beherzt handeln!

Sie drehte sich zu der blonden Frau um und stieß dabei mit der linken Hand den Flakon vom Waschtisch. Er fiel zu Boden und zersprang in tausend Splitter. Die blonde Frau sah intuitiv zu Boden, eine Reaktion, die auch bei bestem Training kaum zu vermeiden war. Liling packte sie mit der rechten Hand am Hals und trat ihr mit dem linken Fuß die Beine weg. Durch einen kräftigen Stoß Lilings fiel die Frau rückwärts zu Boden und knallte mit dem Kopf auf die Fliesen. Liling holte aus und zerschmetterte ihr mit einem kräftigen Handkantenschlag den Kehlkopf. Die Frau war paralysiert und würde gleich sterben.

Liling zog sie in eine Toilettenkabine, schloss die Tür, nahm ihr Telefon zur Hand und rief eine Notnummer ihres Geheimdienstes an. Sie gab ihre Position am Flughafen durch und bestellte den lokalen Aufräumdienst. Dann ging sie nach vorne. Sie packte ihre Sachen ein und wartete. Eine chinesische Frau im mittleren Alter kam herein – offensichtlich eine Passagierin.

„Sie sollten die andere Toilette benutzen. Mir ist ein Malheur passiert. Es liegen hier überall Scherben.“ Liling zeigte auf den Boden mit dem zerbrochenen Flakon und den Glassplittern. Es roch betörend nach dem vergossenen Parfum.

„Ich habe schon dem Putzdienst Bescheid gegeben“, ergänzte Liling. Die Frau signalisierte Verständnis und ging wieder hinaus. Kurze Zeit später kam eine kräftige kleine Frau mit einer Schürze und einem Rollwagen herein.

„Wo soll geputzt werden?“ fragte sie.

Liling öffnete die Tür zur Toilettenkabine, in der die blonde Frau lag. Die andere Chinesin nickte. Liling packte ihre Sachen zusammen und ließ die Dame mit ihrer Arbeit zurück. Bevor sie hinausging atmete sie nochmals tief durch. Sie redete sich ein: Es ist alles OK. Ich denke an meinen Flug und meine Termine. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche.

Dann war sie wieder vollständig gefasst, öffnete die Tür und schritt wieder hinaus in das Treiben des Flughafens. Niemand, der sie sah, hätte ahnen können, dass Liling gerade eine Frau getötet hatte.

Sie ging zur großen Fensterfront, von wo aus man die Maschinen starten sehen konnte. Sie war alleine. Die nächste Person war eine junge Frau, mit einem Kind, das die aufsteigenden Flugzeuge mit leuchtenden Augen betrachtete. Hier konnte Liling sprechen. Sie wählte die Nummer von Dù Xue. Er ließ es ein paarmal klingeln, dann ging er ran.

„Warum rufst du mich an?“

„Eine Frau hat versucht mich zu kontaktieren, wahrscheinlich CIA ...“

„Wo ist sie jetzt?“

„Toilettenkabine, bei den Gates. Der Aufräumdienst kümmert sich schon um sie.“

Dù Xue war aufgebracht: „Musste das sein? Gab es keinen anderen Weg?“

„Nein, gab es nicht! Mein Flieger geht in zwanzig Minuten und sie erwähnte unsere Aktivitäten im Nahen Osten. Sie war an mir dran. Nun kann sie nichts berichten und der CIA wird erst mal Zeit brauchen, sie zu suchen. Wenn ich Glück habe, verlieren sie meine Spur. Ich habe richtig gehandelt.“

Dù Xue war einen Moment lang still. „Nun gut, ... Du konzentrierst dich auf deine Mission, verstanden. Keine Fehler. Und rufe mich vorher an, bevor du dich entscheidest noch jemanden zu töten, hörst du.“

„Geht Klar, mache dir keine Sorgen!“

Liling beendete das Gespräch. Ihr Blick war nun nach vorne gerichtet. Sie ging zu ihrem Gate. Das Boarding würde in zehn Minuten beginnen. Sie setzte sich hin und versuchte sich zu entspannen, aber ihre Gedanken drifteten zurück zu ihrer Mission. Bald würden das Chaos und das Töten beginnen. Der Sieg über die Europäer war für das Überleben ihres Volkes und der Partei notwendig. Das war nun ihr Ziel: der Sieg Chinas und der Tod oder die Vertreibung von fünfhundert Millionen Europäern.

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