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1. DIE GESCHICHTE VON GESTERN – BEGEGNUNG MIT OLIVIER DE SCHUTTER
ОглавлениеOLIVIER: Seit den 1950er und 1960er Jahren wird uns ständig dieselbe Geschichte über die Landwirtschaft erzählt, und die geht so: Die Landwirtschaft droht die Nachfrage bald nicht mehr decken zu können, weil sie nicht Schritt halten kann mit dem demografischen Wachstum. Deshalb müssen die Erträge um jeden Preis gesteigert werden. Aber diese Geschichte passt für das 21. Jahrhundert nicht mehr. Denn heute können wir mit Zahlen belegen, in welchem Maß dieser wachstumsorientierte Ansatz dazu beigetragen hat, die ländliche Armut zu steigern und die Ressourcen noch intensiver auszubeuten. Wir sehen, dass er die gesundheitlichen Folgen einer schlechten Ernährung verschärft hat, weil man auf Quantität statt auf Qualität gesetzt hat. Es wird höchste Zeit, die Geschichte der Landwirtschaft neu zu erzählen. Denn all die verschiedenen von ihr zu erfüllenden Aufgaben müssen darin genauso vorkommen wie die Forderungen, denen sie zu genügen hat und die sich seit den 1950er und 1960er Jahren grundlegend gewandelt haben.
CYRIL: Was meinen Sie mit einem wachstumsorientierten Ansatz?
OLIVIER: Das bedeutet, dass die Landwirtschaft das Ziel hat, ihre Erträge pro Hektar immer weiter zu steigern, meistens mit Hilfe von Maschinen (Traktoren, Erntemaschinen etc.), unter Verwendung von Pflanzenhilfsmitteln, die fast alle auf Erdöl basieren (chemischer Dünger, Pestizide, verändertes Saatgut) und indem sie umfangreiche Bewässerungsmaßnahmen durchführt. Diese Landwirtschaft ist das vorherrschende Modell in unseren entwickelten Ländern und breitet sich gerade in vielen Entwicklungsländern aus.
CYRIL: Warum sind Sie der Meinung, dass wir nicht so weitermachen können?
OLIVIER: Diese Landwirtschaft ist meiner Ansicht nach aus einer Reihe von Gründen problematisch, vor allem für die Umwelt. Erstens wurde die menschliche Arbeitskraft von Männern und Frauen durch Maschinen ersetzt. Das hat in den Industrieländern in den letzten 50 Jahren zu einer großen Landflucht geführt. Die Menschen ziehen in die Städte und die ländlichen Gebiete werden entvölkert. Das gleiche passiert jetzt, nur noch schneller, in den Entwicklungsländern.
Zweitens produzieren die Landwirte billige Kalorien von schlechter Qualität. Die Produktion konzentriert sich auf Reis, Weizen, Kartoffeln, Soja … Für eine ausgewogene und gesunde Ernährung benötigen wir aber eine viel größere Vielfalt.
Und schließlich zerstört diese Art Landwirtschaft unsere Ökosysteme. Indem sie die Biodiversität reduziert, die Erde durch Monokulturen auslaugt, Böden und Grundwasser durch den Einsatz von chemischen Düngemitteln vergiftet.
CYRIL: Was passiert, wenn wir so weitermachen?
OLIVIER: Wir befinden uns in einer paradoxen Lage. Denn die Angst, nicht genug zu erzeugen, um dem wachsenden Bedarf gerecht zu werden, drängt uns zu Lösungen, die in die Sackgasse führen. Man besteht darauf, die Erträge kurzfristig zu steigern, obwohl bekannt ist, dass man dadurch langfristig die Ökosysteme zerstört, von denen wir abhängen. Wenn wir so weitermachen, werden wir die negativen Auswirkungen der Landwirtschaft immer mehr kompensieren müssen.
CYRIL: Indem wir immer mehr chemische Pflanzenschutz- und Düngemittel verwenden, damit die Böden weiter Erträge bringen?
OLIVIER: Ja, je mehr Vitalstoffe man den Böden entzieht, desto mehr Stickstoffdünger muss man einsetzen, und selbst das ist heute keine Garantie mehr, um die Produktivität aufrechtzuerhalten. In vielen Industrieregionen nimmt sie nämlich ab. Wir befinden uns in einem Teufelskreis: Die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Erdöl und Gas steigt, während die Böden ohne äußere Hilfsmittel immer weniger Erträge bringen.
CYRIL: Aber das Erdöl wird knapper, teurer und seine Nutzung führt zur Erderwärmung. Das kann also nicht die Lösung sein …
OLIVIER: Genau aus diesem Grund müssen wir eine Kehrtwende vollziehen. Die größte Schwierigkeit besteht darin, das System zu öffnen, damit ein Wandel in Gang kommt. Was mich wirklich trifft, ist, dass Regierungen und Wissenschaftler sich zwar darüber einig sind, dass das aktuelle System nicht mehr funktioniert, aber Alternativen trotzdem nur sehr schleppend vorankommen.
CYRIL: Woran liegt das?
OLIVIER: Es sind mindestens vier Hindernisse, die eine Wende so unglaublich schwer machen. Erstens sind da die wirtschaftlichen Hürden. Die Preise belügen die Verbraucher, weil die industrielle Landwirtschaft in ihren Preisen nicht die immensen Kosten widerspiegelt, die sie der Gemeinschaft auferlegt, und zwar in Form von entvölkerten Landschaften, verschmutzten Böden, Ausstoß von Treibhausgasen, Wasserverschmutzung, Krankheitskosten … Wenn diese Kosten mitveranschlagt werden müssten, dann wären unsere Lebensmittel viel teurer. Und die industrielle Landwirtschaft wäre bei Weitem nicht mehr so wettbewerbsfähig.
Die zweite Hürde ist soziotechnischer Natur. Die ganze Infrastruktur für Transport, Lagerung und Weiterverarbeitung von landwirtschaftlichen Roherzeugnissen wurde von den Akteuren der Agrarindustrie aufgebaut und ist auf diese zugeschnitten. Um ihre Erzeugnisse zu vermarkten, müssen kleine Landwirte, obwohl sie beim Anbau sehr viel umweltschonendere Methoden anwenden, diese Infrastruktur nutzen, weil die im System vorherrscht. Aber auf diese Weise werden sie daran gehindert, eine bessere Bezahlung für den von ihnen geschöpften Wert zu bekommen.
CYRIL: Und die dritte Hürde?
OLIVIER: Die ist kultureller Art. Wir haben uns inzwischen an weitgehend veränderte Nahrungsmittel gewöhnt und sind davon abhängig. Die Leute haben weniger Zeit zum Kochen und dafür, Mahlzeiten gemeinsam mit der Familie einzunehmen. Was heißt, dass unsere Essgewohnheiten perfekt zur Ernährung passen, die uns von der Industrie geliefert wird. Das ist eine große Hürde. Denn es bedeutet, dass die Revolutionierung der Landwirtschaft mit einem Wandel unserer Nahrungsmittelaufnahme einhergehen muss und wir diese als kulturelles Element erneuern und dafür unsere Lebensgewohnheiten hinterfragen müssen. Es geht darum, mehr Zeit in der Küche zu verbringen, bei der Verarbeitung frischer Zutaten, deren Erzeuger zu kennen.
Die vierte Hürde ist politisch. Während meiner Amtszeit als Berichterstatter habe ich zwischen 2008 und 2014 schockiert feststellen müssen, dass viele der von den Regierungen getroffenen Entscheidungen nicht im Interesse der Bevölkerung liegen. Sie werden nämlich weitgehend von den Erwartungen der Agrarindustriebranche diktiert. Weil unsere Regierungen ihrem Ehrgeiz erlegen sind, das Pro-Kopf-Einkommen und das Wirtschaftswachstum zu steigern. Genau aus diesem Grund sind die Gewinner die großen Akteure der Agrarindustrie, denn sie haben die technischen Rezepte dazu parat und können den Regierungen ihre Politik vorschreiben, sei es im Bereich des internationalen Handels oder in der Landwirtschaft. Ich sehe eine große demokratische Herausforderung für uns alle darin, diese Zustände zu ändern. Nach meiner Auffassung darf sich die Demokratie nicht darauf beschränken, alle vier bis fünf Jahre wählen zu gehen. Eher sollte sie in unserem Alltag eine Rolle spielen und uns in die Lage versetzen, die Systeme, zu denen wir gehören, neu zu erfinden, statt das den Lobbys zu überlassen, die unsere Politiker beeinflussen.
CYRIL: Wer sind diese Lobbys?
OLIVIER: Das aktuelle System begünstigt eine große Zahl von Akteuren: die Lebensmittelkonzerne, die Getreideriesen, die Düngemittelhersteller, die agrochemischen Unternehmen, die heute mit den großen Saatgutherstellern kooperieren, um den Landwirten Komplettpakete zu liefern. Alle diese Akteure haben kein Interesse daran, dass sich das System ändert, weil sie dann ihre beherrschende Marktposition einbüßen würden. Und sie haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Politiker.
CYRIL: Wie läuft das eigentlich bei internationalen Verhandlungen? Schlagen diese Akteure dann den Staaten vor, welche Maßnahmen sie ergreifen sollen?
OLIVIER: Ja, weil internationale Verhandlungen eine Art blinder Fleck unserer demokratischen Systeme sind. Die Art, wie sie ablaufen, häufig hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, nimmt den Bürgern die Möglichkeit, die Entscheidungen zu beeinflussen, und erspart es den Volksvertretern, der Bevölkerung Rechenschaft abzulegen. Wenn dann nach Monaten oder Jahren der Verhandlungen endlich ein Abkommen zustande kommt, haben die Abgeordneten in den Parlamenten im Grunde keine andere Wahl, als ihm zuzustimmen, sonst wären die jahrelangen Bemühungen der Verhandlungspartner ja vergeblich gewesen.
CYRIL: Welche Richtung sollten wir denn nun einschlagen? Wie lauteten die Empfehlungen im Abschlussbericht Ihrer Amtszeit?
OLIVIER: Wir müssen die Geschichte der Landwirtschaft neu schreiben. Und das fängt an mit der Rückkehr zu einem System der Versorgung aus regionalem Anbau. Die Politik sollte sich weniger an ihren Ressorts – wie Arbeitsmarkt, Landwirtschaft, Erziehung – orientieren als an den Regionen. Das bedeutet, die Verbindung zwischen Erzeugern und Verbrauchern enger zu knüpfen, die Vielfalt des Anbaus in den einzelnen Regionen zu erhöhen, sodass jede Gegend in der Lage ist, ihren Bedarf weitgehend lokal zu decken. Damit wächst auch die Resilienz gegenüber äußeren Erschütterungen, und die Bevölkerung nimmt die Nahrungsmittelproduktion, von der sie abhängt, wieder selbst stärker in die Hand. Seit 50 Jahren wird die Landwirtschaft nämlich in die entgegengesetzte Richtung gedrängt, was zur Folge hat, dass die Versorgungsketten immer länger werden, die Regierungen nur noch auf die internationalen Märkte starren und die Unternehmen sich immer stärker konzentrieren und immer größer werden. Dabei braucht die Landwirtschaft dringend eine Dezentralisierung und eine Regionalisierung.
CYRIL: Wieso ist es so wichtig, dass Lebensmittel wieder regional erzeugt werden?
OLIVIER: Wenn eine Region für ihre Versorgung auf Importe angewiesen ist oder vom Export als Einnahmequelle abhängt, dann ist sie anfälliger für äußere Erschütterungen, z. B. durch den Klimawandel, durch Schwankungen der Energie- und Rohstoffpreise an den Finanzmärkten oder durch schwer vorhersehbare geopolitische Umwälzungen. Der Begriff Resilienz bedeutet Widerstandskraft, und die setzt die Fähigkeit voraus, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Damit ist weder Autarkie gemeint noch Selbstversorgung. Es bedeutet viel mehr, die Abhängigkeit von den internationalen Märkten zu reduzieren, indem man lokalen und regionalen Märkten den Vorrang gibt. Und das ist auch aus ackerbaulichen Gründen wichtig. In Gegenden, wo nur eine einzige Kultur angebaut wird – denken Sie mal an die Entwicklung des Soja in Argentinien oder Brasilien –, werden die Böden völlig ausgelaugt und können sich nicht mehr oder viel schlechter regenerieren als in einem System mit Mischkulturen oder Fruchtwechsel.
CYRIL: Geht es also auch darum, wieder zu natürlicheren Anbauformen zurückzukehren, wie Sie es vorhin erwähnt haben? Jahrelang hat man uns doch weisgemacht, dass uns ohne Unkrautvernichtungsmittel und Kunstdünger eine Hungersnot droht …
OLIVIER: Man muss zwischen Übergangskosten und langfristigen Lösungen unterscheiden. In der heutigen Lage ist die Landwirtschaft auf Pflanzenhilfsmittel angewiesen. Es ist tatsächlich schwierig, diese Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas kurzfristig zu beenden. Dafür braucht man einen Übergang von mehreren Jahren. Doch angesichts von Peak Oil, wie der Höhepunkt der Erdöl- und der Gasförderung genannt wird, und vom Klimawandel haben wir gar keine andere Wahl. Es gibt Lösungen, aber sie werden den Landwirten nicht richtig beigebracht, und die Öffentlichkeit ist nicht genügend darüber informiert, um sie zu verstehen. Es geht darum, Pestizide durch das Zusammenpflanzen von Kulturen zu ersetzen, die Schädlinge fernhalten; oder die Böden durch den Anbau von Hülsenfrüchten mit Nährstoffen zu versorgen. Sie binden nämlich den Stickstoff aus der Luft und geben ihn wieder an die Erde ab, das Gleiche leistet die Agroforstwirtschaft.
CYRIL: Wenn wir diese Lösungen nutzen würden, wären wir dann in der Lage, die Menschheit zu ernähren?
OLIVIER: Wir sind sehr gut in der Lage, die Menschheit mit agrarökologischen Anbautechniken zu ernähren, die keineswegs – darauf muss ich bestehen – eine Rückkehr zur traditionellen Landwirtschaft bedeuten. Es geht nicht darum, ein hochproduktives System mit einem hohen Einsatz von Pflanzenhilfsmitteln durch ein schwachproduktives System zu ersetzen. Wir sprechen nicht davon, den technischen Fortschritt zu leugnen oder abzulehnen. Die Agrarökologie ist die Landwirtschaft der Zukunft, des 21. Jahrhunderts. Es ist eine Landwirtschaft, die sich darüber bewusst ist, dass ein effizienter Umgang mit unseren Ressourcen – Erde, Wasser, Biomasse – dringend notwendig ist und die sich vor den starken Preisschwankungen für fossile Energien schützen will.
CYRIL: Gibt es dazu Zahlen?
OLIVIER: Es gibt verschiedene Arten, die landwirtschaftliche Produktivität zu berechnen. Sehr häufig betrachten Untersuchungen zur Berechnung der Ertragsfähigkeit lediglich den einzelnen Rohstoff, z.B. die erzeugte Tonne Mais, Getreide oder Reis pro Hektar. Aus dieser Perspektive hat die Agrarökologie häufig schlechter abgeschnitten, weil sie nicht nur Mais oder Reis pro Hektar erzeugt, sondern die Vielfalt der kombinierten Kulturen ins Spiel bringt. Berücksichtigen wir das bei der Berechnung der Produktivität, dann sieht man schnell, dass die agrarökologischen Systeme außerordentlich leistungsstark sein können.
CYRIL: Genau das haben Sie ja während Ihrer Amtszeit als Berichterstatter immer wieder kommuniziert.
OLIVIER: Ja, denn ich habe auf eine sehr einfache Frage eine Antwort gesucht. Und die Frage lautet: Kann die Agrarökologie die Welt ernähren? Ich habe dazu einen Bericht verfasst und ihn im März 2011 dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt. Meine Antwort ist: eindeutig ja. Uns liegt eine große Anzahl von Untersuchungen vor, die in vielen verschiedenen Ländern der Welt durchgeführt wurden. Sie beweisen alle, dass sich dort, wo die Agrarökologie richtig umgesetzt wurde, d.h. wo die Landwirte angemessen geschult wurden und die richtigen Methoden angewendet haben, die Erträge pro Hektar verdoppeln ließen. Natürlich funktioniert das, was in einer Region geht, nicht zwangsläufig auch in einer anderen. Die Agrarökologie ist eine Wissenschaft, die sich auf die örtlichen Gegebenheiten und Ressourcen stützt, und kann deshalb nicht von Technokraten von oben verordnet werden. Sie verbreitet sich von Mensch zu Mensch, sozusagen horizontal. Zahlreiche Studien zeigen, dass kleine Parzellen, wo ein diversifizierter Anbau praktiziert wird, pro Hektar viel höhere Erträge bringen als riesige Anbauflächen mit Monokulturen, die zwar beeindruckend sind, weil sie große Mengen liefern, aber keineswegs der beste Weg, unsere knapper werdenden Ressourcen zu nutzen.
CYRIL: Das heißt, dass die kleinen Landwirte am ehesten in der Lage sind, die Menschheit zu ernähren?
OLIVIER: Heute haben wir auf der einen Seite eine kleine Gruppe von Agrarbetrieben, die riesige Flächen mit mechanisierten und hochentwickelten Produktionsmitteln bewirtschaften. Die sind am sichtbarsten, weil sie die internationalen Märkte und die Lebensmittelindustrie beliefern. Und auf der anderen Seite haben wir eine riesige Masse kleiner Bauern, die z. B. in Westafrika zwei bis drei Hektar bewirtschaften oder in Brasilien 10 bis 20 Hektar. Die beliefern im Wesentlichen die lokalen Märkte, ohne den globalen Schwankungen der Börsenkurse irgendeine Bedeutung beizumessen, weil sie nicht davon abhängen. Diese kleinbäuerliche Landwirtschaft ist wichtig für die Landschaftsentwicklung, für die Senkung der ländlichen Armut, für den Zugang der lokalen Bevölkerung zu einer abwechslungsreichen Ernährung und für den Schutz der Ökosysteme, weil die Anbaumethoden dieser Bauern in der Regel für die Böden wesentlich schonender sind, indem sie beispielsweise auf eine massive, für die Umwelt oft schädigende Bewässerung verzichten können. Diesen Anbau lohnt es zu unterstützen, aber er ist bedroht, da die Großbetriebe wettbewerbsfähiger sind und die Märkte erobern. Dadurch sinken die Preise, was die Kleinbauern in den Ruin treibt, sodass sie massenweise in die Städte abwandern. Das Drama der Landwirtschaft besteht darin, dass diese Pluralität nicht erkannt wurde, weshalb die staatlichen Stellen die industrielle Landwirtschaft großzügig gefördert haben, während die Kleinbauern außen vor blieben.
CYRIL: Von welchem Verhältnis sprechen wir?
OLIVIER: Im Allgemeinen wird geschätzt, dass etwa 10 % der Agrarbetriebe große Flächen von 100 und mehr Hektar bewirtschaften. Die restlichen 90 % bearbeiten sehr viel kleinere Äcker. Diese zweite Gruppe umfasst 1,1 Milliarden Menschen weltweit, aber einige Berechnungen zeigen, dass fast zwei Milliarden Menschen von diesen Familienbetrieben leben.
CYRIL: Kann man also tatsächlich sagen, dass die kleinen Landwirte den Hauptbeitrag zur Ernährung der Weltbevölkerung leisten?
OLIVIER: Ein beträchtlicher Teil der Erzeugnisse von Kleinbauern taucht in den staatlichen Erhebungen ja gar nicht auf, weil es Nahrungsmittel sind, die die Menschen selbst verbrauchen oder für ihre Gemeinde und ihr Dorf produzieren. Aber abgesehen davon erzeugen sie immer noch 70 – 75 % unserer Lebensmittel. Sie liefern den Hauptteil dessen, was verbraucht wird. Denn die riesigen Agrarbetriebe sind zwar in der Lage, riesige Volumen landwirtschaftlicher Rohstoffe zu liefern, aber davon ist nur ein Teil für Nahrungsmittel bestimmt. Der Rest dient häufig als Viehfutter (das betrifft z.B. fast den kompletten Sojaanbau weltweit) oder wird zunehmend zu Energie aus nachwachsenden Rohstoffen, insbesondere Biotreibstoff, verarbeitet.
CYRIL: Das ist wirklich aufschlussreich. Die Landwirte, die am wenigsten Nahrungsmittel erzeugen, bekommen die meisten Subventionen, während diejenigen, die 75% unserer Lebensmittel produzieren, am allerwenigsten erhalten …?
OLIVIER: Diese Kleinbauern sind sozusagen die armen Verwandten der öffentlichen Hand. Das hängt damit zusammen, dass sie weniger Skalenwirtschaft – also Massenproduktion – betreiben und deshalb ihre Erzeugnisse nicht so billig auf die Märkte werfen können wie die großen Akteure. Und was wollen die Regierungen? Sie wollen natürlich den inneren Frieden wahren, indem sie dafür sorgen, dass die Privathaushalte so wenig wie möglich für Lebensmittel ausgeben müssen. In der EU verwendet ein Haushalt im Schnitt 12 – 13% seines Budgets für Nahrungsmittel. Wenn man den Menschen morgen den wahren Preis für unsere Lebensmittel in Rechnung stellen würde, dann wären das 25 – 30% ihres Budgets. Und das ist politisch unzumutbar.
CYRIL: Was kann dann die Lösung sein?
OLIVIER: Nach meiner sechsjährigen Amtszeit mit zahlreichen Reisen rund um den Globus und dem Verfassen von vielen Berichten über das Recht auf Nahrung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Wandel von unten ausgehen muss. Wir haben lange genug auf staatliche Lösungen gehofft und vergeblich auf die Regierungen gebaut. Wir brauchen gesellschaftliche Neuerungen, die von den Bürgern ausgehen, Initiativen, bei denen sich die Verbraucher mit den Landwirten und der örtlichen Verwaltung zusammentun, um beim Konsum und bei der Produktion neue Wege zu gehen, die einen Wandel einleiten. Die Rolle der Regierungen muss darin bestehen, diesen Übergang zu begleiten, ohne ihn von oben anzuordnen. Dabei sind Regulierungen wichtig, genauso wie angemessene wirtschaftliche Anreize, aber es sind die Bürger, die selbst entscheiden müssen, welcher Nahrungsmittelversorgung sie den Vorrang geben. Ich glaube, dass es hier Hoffnung gibt. Aus diesem Grund habe ich mich auch sehr intensiv mit den Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegungen für einen Wandel beschäftigt. Sie erfordern eine andere Haltung zur Demokratie. Echte Demokratie führt zur Dezentralisierung von Lösungen und belohnt den Einfallsreichtum auf lokaler Ebene. In diese Richtung müssen wir gehen, um die Systeme unserer Nahrungsmittelversorgung umzuorientieren.