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AUFBRUCH
ОглавлениеGeschafft, wir fahren los. Also zumindest ich fahre los. Der Zug bringt mich von Zu Hause zum Bahnhof Montparnasse, wo ich ein Taxi nehme und zum Flughafen Charles-de-Gaulle fahre. Dort treffe ich das übrige Team: Mélanie, den Bildregisseur Alexandre, der auch ein langjähriger Freund von mir ist, dessen Assistenten Raphaël, den Toningenieur Laurent, unseren Regisseur Antoine und Tiffany, die halb Amerikanerin ist und ihm für diesen ersten zweiwöchigen Einsatz in den USA zur Seite steht.
Schon seit Tagen verkrampfen sich meine Eingeweide, drückt mein Solarplexus, breiten sich Wellen von Angst in meiner Brust aus, die ich seit Jahren kenne und die mein Herz rasen lassen. Das hier ist mein erster Film, und in den letzten Wochen wurden mir jeden Tag aufs Neue meine technischen und teilweise auch künstlerischen Defizite aufgezeigt. Für einen Moment befürchte ich, dass mich die Angst lähmt und mir den Verstand derart benebelt, dass ich nicht mehr in der Lage bin, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenigstens ist Mélanie dabei, aber es ist auch ihr erster Dokumentarfilm, und wir haben noch nie richtig zusammengearbeitet. Ich habe mir lauter Merkzettel mit Drehplänen gemacht und Spicker, wo die Fragen draufstehen, die ich den Leuten stellen will, aber im Moment scheint das alles nichts zu helfen und mir Sicherheit zu geben. Dann sehe ich die anderen. Kurz darauf reden wir alle durcheinander, um unserer Aufregung Luft zu machen. Mélanie kaspert herum, wodurch sich die Stimmung entspannt. Das Gespräch kommt auf all die tollen Sachen, die wir sehen werden, und allmählich siegt die Abenteuerlust. Beladen mit Taschen und Kästen – wir haben insgesamt fünfzehn Gepäckstücke -, lassen wir uns vom Strom der Passagiere ins Flugzeug schieben. Es soll nicht das Letzte gewesen sein …
Wenige Stunden später fliegen wir über den Atlantik. Damit uns der Morgen nicht weckt, bittet die Stewardess darum, die Fensterluken zu verdunkeln. Wir bewegen uns mit einer Geschwindigkeit von 1000 Stundenkilometern vorwärts und der Boden liegt Tausende von Metern unter uns, aber wir nehmen das so gut wie nicht wahr. Nur die auf dem Monitor abgebildete Strecke vermittelt uns eine vage intellektuelle Vorstellung davon, wie wir uns fortbewegen. Unsere Körper sind in den Sitzreihen eingezwängt, unsere Augen starren gebannt auf die Bildschirme, die unseren Gehirnen eine andere Wirklichkeit vorgaukeln als jene, in der wir uns gerade eigentlich befinden. Wie ein zweites Fenster, in das wir versinken können, um uns abzulenken. Dabei würde ich lieber aus dem ersten Fenster hinausschauen und die Nacht mit Blicken durchbohren, um nie Gesehenes unter mir zu erahnen: unglaubliche Weiten, Schwertwale, Delfine und später endlose Küsten und die von Autos und menschlichen Körpern wimmelnden Megastädte. Eigentlich macht es keinen Sinn, so zu reisen, denke ich. Aber wie hätten wir es sonst machen sollen? Unser Filmbudget reicht gerade, um drei oder vier Tage an jedem Ort zu bleiben. Jeder weitere Tag bedeutet zusätzliche Kosten, Arbeitslöhne und die Miete für die Ausrüstung, Hotels, Mahlzeiten … Natürlich hätten wir das Ganze auch als Abenteuerreise mit langsamen Verkehrsmitteln planen können, aber das hätte bedeutet, unsere Familien monatelang allein zu lassen und während der Zeit nichts zu verdienen. Die meisten von uns haben aber laufende Kosten, Kredite, Mieten. Es anders aufzuziehen, hätte bedeutet, aus all dem auszusteigen. Seit Jahren komme ich immer wieder zu dem gleichen Schluss, nämlich dass das Leben irgendwie undurchschaubar ist. Wir schwimmen immer im Hauptstrom mit, außer wir beschließen, gegen den Strom zu schwimmen. Die Leute, die wir filmen werden, so denke ich, haben beschlossen, dem Strom eine andere Richtung zu geben. Diese Vorstellung gefällt mir.