Читать книгу Tomorrow - Cyril Dion - Страница 20
ОглавлениеDer Eastern Market ist der Hauptumschlagplatz, dort treffen Erzeuger und Verbraucher aufeinander. Als größter Markt der Geschichte eines Landes, in dem fast alle Märkte verschwunden sind, versammelt er auf knapp zwei Hektar (20.000 qm) mehr als 150 Anbieter von Lebensmitteln. Denn neben der Bewegung des urban gardening gibt es auch eine Bewegung von Betrieben, die die Erzeugnisse aus dem Gartenbau und der urbanen Landwirtschaft weiterverarbeiten und vermarkten. Eins davon ist Food Lab, eine Kette mit 147 Läden19, die mit der Methode der „triple bottom line“ arbeiten. Anstatt nur auf den Gewinn zu schauen, richten sie ihre Aktivitäten danach aus, dass sie drei Kriterien erfüllen: profit, people, planet.20 Da ist z.B. Devita, die verlassene Küchen wieder in Betrieb nimmt und dort Familien die Grundlagen des Kochens beibringt; oder Chloé, eine junge Französin, die Schokotörtchen herstellt und vertreibt; und die Sisters on a Roll, die mit ihrem Lieferwagen kreuz und quer durch die Stadt fahren und hochwertige, an Ort und Stelle zubereitete Speisen in benachteiligte Stadtteile bringen; und auch Noam mit seinem Fresh Corner Café und Tanya mit ihren Pancakes, Keksen und veganen Lebensmitteln; sie sind alle angetreten, das selbstständige Unternehmertum zu beleben. Denn erstens schafft es Arbeitsplätze und zweitens leistet es den Detroitern nachhaltige und unverzichtbare Dienste. Diese Philosophie, die in den Unternehmen die mächtigsten Instrumente des sozialen und ökologischen Wandels sieht, ist vom Netzwerk BALLE21 (siehe S. 203) inspiriert. Jess, die Leiterin des Food Lab, ist dort Mitglied, ebenso wie Malik Yakini, der Mitgeschäftsführer der D-Town Farm, einem 2,8 Hektar großen städtischen Biohof mitten im Rouge Park. Für Malik hat die Bewegung der urbanen Landwirtschaft ein riesiges Potenzial, um die Stadt neu zu beleben, die städtische Gemeinschaft wieder aufzubauen und vor allem um die afroamerikanische Bevölkerung zu emanzipieren, die immer unter dem Joch einer gewissen weißen Wirtschaftselite stand. Doch werde sie nicht in der Lage sein, die vollständige Lebensmittelversorgung von Detroit sicherzustellen: „Die urbane Landwirtschaft liegt im Trend, aber die Vorstellungen, die die Leute damit verbinden, sind häufig weit entfernt von der Plackerei, die in der Landwirtschaft einfach nötig ist. Ich sage dann immer: Die urbane Landwirtschaft sieht super aus auf einer PowerPoint Präsentation. Die rurale Landwirtschaft wird sie jedoch nicht ersetzen können. Die Innenstädte, die Vororte und der ländliche Raum müssen sich zusammenschließen, um unsere Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten. Lebensmittel legen in den Vereinigten Staaten im Schnitt vom Ort ihres Anbaus bis zum Verbraucher 2.400 km zurück. Das ist eine ungeheure Belastung für die Umwelt. Wir müssen den Anbau wieder so nah wie möglich an die Wohnorte der Menschen verlegen. Dazu ist die Rückkehr zu einem älteren Städtekonzept erforderlich, das umfassender ist als einfach nur eine Ansammlung von Gebäuden, Straßen und Shopping Centern.“
Im Fahrwasser von Detroits Aufbruch sind Hunderte von nordamerikanischen Städten dabei, zwischen ihren Hochhäusern die urbane Landwirtschaft einzuführen: New York mit seinen 800 Gemüsegärten und städtischen Bauernhöfen, Los Angeles, San Francisco, Washington, Saint Louis, Chicago, Boston, Seattle, Philadelphia, aber genauso Toronto, Ottawa, Montreal oder Vancouver. Insgesamt wird die Zahl der landwirtschaftlich genutzten Gemeindegrundstücke auf 20.000 geschätzt. Hinzu kommen 43 Millionen Amerikaner, die nach eigener Aussage einen Teil ihrer Nahrung selbst anbauen.22
Und wie wir schon bald erfahren sollten, steht Europa dem in nichts nach.
Wir verlassen Detroit. Innerhalb weniger Tage nehmen wir zum dritten Mal das Flugzeug. Seit unserer Abreise habe ich den Eindruck, keinen Schritt außerhalb von Flughäfen und Gangways getan zu haben. Wir haben unser Leben rund um Autos, Busse, U-Bahnen und Flugzeuge organisiert, allesamt angetrieben von körperfremden Kräften. Im Moment fliegen wir über den großen Michigan-See und mir wird bewusst, dass wir so gut wie nichts gesehen haben von den Orten, wo wir waren. Geführt von Smartphones und GPS, haben wir nicht einmal eine Landkarte ausgebreitet, um uns ein wenig weiträumiger zu verorten. Eine große Zahl Amerikaner lebt tagein, tagaus so, und ich frage mich, wie die geringste Information über die Verletzlichkeit unserer Ökosysteme überhaupt zu ihnen vordringen soll? Ich beobachte die Geschäftsleute um mich herum, gebannt starren sie in ihre Computer. Einer zieht schlechtgelaunt die Blende vor der Fensterluke herunter, wo die Sonne hereinscheint. Sie nehmen das Flugzeug, so wie wir den Zug nehmen. Heute ist nichts Außergewöhnliches mehr daran, auf 5.000 Metern Höhe zu fliegen. Trotzdem haben 80% der Menschen unseres Planeten noch nie den Fuß in ein Flugzeug gesetzt. Und werden es vermutlich auch nie tun. Virtualisierung des Raums, Loslösung aus unserer natürlichen Umgebung, um von einem klimatisierten Kasten zum nächsten zu gehen, am Leben erhalten von einer Flut verpackter, überzuckerter, versalzener, in sauberen Regalen in Reih und Glied gestapelter Nahrung. Unter dem Flugzeug breitet sich ein flauschiger Ozean aus, so weit das Auge reicht. Milliarden zusammengeballter Wassermoleküle bilden eine der poetischsten Formen, die es überhaupt gibt. In Kürze werden wir landen und der Tanz beginnt von vorn: Be- und Entladen, aufgesaugt werden von neuen desinfizierten Gängen in neuen Flughäfen. Ich vermisse meine Beine, ich vermisse die Natur. Und ich frage mich, wie lange man wohl braucht, bis dieses Gefühl allmählich abklingt und vielleicht irgendwann ganz verschwindet …