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2. DEN ANBAU REGIONALISIEREN – DAS ABENTEUER DER URBANEN LANDWIRTSCHAFT DETROIT
ОглавлениеFern der motorisierten Landschaften
fallen trostlose Schatten
auf brennende Bruchbuden.
Verfall liegt in der Luft
rundum Pfützen, Gips und Fäulnis,
hier in Detroit,
hier in Detroit.
Die Stadt Detroit war genauso ausgestorben, wie man sie uns beschrieben hatte. Auf dem Weg ins Zentrum überragten ein paar imposante Hochhäuser Verkehrsadern, die doppelt so breit waren wie ein stattlicher Pariser Boulevard, aber nur von einzelnen Autos befahren wurden. Einige davon, die modernsten, machten noch etwas her. Der Sitz von General Motors erweckte in uns den Eindruck eines Fort Knox mitten in einer trostlosen Landschaft. Als wir in die Innenstadt vordrangen, tauchten andere, schönere Hochhäuser aus den besten Zeiten des amerikanischen Städtebaus auf. Hier und da schienen sie sogar noch die alte Pracht auszustrahlen und jedes orangefarben leuchtende Karree an ihren Fassaden war wie ein Hoffnungsschimmer. Die meisten Fenster waren indes endgültig erloschen. Erst bei näherem Hinsehen bemerkten wir die abbröckelnden Fassaden, schaurig anzusehen im Dämmerlicht. Hunderte von zerbrochenen Scheiben und ebenso viele schwarze Löcher malten ein verstörendes Bild, einen Anblick, der abstoßend wirkte und gleichzeitig den einstigen Glanz erahnen ließ.
Am Fuß der Hochhäuser sah man ein paar Gestalten umherstreifen, hier und da leistete eine Handvoll „Katastrophentouristen“ ihnen Gesellschaft, die ihre Rollkoffer hinter sich herzogen. Am Stadtrand waren die einstmals typisch amerikanischen Vorstädte mit ihren weitläufigen Rasenflächen und den dazwischen gestreuten Einfamilienhäusern und hundertjährigen Bäumen in manchen Straßen zu wahren Ruinenfeldern verkommen. Jedes zweite Haus war verlassen, ausgeplündert und manchmal bis zu den Grundmauern abgebrannt. An Halloween hatten sich die Jugendlichen aus dem Viertel regelmäßig einen Spaß daraus gemacht, in den leerstehenden Häusern, die meistens aus Holz waren, ihre Lagerfeuer zu entfachen. Manchmal hatten sie noch nicht einmal den Auszug der Bewohner abgewartet, sondern das Feuer nachts gelegt, als alle schliefen. Damit zwangen sie die Leute, die einst ihre Nachbarn waren, endgültig zum Aufbruch aus diesem unheilvollen Ort, wo sie ohnehin keine Arbeit mehr fanden. Die beluden dann ihre klapprigen, noch aus Detroits goldenem Zeitalter stammenden Autos mit ihren Siebensachen und suchten das Weite. Einige Hausbesitzer nahmen die Sache selbst in die Hand und zündeten ihre Häuser freiwillig an, in der Hoffnung, wenigstens die magere Versicherungssumme einzustreichen. Hier und da stießen wir auf die wenigen öffentlichen Gebäude des Stadtteils, die in einem ähnlichen Zustand waren. Im Innenraum der Kirche schien ein Orkan gewütet zu haben: Die Bänke waren umgestürzt, die Wände zerstört, Messbücher lagen neben VHS-Kassetten im Schutt verstreut. Der Bahnhof, ein großartiges Bauwerk, stand als beeindruckendes Zeugnis aus dem Jahr 1913 mitten in der Absurdität dieses Niemandslands. Das Krankenhaus, die Schule und das Theater mit seinem riesigen, verfallenen, noch von vergangenen Geistern bevölkerten Saal hatte das gleiche Schicksal ereilt. Halb entsetzt, halb fasziniert, liefen wir durch die Stadt und machten immer wieder Halt, um ein leerstehendes Gebäude zu betreten und darin zu filmen. Manchmal versuchten wir, mit Passanten ins Gespräch zu kommen, wenn sie uns nicht aus dem Weg gingen. Auch wir fanden es unangenehm, sie in ihrer Misere zu begaffen wie Tiere im Zoo, während wir eine nagelneue Filmausrüstung vor uns hertrugen und einen fetten, gemieteten Pick-up an der Straßenecke geparkt hatten.
Man hatte uns von Gärten erzählt, von Frauen und Männern, die versuchen, Detroit durch Landwirtschaft neu aufzubauen. Im Moment war davon allerdings nichts zu sehen. Wir hatten Adressen und konnten dorthin fahren, aber im Stillen malten wir uns wohl schon aus, vom spektakulären Anblick dieser Revolution vollkommen überwältigt zu werden. Dass sich unsere wildesten Fantasien bestätigen mögen. Bei jeder Reise war es dasselbe. Aber dieser Hollywood-Effekt stellte sich kein einziges Mal ein. Jedes Mal mussten wir geduldig suchen, forschen, die Zipfel des Schleiers lüften, ehe die Menschen und ihre Orte mit ihrer ganzen Kraft für uns sichtbar wurden.
In Detroit mussten wir Tepfirah Rushdan treffen, die wir lange Tepper nannten, während sie bei ihren Freunden schlicht T heißt. Wir trafen sie in einem kleinen Garten in den Lafayette Greens am Lafayette Boulevard. Tepper leitet das städtische Landwirtschaftsprogramm der Organisation Greening of Detroit. Als sie anfing, sich in dem Verein zu engagieren, wollte sie zwar auch lernen, wie man bestimmte Gemüsesorten anbaut, aber sie sah darin vor allem eine Möglichkeit, wieder eine Gemeinschaft zu schaffen und jedem der oft verarmten, zu 83% afroamerikanischen Einwohner eine Chance zu geben, damit sie wieder stolz sein konnten auf ihrer eigene Hände Arbeit und darauf, etwas zum Wiederaufbau der Stadt beizutragen. Seit 1950 haben über 50% der Bevölkerung diese einstige Hauptstadt des Automobilbaus verlassen. Von zwei Millionen Einwohnern sind heute noch 700.000 übrig. Es kam einiges zusammen, um Detroits Niedergang zu beschleunigen. Die Rassenunruhen der 1960er Jahre, die einen ersten Exodus zur Folge hatten, aber vor allem der Zusammenbruch dessen, was man eine wirtschaftliche und industrielle Monokultur nennen könnte. Die Arbeitsplätze und der Wohlstand der ganzen Bevölkerung hingen von einem einzigen Industriezweig ab. Als sich der Weltmarkt weiterentwickelte und der Freihandel andere, teils verlässlichere oder günstigere Fahrzeuge auf amerikanischem Boden zuließ, mussten viele Automobilwerke schließen. Die weiße Mittelklasse verließ das Zentrum und zog in die Vorstädte, dann verließ sie die Vorstädte, um woanders ihr Glück zu suchen. Die Steuereinnahmen sanken dramatisch, während die zu erhaltende Stadtgröße dieselbe blieb. Eine Spirale von Verschuldung und schlechter Haushaltsführung trieben die Gemeinde schließlich in die Insolvenz. Und wie uns Trish Hubbell, die Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit von Greening of Detroit, später erläuterte, wurde es für die Bevölkerung bald unmöglich, frische Lebensmittel zu bekommen. Die Kombination von geschrumpfter Kaufkraft und der Schließung von Supermarktketten verdammte die Einwohner zum Junkfood.
Während der Hunger eine Milliarde Erdenbürger bedroht, leiden 1,5 Milliarden Menschen unter den Qualen der Fettleibigkeit. In den USA, wo 34% der Bevölkerung übergewichtig sind, gibt das Gesundheitssystem jährlich 160 Milliarden Dollar für unzählige Folgeerkrankungen der Fettleibigkeit aus, deren Todesopfer inzwischen mit Hunderttausenden16 beziffert werden. Deshalb haben Trish, Tepper und Dutzende Angestellte von Greening ein Programm ins Leben gerufen, das an drei Standorten der Stadt die urbane Landwirtschaft entwickelt, an Dutzenden Schulen Erziehungsmaßnahmen durchführt und einen groß angelegten Wiederaufforstungsplan umsetzt. Seit 1998 haben 14.000 Jungen und Mädchen gelernt, Obst und Gemüse anzubauen, sich von frischen, gesunden Lebensmitteln zu ernähren und die Erde zu schützen, auf der ihre Nahrung wächst. Die Jugend von Detroit hat in diesen Projekten 450.000 Stunden gemeinnützige Arbeit geleistet; die Bevölkerung hat 86.000 Bäume gepflanzt; 618 Erwachsene wurden für landwirtschaftliche oder grüne Berufe umgeschult; 1.418 Gärten wurden vor allem in Schulen angelegt oder geplant. Das Ziel besteht darin, eine neue Kultur zu schaffen, in der sich alle daran beteiligen, eine gesunde, widerstandsfähige Lebensmittelversorgung aufzubauen. Im Detroit Market Garden, wo uns Trish empfängt, wurden allein im Jahr 2014 zwei Tonnen Gemüse in vier Gewächshäusern gezogen und anschließend auf den örtlichen Märkten und an die Restaurants verkauft. Zusätzlich verteilte die Initiative 667 Kilo Obst und Gemüse an verschiedene soziale Vereinigungen und bildete fünf Erwachsene zu Gemüsegärtnern aus. Gleichzeitig leitet die Initiative seit 2004 die Restaurierung eines 10 Hektar großen Parks, an der weitere Vereine und die Bewohner des Stadtviertels als Partner beteiligt sind und gemeinsam Gemüsegärten, einen städtischen Bauernhof und Obstwiesen mit Äpfeln und Birnen für die Gemeinschaft anlegen bzw. bewirtschaften.17
„Nach dem Bankrott und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der Stadt waren wir ganz unten. Heute erstehen wir wieder aus der eigenen Asche, das ist wirklich der Geist von Detroit! Diese Stadt gibt sich nicht so schnell geschlagen“, vertraut uns Trish an, ehe wir uns wieder auf den Weg machen.
Wenige Kilometer weiter wartet Shane Bernardo auf uns, einer der Hauptunterstützer von Earthworks Urban Farm, einem Projekt des Detroiter Kapuzinerordens. Shane wuchs in Detroit in einer Familie philippinischer Abstammung auf. Seit mehreren Jahren leitet er dieses ausdrücklich sozial ausgerichtete Projekt. Hier wird ein Hektar Land, das 6,5 Tonnen abwirft, äußerst vielseitig mit Obst und Gemüse angebaut – viele Sorten sind den meisten US-Amerikanern unbekannt -, mit Küchen-, Duft- und Arzneikräutern, mit essbaren Blumen etc. Anschließend werden die Erträge von der Kooperative Grown in Detroit vermarktet oder landen in der berühmten Suppe der Kapuziner, die täglich 2.000 Mahlzeiten an Arbeitslose austeilen – die Earthworks übrigens auch zu Gemüsegärtnern ausbildet –, auf kleinen Erzeugermärkten, in Einrichtungen der Kranken- und Altenpflege oder in den Marmeladen, die zur Unterstützung des Projekts verkauft werden.
Wie bei Greening in Detroit und in den meisten urbanen Gemüsegärten, die wir besichtigt haben, ist auch hier alles bio. Und das ist Shane besonders wichtig: „Mein Ziel ist es auch, den Anteil an gesunder Nahrung für unsere Stadt zu steigern und den jungen Leuten beizubringen, wie sie ihre Lebensmittel selbst anbauen können. 2010 habe ich meinen Vater verloren, weil sein Gesundheitszustand miserabel war: Diabetes, Fettleibigkeit, Herzprobleme. Das war für mich der Auslöser, diese Arbeit zu machen. Wir sind doch inzwischen total abhängig von Nahrungsmitteln aus der Industrie, und die interessiert sich weder für unsere Gesundheit noch für unser Wohlbefinden. Das muss sich ändern. Wir müssen das System aushungern, das uns verhungern lässt, und uns von den ganzen multinationalen Konzernen unabhängig machen.
Wir in Detroit haben beschlossen, uns die Erde zurückzuerobern, das ist unsere Unabhängigkeitserklärung gegenüber der Politik, dass wir für unsere Grundbedürfnisse selbst sorgen. Aber das Problem besteht ja nicht nur darin, Nahrungsmittel bereitzustellen, es geht um viel mehr, nämlich darum, uns die Macht über unsere Ernährung und über unser politisches und soziales System zurückzuholen; es geht darum, widerstandsfähig und autonom zu werden. Detroit ist gewissermaßen ein Ground Zero der globalen Wirtschaftskrise. Die von ihr hinterlassenen Verwüstungen sind vergleichbar mit dem, was der Orkan Katrina in New Orleans angerichtet hat. Wir haben gelitten, jahrelang. Wir haben genug davon, darauf zu warten, dass jemand kommt und sich um uns kümmert. Es reicht eben nicht, sich nur zu wehren und zu protestieren, wir müssen kreativ werden und die Welt aufbauen, in der wir leben wollen. Denn retten müssen wir uns schon selbst, es wird niemand kommen, der das tut …“
Die Mitglieder der Bewegung der urbanen Landwirtschaft geben die Zahl der urbanen Bauernhöfe und Gemüsegärten in der Stadt mit 1.600 an.18 Davon werden 1.400 von 20.000 Freiwilligen von Keep Growing Detroit angelegt und gepflegt. Ashley Atkinson, eine der Leiterinnen der Organisation, beschreibt deren Ziel so: „Wir wollen eine Stadt schaffen, die ihre eigene Ernährungshoheit hat, d.h. in der das meiste von den Einwohnern Detroits verzehrte Obst und Gemüse innerhalb der Stadtgrenzen angebaut wird, und zwar von den Einwohnern für die Einwohner.“ Genau gesagt haben die Detroiter das ehrgeizige Ziel, innerhalb der nächsten zehn Jahre 51% ihres Bedarfs an Obst und Gemüse durch Selbstversorgung zu erzeugen. Das bedeutet, dass die derzeitigen Anstrengungen verzehnfacht werden müssen. Ashley ist da optimistisch: „Das Schwierigste sind die ersten 5-10%. Uns stehen mehr als 100 Quadratkilometer Brachflächen für den Anbau zur Verfügung. Es gab Untersuchungen, die bestätigt haben, dass unsere Ziele erreichbar sind, und das sind sie!“ Um das zu realisieren, baut Keep Growing Detroit auf die Bereitschaft aller Einwohner, in Privatgärten, Schulen sowie Parks Gemüsegärten und Stadtfarmen anzulegen. Dafür stellt die Initiative Saatgut, Pflanzen und Kompost zur Verfügung und lernt die Leute im Gartenbau an. Während dieser Schulungen wird Ausschau gehalten nach potenziellen Leitern, die im jeweiligen Stadtviertel die Koordination übernehmen. Außerdem organisiert die Initiative Veranstaltungen, um immer größere Bevölkerungsgruppen einzubeziehen und Partnerschaften mit lokalen Märkten aufzubauen, sodass jeder Zugang zu den Erzeugnissen hat.