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Bergen Donnerstag, 11.09.2025 10:34 Uhr CET

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Marit Ingvaldsen fuhr im Fond des Taxis Richtung Norden, während sie die letzten Eilmeldungen auf ihrem iPad durchging. Vor fünfzehn Minuten war sie mit einer Agusta Westland AW101 der norwegischen Luftwaffe auf dem Flughafen von Bergen gelandet. Sie würde für die zehn Kilometer nach Haakonsvern, dem Hauptstützpunkt der norwegischen Marine, etwa eine Viertelstunde benötigen. Dort hatte sie eine Sitzung mit dem Generalstab der norwegischen Streitkräfte – Marit war die Verteidigungsministerin Norwegens.

Eigentlich hätte sie mit dem Hubschrauber auch auf dem Marinestützpunkt landen können, aber ihr waren theatralische Auftritte zuwider. Stattdessen fuhr sie mit einem Taxi vor. Ihre Kollegen aus den anderen europäischen Verteidigungsministerien gaben mit ihren Hubschraubern und Dienstflugzeugen an und stellten sie regelrecht zur Schau, aber für Marit war es einfach kein guter norwegischer Stil. Traditionell bleiben norwegische Politiker auf dem Boden und für ihre Mitbürger nahbar. Seit den letzten Terroranschlägen auf Mitglieder der Regierung jedoch, war man auch in Oslo vorsichtig geworden. Marits Dienstfahrzeug in Oslo war ein Monstrum. Es hatte eine Panzerung und die modernste aktive und passive Sicherheitstechnik eingebaut, wodurch es zu den teuersten Automobilen des Landes gehörte. Aber hier in Bergen, ihrer Heimatstadt, verzichtete Marit auf das Protokoll und verließ sich auf ihr Glück. Nicht jeder fand das verantwortungsvoll. Aber sie pfiff auf die Bedenkenträger und vertraute auf ihren Instinkt. Es würde schon nichts passieren, nicht hier in Bergen.

Marit würde den heutigen Tag auf der Marinebasis verbringen. Sie hatte sich bereits zuvor in anderen Funktionen angewöhnt, wann immer es möglich und praktikabel war, die Situation vor Ort zu erkunden. Sie gehörte zu dieser Gattung pragmatischer, skandinavischer Politikerinnen: die Ärmel hochkrempeln und anpacken. Sie war ein Workaholic – belesen und effizient. Sie pflegte ihre Kontakte sorgfältig und hatte ebenfalls ein gutes Händchen mit der Presse. Ihr Fleiß, ihre Medienpräsenz und ihre Kontakte hatte Marit nach der Premierministerin zur zweitmächtigsten Person Norwegens gemacht, den König mal außen vorgelassen.

Sie legte ihr iPad zur Seite und nahm sich die letzten Sitzungsprotokolle des sicherheitspolitischen Ausschusses vor. Sie las den engbedruckten Text und versuchte in ihrem Kopf eine Ordnung zu schaffen.

Worauf kam es an?

Was ist das Wichtigste, das wir erreichen müssen?

War ihr Land überhaupt noch sicher?

Sie machte sich Sorgen. Die Norweger sind ein freundliches und offenes, aber eben auch ein stolzes und wehrhaftes Volk. Marits Land war eine starke Nation, mit mutigen Frauen und Männern, die es zu verteidigen wissen. Trotz ihres Selbstvertrauens pflegte Norwegen immer den Schulterschluss mit ihren Freunden und Verbündeten. Schon im zweiten Weltkrieg hatte Norwegen mit den Briten eine starke Allianz etabliert und so den norwegischen Guerilla-Krieg gegen die Deutschen geführt. Auf der Basis der gewonnenen Erfahrungen mit asymmetrischen, unkonventionellen Kampftaktiken wurden später die Spezialkommandos der norwegischen Armee aufgebaut.

Sie hob ihren Blick von den Akten und schaute aus dem Fenster. Kein Mensch konnte sich der atemberaubenden Schönheit der Fjordlandschaft Mittelnorwegens entziehen. Marit lies ihre Augen für einen kurzen Moment auf der majestätischen Landschaft ruhen, den Fjorden und den entfernten, schneebedeckten Gipfeln, auf den schroffen Felsen und dem stahlblauen Wasser; wie auf einem Gemälde. Dies war ihre Heimat, das Vestland. Achtzig Kilometer im Osten, an dem tief in die Gebirgslandschaft einschneidenden Hardangerfjord, lag ihre Geburtsstadt, Jondal. Hier war sie groß geworden, war in den Hochebenen der Hardangervidda im Winter Ski gelaufen und im Sommer mit ihrem Vater fischen gegangen. Etwas weiter nördlich lag Bergen. Dort hatte sie die Hochschule besucht und ihr Herz an die Stadt verloren. Marit und viele andere hielten Bergen für die schönste Stadt Norwegens.

Dann holte sie die Pflicht aus ihren verträumten Gedanken zurück. Die Teilnehmer der heutigen Sitzung würden sich mit der aktuellen sicherheitspolitischen Situation des Landes und mit der NATO beschäftigen müssen. Es galt eine neue Strategie zur Sicherung Norwegens zu erarbeiten, denn das Nordatlantische Bündnis war obsolet.

Das Taxi hielt sich nördlich auf der 557 und war gerade aus dem Knappetunnelen herausgefahren. Der Fahrer bog links auf den Bjørgeveien. Marit las weiter ihren Bericht. Nach dem Krieg, 1947 bis 1949 hatte die Sowjetunion damit gedroht, Norwegen zu besetzten und sich die Erdölvorkommen anzueignen. Die Besetzung der damaligen Tschechoslowakei 1948 und die Blockade Berlins im selben Jahr waren Ausdruck der bedrohlichen stalinistischen Expansionspolitik der damaligen Zeit. Das kleine Norwegen hätte sich gegen die gewaltige Rote Armee, im Falle eines Einmarsches wie in der Tschechoslowakei, nicht behaupten können. Deswegen suchte Norwegen sein Heil in einer Allianz. 1949 wurde das Nordatlantische Bündnisabkommen in Washington mit Norwegen als Gründungsmitglied unterzeichnet. Von da an hatte ihr Land den Schutz starker Partner, vor allem der USA.

Seit Marit als Verteidigungsministerin Zugang zu allen Informationen hatte, war ihr klar geworden, in welch zerbrechlichem Stadium sich dieses Bündnis befand. Die europäischen Mitgliedsstaaten hatten ihre Rüstungsausgaben in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs fortlaufend verringert und die Hauptlast den USA überlassen. Die Amerikaner bestritten über 70 % des Verteidigungsaufwands für die NATO. Das Trittbrettfahren der Europäer wurde im amerikanischen Wahlkampf ausgeschlachtet und Kenneth Ace, der gegenwärtige US-Präsident, gewann die Wahl mit seinem Versprechen, für die USA einen besseren ‚Deal’ zu verhandeln. Die USA verabschiedeten sich von ihrer Rolle des Weltpolizisten. Stattdessen wurden sie zum Weltsöldner. Wer Schutz wollte musste dafür bezahlen – aufwandsbasiert. Als Ace mit seiner „Paid-to-Protect-Doctrin“ um die Ecke kam und für die Verteidigungsleistungen der USA bezahlt werden wollte, war der Geist des NATO-Vertrags endgültig tot. Norwegen hatte zusammen mit den Briten, den Polen und den Balten auf eine Verhandlung der Summe hingewirkt und war generell bereit, die Zahlungen zu akzeptieren. Deutschland, Italien und andere kontinental-europäische Länder lehnten jedoch kategorisch ab. Die USA zogen sich aus dem Vertrag zurück und verlegten ihre Truppen aus Europa in andere Länder die bezahlten.

Die chinesische Eroberung von Taiwan führte in vielen Ländern zu einem Umdenken. Auf einen Schlag war unmissverständlich klar geworden, was die Abwesenheit von Sicherheit bedeuten konnte: den Verlust der Freiheit. Die Philippinen, Malaysia, Singapur, Indonesien und Vietnam unterschrieben einen Schutzvertrag mit den USA. Die Europäer weigerten sich weiterhin, worauf sich die USA militärisch ganz auf Asien und den mittleren Osten konzentrierte.

Marits Stirn legte sich in Falten, als sie die Zusammenfassung ihres sicherheitspolitischen Ausschusses gelesen hatte. Die Sicherheit ihrer Landsleute hing von der NATO ab. Und dieses Bündnis war zerbrochen. Marit überlegte, vielleicht konnte sie mit ihren Verbündeten eine Allianz schmieden und die NATO retten. Ob die Idee eine Chance hatte, würde sich heute in dieser Sitzung entscheiden.

Der Wagen bog nun auf das Militärgelände ab. Marits Bodyguard hatte vorne auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Als das Taxi vor das Hauptgebäude der norwegischen Marineverwaltung fuhr, stieg er aus und ließ den Blick einmal um den Vorplatz schweifen. Außer einigen erkennbaren Angehörigen der Marineverwaltung befanden sich keine weiteren Menschen auf dem Vorplatz. Er öffnete ihr die Tür. Marit stieg aus, nahm ihre Aktentasche vom Sitz und gab sie ihrem Bodyguard. Ein eisiger Wind blies ihr die Haare ins Gesicht. Marit zog sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf. Man sollte eigentlich nicht verwundert sein, dass es in Norwegen kalt war. Aber Anfang September sind auch in Bergen Minusgrade ungewöhnlich. Jemand im Ministerium sagte etwas von dem Zusammenbruch des Polar Vortex, der Kaltluftmassen vom Nordpol nach Europa gelenkt hatte.

Marit wandte sie sich in Richtung des Eingangs. Dort stand er, Generalstabschef Admiral Torolf Estvik. Marit lächelte ging in seine Richtung. Er winkte, nahm seine Offiziersmütze ab, klemmte sie sich adrett unter den Arm und ging auf sie zu.

„Marit, willkommen auf Haakonsvern. Ich hoffe du hattest einen schönen Flug.“

Marit schmunzelte als sie seine Hand schüttelte. „Ja, einen sehr schönen Flug. Tolle Aussicht und guter Kaffee an Bord. Hätte ich nicht erwartet.“

Torolf stieß ein schallendes Lachen aus. „Das war zu meiner Einsatzzeit noch anders. Damals, auf der Seaking, gab’s fürs Personal nichts zu trinken. Aber für die Chefin höchstpersönlich wurde natürlich in den neuen Vogel eine Senseo eingebaut.“

Torolf machte mit dem ausgestreckten Arm eine Geste in Richtung Eingang und lies Marit und ihren Bewacher vorgehen. Torolf hatte den Ort für das ministerielle Meeting diesmal bewusst auf die Marinebasis gelegt, weil er wusste, dass Marit sich gerne mal die Basis anschauen und vielleicht mit ein paar Marinesoldaten sprechen wollte. Er hatte für sie nach der Sitzung eine Rundfahrt arrangiert.

Marit und Torolf schätzten einander. Torolf mochte an Marit ihre zupackende, energische Art, die jedem guten Offizier zu Gesicht stand. Torolf wurde von Marit geachtet, weil er ein Vollblutsoldat war – ein Profi. Er galt als oberster Militär bei den norwegischen Streitkräften als unangefochten. Was ihn in ihren Augen aber darüber hinaus auszeichnete, war sein Gefühl für das Politische. Das musste er wohl auf seinen vielen Auslandseinsätzen mit den UNO-Friedenstruppen und im Zuge seiner Berufung in die militärische Außenvertretung bei der NATO gelernt haben.

Torolf Estvik stammte einer Offiziersfamilie aus Trondheim ab, der alten Königsstadt. Er war Kadett mit 18, Leutnant mit 21, Komandør mit 28 und Admiral mit 37. Seine Karriere war steil und makellos verlaufen. Wie die meisten, die es im norwegischen Militär weit bringen, hatte er bei mehreren UNO-Friedensmissionen den Rang des kommandierenden Offiziers inne gehabt. Im Süd-Sudan war er mit seiner Marinejägereinheit, bestehend aus drei Teams zu fünf Männern, in den Hinterhalt von Regierungsgegnern geraten und hatte sich mit seinen Jungs herausgeschossen. Darüber hinaus hatten sie anschließend die Verfolgung der Milizen aufgenommen. Hierdurch wurde ihre Basis entdeckt und später durch eine amerikanische Drohnenattacke vernichtet. Seine Einheit verlor drei seiner fünfzehn Männer aber vierzig Guerilla-Kämpfer wurden getötet. Er war mit der Tapferkeitsmedaille dekoriert worden und hatte jede Familie der gefallenen Kameraden persönlich aufgesucht und sein Beileid bekundet.

An Torolf konnte man sich aufrichten. Er war einer dieser Männer – eine natürliche Führungskraft – gütig, beherrscht und stark – man vertraute ihm und suchte in der Not seine Nähe. Er würde auf jeden Fall immer wissen war zu tun ist. Deswegen schätzte ihn Marit auch so sehr. In der heutigen Zeit der Gefahr war es wichtig, Männer wie Torolf um sich zu haben.

„Ich wollte dir nach dem Meeting eine Rundfahrt über den Stützpunkt anbieten ...“, wendete er sich an Marit, als sie vor dem Aufzug warteten. „Ich kann dir auch eine Spritztour im Kampfboot genehmigen, wenn du dich in einen Trockenanzug zwängen willst. Deinen Neopren hast du nicht zufälliger Weise eingepackt?“ Torolf grinste breit.

„Pffff, lieber fahre ich in eines deiner U-Boote mit. Nein, keine Spritztour in einem Kampfboot. Ich habe was Besseres vor, als mir - wie mein Vorgänger - pressegerecht die Seele aus dem Leib zu kotzen. Aber eine Rundfahrt - im Auto - über die Basis ist drin. Per-Ove kommt später, so um acht, nach Bergen. Wir sind heute Abend im ‚Det Hanseatiske‘ einquartiert. Vielleicht hast du Lust dazu zu stoßen. Wenn hier alles gut läuft spendiere ich eine Flasche und du isst mit uns!“

Torolf kannte das Hotel gut, denn es war eines der besten Häuser am Platz. Er nahm gerne ausländische Offiziere mit dorthin, wenn mal wieder eine NATO-Tagung in der Stadt war. Es war ein schönes und altes Hotel in der Nähe des Fischmarktes am Trollfjord und man konnte dort typisch norwegisch Essen. Ein verlockendes Angebot.

„Na mal sehen, ob ich nach zwei Stunden mit dir und den anderen Haudegen noch Appetit habe“, sagte er abschließend mit einem Augenzwinkern.

Marits Ehemanns, Per-Ove Ingvaldsen, fühlte sich im Allgemeinen nicht wohl in der Gegenwart von Militärs, mit ihrem Machogehabe und dem nie enden wollenden Seemannsgarn. Er war Professor für Musikgeschichte und hatte mit Blut, Eisen und Heldentum nichts am Hut. Ihm reichte bei weitem das Ego seiner Frau, um von Zeit zu Zeit Reißaus nehmen zu müssen. Aber mit Torolf verstand er sich gut, denn Torolf konnte ein kultivierter und angenehmer Gesprächspartner sein.

Sie stiegen in den Aufzug ein. Auf der Fahrt nach oben sprach keiner ein Wort. Die Aufzugtür ging zum Klang einer Glocke auf und Marit trat, gefolgt von den anderen, hinaus in den Tagungssaal. Er war typisch skandinavisch eingerichtet. Die angenehmen weichen und hellen Pastellfarben ließen nicht auf ein Militärgebäude schließen. Durch die Fensterfront wurde ein weiter Blick auf den Marinehafen, den Fregatten die darin vor Anker lagen und den Fjord frei. Helles Holz und gefällige landestypische Designs der Möbel rundeten die nordische Behaglichkeit ab.

Es waren etwa ein Dutzend Männer anwesend, die kommandierenden Offiziere aller Waffengattungen, zum Teil mit Adjutanten. Zunächst war da Admiral Leiv Martinsen, der Kommandeur der norwegischen Marine. Er unterhielt sich in Seebärenlautstärke mit General Frøy Gjesdahl, der Kommandant der Landstreitkräfte. Marit trat hinzu, grüßte und reichte den beiden Militärs die Hand. Als nächster kam der Kommandeur der NORSOCOM, der vereinten norwegischen Spezialeinheiten und ein an schierer Größe sogar Martinsen überragender Konteradmiral, Magnulf Nørgaard. Sein Adjutant – Kommandør Steen Bjørndal - wirkte neben Nørgaard fast unscheinbar. Das täuschte. Er hatte, als Operator der Marinejegerkommandoen, wie jeder Elitesoldat, eine gestählte Figur und einen selbstbewussten Blick, gewonnen aus unzähligen bestandenen Prüfungen in heiklen Missionen. Es folgten noch weitere ranghohe Offiziere der Luftwaffe, der Cyber Force und des Heimatschutzes.

Nachdem Marit die Runde gemacht hatte, nahm sie an der Stirnseite des breiten Ahorntisches Platz. Torolf saß zu ihrer Linken mit den Offizieren der Land- und Luftstreitkräfte, zur rechten die Admiräle und die Marinejäger. Marit nahm ihre Akte zur Hand und der Bodyguard schloss die Tür im Hinausgehen hinter sich zu. Die Besprechung konnte beginnen.

„Meine Herren, ich eröffne hiermit die Tagung unseres Verteidigungskomitees. Vielen Dank für ihr Erscheinen." Sie blickte nochmals jeden an.

„Ich muss in vier Wochen zur nächsten Zusammenkunft des Nordatlantischen Rats nach Warschau. Seit dem Eklat zwischen den Amerikanern und dem Deutschen Block ist die Allianz an dem Punkt, wo die Sonne nicht hin scheint. Fragt man meinen Kollegen, Verteidigungsminister Paul Goodard, ist sie das schon lange. Der Präsident ist ein knallharter Geschäftsmann und hat Goodard beordert keinen Cent nachzugeben. Die Europäer sollten lernen, wer der Boss ist. Meine Einschätzung: wenn die Briten, die Osteuropäer und wir Skandinavier zusammenhalten, kriegen wir, mit viel Mühe und noch mehr Dollars, vielleicht die Kuh vom Eis, getreu dem Leitspruch des alten Lord Ismay: „Keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“.

Ein heiteres Lachen machte die Runde.

„Wie auch immer“, fuhr sie fort, „es ist das erste Meeting des Rates seit einer Ewigkeit, an dem der US-Amerikanische Verteidigungsminister als Beobachter teilnehmen wird. Dies stellt für uns eine Gelegenheit, mit unseren Partnern in der NATO die Amerikaner wieder einzubinden.“

Marit ließ ihren Blick in der Runde schweifen als sie die Agenda präzisierte:

„Das Ziel dieses Meetings ist, Argumente für Stabilisierung des Bündnisses zu entwerfen. Die heutige Erörterung soll einerseits auf unsere Verteidigungssituation und andererseits auf die Situation in der NATO selber eingehen. Die Agenda unserer Tagung ist wie folgt:

Erstens möchte ich die Waffengattungen bitten einen kurzen Lagebericht zur Situation unserer Streitkräfte und der russischen Bedrohung zu geben, für den Fall eines ad-hoc Verteidigungsfalls.

Zweitens, möchte ich Torolf bitten, einen Kurzabriss der Situation der NATO auf operativer Ebene zu geben. Und schließlich Drittens: Erörterung der Frage: ‚Was können wir augenblicklich tun, um unsere Verteidigungssituation zu verbessern’. Frøy, ich möchte dich bitten für die Landstreitkräfte zu beginnen.“

General Frøy Gjesdahl rückte mit seinem Stuhl etwas näher an den Tisch, nahm seine Berichtsvorlage und begann mit seinem Vortrag: „Die gegenwärtige Stärke unserer Landstreitkräfte beläuft sich auf etwas mehr als 8.000 Mann. Wir haben zwei schwerbewaffnete Regimenter zu je 1.200 Mann an der Grenze und in der Finnmark und zwei leichtbewaffnete Regimenter zu je 1.500 Mann in Bodø. Darüber hinaus haben wir eine Artillerieeinheit, eine technische Hilfseinheit, eine nachrichtendienstliche Einheit, sowie diverse andere Hilfseinheiten, wie z. B. Sanitäter und Kommunikationsmannschaften. Alle Hilfstruppen zusammengenommen machen etwa 2.000 Mann aus. Die Truppen an der Grenze und in der Finnmark stellen unter den derzeitigen Umständen einen wirkungsvollen Schutz dar. Jedoch stehen auf der feindlichen Seite in Alakurtti die neu geschaffene motorisierte Arktische Brigade und in Yamalo-Nenetsk haben die Russen zwei weitere auf Winterkrieg spezialisierte Brigaden. Das sind in Summe etwa 12.000 Mann. Gut, dass wir uns die Russen im Ernstfall wahrscheinlich mit Finnland teilen können. Zusammenfassend kann ich dir mitteilen, Marit, dass die Mannschaften derzeit eine hohe Moral aufweisen und dass das Material in einem guten Zustand und in ausreichendem Mengen verfügbar ist. Die Nordgrenze zu Russland kann unter den gegenwärtigen Umständen gesichert werden. Sollten die Russen jedoch mobilisieren, wird eine Aktivierung der Heimwehr und der Reservisten notwendig sein. Die Heimwehr steht derzeit bei ca. 50.000 Mann und dass derzeitige einsatzfähige Reservistenkontingent macht nochmals 10.000 Mann aus. Waffen und Munition sind bevorratet. Die Mobilisierungs-Zeitspanne beträgt etwa vierzehn Tage. Im Falle eines Angriffs der Russen könnten die gegnerischen Einheiten etwa für zwei bis drei Wochen festgesetzt werden. Danach würde die Besetzung durch russische Truppen erfolgen. Eine Eroberung des Landes durch die russische Armee kann nicht ohne die Hilfe von Bündnistruppen abgewendet werden.“

„Danke Frøy. Machen wir mit NORSOCOM weiter. Magnulf, bitte ...“, leitete Marit den Staffelstab weiter. Magnulf Nørgaard trug ruhig und gewandt seinen Kurzbericht vor.

„Wie ihr alle wisst, bestehen die norwegischen Spezialeinheiten aus den zuvor armee-basierten Einheiten der Forsvarets Spesialkommando (FSK) und den marine-basierten Einheiten, den Marinejegerkommandoen (MJK). Von unseren Spezialeinheiten FSK sind fünf Züge und somit zwanzig Prozent des Regiments im Manöver. Sie stellen gegenwärtig eine Einheit der Very High Readiness Joint Task Force der NATO dar und trainieren mit den SOF-Teams der Franzosen und der Briten in der Grenzregion von Rumänien und Bulgarien. Wir verfügen aber für einen etwaigen Ernstfall in der Südhälfte Norwegens über zwanzig weitere Züge der FSK. Davon sind vier Züge in stetiger Alarmbereitschaft. Die anderen können innerhalb von sechs bis acht Stunden aktiviert werden und jegliche Spezialoperationen durchführen. Für die Nordhälfte sind die Marinejäger in Vollbesetzung von 15 Zügen zuständig.“ Er nickte Marit zu. Sie nahm den Faden auf.

„Danke Magnulf, für deinen Bericht. Leiv willst du bitte weiter machen.“

Leiv Martinsen hatte keinen Bericht angefertigt. Er konnte zu jeder Tages und Nachtzeit einen detaillierten Lagebericht zu seiner Seestreitkraft aus der Hüfte schießen.

„Die Marine ist in vollem Umfang einsatzbereit. 3.700 Mann, fünf Fregatten, fünf U-Boote, acht Schnellbote und sechs Küstenkorvetten. Etwa dreizehn Schiffe und Küstenboote sind zur Landesverteidigung in der Nordsee, den Fjorden und dem Skagerrak beordert. Eine Fregatte habe ich zu den britischen Flottenteilen im Ärmelkanal und eine zum Golf von Cadiz für den Schutz der europäischen Handelsrouten beordert. Gleichzeitig macht uns die starke Flottenpräsenz der Russen in arktischen Gewässern Kopfschmerzen. Die Nordmeerflotte der Russen verfügt über ein halbes Dutzend modernste Zerstörer mit Stealth-Eigenschaften, die erst in den letzten Jahren in Betrieb genommen wurden. Sie sind unseren Fregatten, dass muss ich leider sagen, überlegen. Ihren Manövern zufolge, sind die Schiffe Weltklasse und können mit der amerikanischen Zumwalt-Klasse mithalten. Die Chinesen halten sich derzeit mit starken Verbänden am Suez und 500 Seemeilen nördlich von Madeira im Atlantik auf. Sie werden in den kommenden Wochen mit den Russen ein gemeinsames Manöver im Nordmeer abhalten.“

Leiv kam nun in Fahrt.

„Unsere amerikanischen Freunde versuchen derzeit wenigstens den Anschein zu waren, der Atlantik sei ihr Teich. Die Schlitzaugen spielen fürs erste mit. Meine Kollegen von der US Navy und der Königlichen Britischen Flotte sehen gegenwärtig keine besorgniserregenden Flottenbewegungen im Atlantik oder Pazifik. Ganz normaler Handelsschiffsverkehr durch die Hauptrouten ums Kap und durch den Kanal. Nichts deutet auf eine großangelegte Operation in Südostasien oder anderswo hin. Vietnam, der wahrscheinlichste nächste Schritt einer Expansion Chinas, wäre natürlich eine harte Nuss. Indochina war bisher für jeden Eroberer des letzten Jahrhunderts ein Desaster. Die Franzosen und die Amerikaner wissen davon ein Lied zu singen ...“

„Danke Leiv, dass sollte zunächst genügen!“ Marit schnitt ihm das Wort ab, da er die Tendenz hatte, von selber keinen Punkt zu finden und das lange Leben eines Admirals hatte genug Anekdoten zu bieten, um einen Kaminabend in Monologform zu bestreiten. Als ranghöchster Marineoffizier - nach Torolf - gebot ihm auch selten jemand Einhalt.

Marit ließ die Runde weitergehen. Der Kommandant der Luftwaffe gab seinen Bericht in ähnlich knapper Manier wie Gjesdahl ab. Der Heimatschutz war im Bericht der Landstreitkräfte inbegriffen gewesen.

Marit fasste die Ergebnisse zusammen. „Also ich entnehme euren Ausführungen, dass die derzeitige Verteidigungsbereitschaft für eine Friedenssituation ausreichend bis gut ist. Das FSK ist derzeit mit einer Fraktion ihrer Stärke in einem Manöver gebunden. Magnus, können wir je eines unserer erfahrensten S&R-Einheiten nach Alakurtti und Sapoljarny auf die andere Seite vom Zaun beordern? Ich will es als Erste wissen, wenn Ivan sich rührt.“

Magnus und Torolf tauschten amüsierte Blicke aus. „Surveillance and Reconnaissance“ im Feindgebiet barg immer erhebliche militärische und politische Risiken. Eine FSK-Einheit war Anfang 2021 im Wintermanöver bei Karasjok über eine Spetsnaz-Einheit von zwei Mann gestolpert, die die norwegische Grenzregion zu Russland infiltriert hatten. Die beiden Russen wurden zwar verhört, aber auf eine drastische Behandlung wie im Kriegsfall hatte man verzichtet. Sie bekamen Gebäck und Tee. Marit hatte darauf bestanden, sie höchstpersönlich in einem Hubschrauber der norwegischen Polizei in Murmansk abzuliefern. Marits Satz bei der Übergabe wurde in Geheimdienstkreisen zur Legende. Sie sollte zum russischen Verteidigungsminister gesagt haben: „Ich verstehe euch Männer ja, dass ihr immerzu beweisen müsst, dass etwas Großes zwischen euren Beinen schwingt, aber zum Teufel Yevgeni, das nächste Mal behalten wir sie!“

Wenn also die norwegischen Soldaten aufgegriffen würden, konnte mit einer glimpflichen Behandlung gerechnet werden. Sicher war das jedoch nicht. Aber schließlich gab es für gefährliche Sondereinsätze die Spezialeinheiten und Marit hatte das Selbstvertrauen, sie auch einsetzen zu wollen. Torolf als Generalstabschef nickte Magnulf zu.

„Geht klar!“ sagte Magnulf in Marits Richtung.

Sie fuhr fort: „Gut, somit kann die derzeitige Lage als stabil beurteilt werden. Torolf, gibst du uns bitte eine Einschätzung zur aktuellen Situation in der Nato?“

Torolf nahm sein Dossier zur Hand. „Liebe Marit, werte Kollegen, seit dem Zerwürfnis zwischen den Deutschen und den Amerikanern hängt die Zukunft des Bündnisses am seidenen Faden. Bevor ich zur NATO komme, würde ich gerne zuerst einen Blick auf die Bedrohung durch Russland werfen. Russland gliedert seine Streitkräfte in vier geographische Militärdistrikte auf, von denen zwei an Europa grenzen. Norwegen hat es primär mit dem Westlichen Militärdistrikt zu tun. Das Hauptquartier ist in St. Petersburg und der Fokus liegt auf die Balten, Kaliningrad und die nordischen Länder. In diesem Distrikt sind 22 taktische Bataillonsgruppen stationiert, das sind geschätzt etwa 60.000 Mann. Es handelt sich hierbei um autonom agierende Bataillone mit einem Missionskommando, Panzer, Artillerie, Luftabwehr, Ingenieurseinheiten und sonstige Unterstützungstruppen. Außerdem sind die baltische Flotte in Kaliningrad und die Nordmeerflotte in Severomorsk stationiert. Die russischen A2/AD–Fähigkeiten sind hervorragend. In Kaliningrad sind neben den taktischen Nuklearraketen vor allem weitreichende Boden-Luft-Raketen und Anti-Schiffs-Raketen stationiert. Hinzu kommen die Luftgeschwader in Petersburg. Im Falle eines Konfliktes würden die Russen mit größter Wahrscheinlichkeit die Lufthoheit in Osteuropa gewinnen und die Ostsee von Nato-Schiffen bereinigen können.“

„Nun zur NATO. Allgemein ist es so, dass nur die Amerikaner imstande sind auf modernstem Niveau Krieg zu führen, das heißt alle Waffengattungen komplett mit einem integriertem C4ISR aus einem Guss zu führen und einen mächtigen Gegner wie die Russen oder Chinesen zu bekämpfen. Hinzu kommen die Fähigkeiten der „cyber-warfare“ und Anti-Satelliten-Technologien, letztere sowohl kinetisch als auch nicht-kinetisch. Zu guter Letzt haben sie mit ihren THAAD-Systemen eine effektive Abwehr von ballistischen Raketen. Somit sind die USA als einzige Macht der Welt imstande, lückenlos mit allen Kompetenzen der modernen Kriegsführung aufzuwarten. Kein anderer NATO-Mitgliedsstaat verfügt über eine ähnlich breite Palette an Systemen. Am nächsten dran sind die Briten und die Franzosen aber auch hier fehlen zum Beispiel THAAD und ASAT, als wichtige Abwehrwaffen gegen Interkontinentalraketen. Die weiteren NATO-Staaten haben noch größere Lücken bis hin zu kaum vorzeigbarer Wehrfähigkeit. Über die gesamten NATO hinweg besteht ein Flickenteppich aus nicht abgestimmten Kompetenzen und dementsprechend großen Lücken, z. B. bei modernen Jägern der fünften Generation, Air-Lift-Fähigkeiten, Boden-Boden- und Boden-Luftraketen, Drohnenüberwachung und so weiter und so fort.“

Marit fragte: „Einige Stimmen im Nordatlantischen Rat meinen, dass im Fall eines Angriffs der Russen in Europa die Amerikaner aus Eigeninteresse gar nicht anders können als einzugreifen und Europa zu retten. Wird diese Einschätzung von uns geteilt?“

Es machte sich eine gewisse, stille Unbehaglichkeit im Kreise der Offiziere breit. Torolf entschied sich zu antworten:

„Meine Kollegen aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium sagen mir, dass die NATO in den Umfragen bei den amerikanischen Wählern unten durch ist und mehr als 70% der Befragten befürworten den endgültigen Austritt. Im Ernstfall ist meine Einschätzung dass die Stimmung im amerikanischen Wahlvolk gegen eine Solidarität mit den ‚undankbaren Europäern’ ausfällt. Ich denke wir sind auf uns gestellt.“

Es wurde totenstill im Raum.

General Frøy Gjesdahl meldete sich zu Wort: „Was ist mit den Briten und den Franzosen?“

Torolf schaute mit einem nüchternen Blick auf seinen Kollegen.

„Ich habe mit den Militärs der beiden Länder hierüber gesprochen. Sie stehen auf folgendem Standpunkt: entweder die NATO agiert als Ganzes, wenn es sein muss ohne die Amerikaner. Dann sind sie mit von der Partie, allerdings ohne nukleare Waffen. Die stellen die letzte Instanz der nationalen Verteidigung dar, insbesondere im Fall eines nuklearen Angriffs. Sollten allerdings andere Mitgliedsstaaten aus der Solidarität ausscheren - und damit ist im Falle der Deutschen und der Italiener auf jeden Fall zu rechnen - ist nach der Doktrin der Briten jeder auf sich gestellt. Und die Franzosen sehen das genauso.“

Torolf setzte ab und legte seine Notizen vor sich auf den Tisch.

„In der gegenwärtigen Lage ist die Verteidigungsbereitschaft des Bündnisses kaum gegeben. Die unklaren Verhältnisse zwischen den Ländern setzen die Verteidigungsbereitschaft noch weiter herab. Die fragwürdige Solidarität insbesondere der Deutschen und der Italiener hängt wie ein Damokles-Schwert über Allem. Wenn es uns nicht gelingt, sehr bald die Amerikaner wieder einzubinden, wird das Bündnis zerbrechen und wie lange Europa dann noch frei und unabhängig bleibt, weiß kein Stratege vorherzusagen.“

Marit holte unmerklich aber tief Luft. „Also meine Herren, das sind die ernüchternden Fakten. Ich denke der dritte TOP hat sich geklärt. Oberste Priorität hat die Wieder-Einbindung der Amerikaner. Zuerst ist da die politische Ebene; hierum kümmere ich mich beim nächsten nordatlantischen Rat. Parallel dazu fokussieren wir uns auf unsere eigene Verteidigung. Das ist Euer Job. Wir können uns auf niemanden verlassen, außer auf unsere eigene Stärke. Frøy, aktiviere die Heimwehr und setze die Reservisten in Vorbereitschaft. Nichts, was die Russen provozieren könnte, aber alles was unsere Reaktionszeit herabsetzt.“

Der General nickte zustimmend.

„Magnus, ich will erhöhte Sicherheit im Regierungsviertel, in Bergen und Trondheim. Beordere die fünf FSK-Züge aus der VJTF mit sofortiger Wirkung zurück. Wir brauchen sie hier. Leiv, schicke eine Anti-U-Boot-Einheit in den Fjord von Oslo und so viele wie nötig um Bergen herum. Ich will von keinem Russen mit heruntergelassener Hose überrascht werden. Die Sicherheit des ‚Joint Warfare Centre’ der NATO in Stavanger muss unter allen Umständen gewährleistet sein. Tut was ihr tun müsst, um ein norwegisches Pearl Harbor zu vermeiden.“

Zum Kommandeur der Luftwaffe sagte sie: „Lars, ich will 24/7 Luftüberwachung mit ausreichend Jägern um vorbereitet zu sein. Die Nordgrenze hat oberste Priorität, dann die oberen zwei Drittel der Küstenlinie. Was den südlichen Bereich anbelangt, insbesondere Nordsee und Skagerrak, stimmen wir uns mit den Briten und den Dänen ab. Da teilen wir uns die Arbeit. Sehe zu, was die Briten an AWACS und ISR in die Waagschale können. Wenn sie Geld wollen, kriegen sie es. Der Topf ist voll für Situationen wie diese.“

Sie wandte sich an Torolf. „Ich spreche mit den Schweden und den Dänen. Die Dänen meinen ohnehin, dass eine effektive Verteidigung der nordischen Zone primär eine Aufgabe der nordischen Länder sein sollte. Sie haben Recht. Die Finnen kriegen wir auch ins Boot“

Sie legte – in einer versöhnlichen Geste – die Hand auf Leivs Arm.

„Sei bitte kurzfristig bereit nach Kopenhagen zu fliegen, sollte es zu einer Abstimmung der Flottenverbände kommen. Torolf wird dich begleiten." Sie drehte sich zu ihrer Linken und zwinkerte ihrem obersten Militär zu.

Torolf nickte amüsiert. Er dachte sich, dass er damit nun wirklich sein Abendessen im Det Hanseatiske verdient hatte. Er hoffte nur, dass seine Chefin auch bezahlen würde.

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