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BEGEGNUNG MIT LESTER BROWN
ОглавлениеLESTER: Lange können wir nicht mehr so weitermachen – und zwar aus verschiedenen Gründen. Einerseits fällen wir die Bäume schneller als sie nachwachsen können und laugen die Weideflächen so aus, dass sie allmählich zu Wüsten werden und damit in Afrika, dem Mittleren Osten und vielen anderen Gegenden der Welt Sandstürme auslösen. Wir erleben heute ein nie gekanntes Ausmaß an Bodenerosionen. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Die Vereinigten Staaten haben einen Viehbestand von neun Millionen Ziegen und Schafen. In China sind es 282 Millionen und sie zerstören die gesamte Vegetation. Der Westen des Landes wird zur Steppe.
Andererseits brauchen wir fast überall das Grundwasser auf. Am meisten beunruhigt da die Situation in Indien, wo das Pumpen nicht geregelt ist. Heute hat das Land fast 26 Millionen Bewässerungsbrunnen, die auf vollen Touren laufen und anfangen auszutrocknen. Diese exzessive Wasserförderung hat die Ernteerträge der letzten Jahre in die Höhe getrieben, sodass davon fast 190 Millionen Menschen ernährt werden konnten. In China sind 120 Millionen Einwohner auf das missbräuchliche Abpumpen des Grundwassers angewiesen. Aber eine Übernutzung ist per definitionem nie eine Dauerlösung. In diesen Regionen beobachten wir bereits, dass das Wasser für Landwirtschaft und Ernährung knapp wird.
Zu diesen beiden Problemlagen kommt eine dritte: die Grenzen der Photosynthese. Ich habe auf meinem Schreibtisch ein Dossier liegen, das die Getreideproduktion weltweit dokumentiert. In Japan ist die Reisproduktion seit 17 Jahren nicht mehr gestiegen. In China, dem größten Erzeuger weltweit, wächst sie nur noch um 4 % und wird wahrscheinlich demnächst stagnieren. Die Weizenerträge in Frankreich sind seit 15 Jahren gleich geblieben und ebenso verhält es sich in Deutschland und im Vereinigten Königreich. In den Vereinigten Staaten beobachten wir dieses Phänomen beim Mais.
Eine vierte, viel schlechter einzuschätzende Entwicklung ist der Klimawandel. Wir wissen inzwischen, dass eine Erderwärmung von einem Grad mit höchster Wahrscheinlichkeit zu einem Verlust von 17 % der Getreideproduktion führt. Dies ist das Ergebnis einer umfangreichen Untersuchung unter der Leitung der Universität Stanford, die über einen längeren Zeitraum in 600 amerikanischen Countys durchgeführt wurde. Dabei handelt es sich also nicht um eine Hypothese! Leider werden die sehr optimistischen Erwartungen der internationalen Organisationen an die weltweite Nahrungsmittelerzeugung von Betriebswirten errechnet und nicht von Agrarwissenschaftlern oder Ökologen. Sie begnügen sich damit, die Zahlen der letzten zwanzig Jahre einfach hochzurechnen und berücksichtigen nicht, dass es Grenzen gibt.
Zusammengenommen erschweren all diese Faktoren eine zukünftige Steigerung der Erträge aber enorm, obwohl wir sie dringend bräuchten. Jedes Jahr kommen 80 Millionen neue Erdenbewohner dazu, das bedeutet konkret, dass heute Abend 219.000 Menschen mehr mit uns am Esstisch sitzen. Und morgen kommen mindestens ebenso viele weitere dazu. Gleichzeitig sind drei Milliarden Bewohner unseres Planeten gerade dabei, sich eine Kost anzugewöhnen, die mehr Ressourcen verbraucht als das, was sie vorher auf ihrem Speiseplan hatten. In Indien konsumiert ein Einwohner circa 400 Gramm Getreide am Tag. Hat man nur so wenig zur Verfügung, dann wandelt man das Getreide wahrscheinlich nicht in tierisches Eiweiß um, sondern verzehrt es direkt. In den Vereinigten Staaten verbraucht eine Person das Vierfache: 1,6 kg. 300 Gramm als Brot, Nudeln, Reis o. ä. und fast den gesamten Rest in Form von Fleisch, Eiern oder Milch. Diesen Standard streben auch die Chinesen, die Inder, die Afrikaner … an. Aber das wird nicht möglich sein. Unsere Ressourcen reichen dafür nicht. Ein eindeutiger Indikator ist der Getreidepreis, der sich seit 2007 buchstäblich verdoppelt hat. Und ich vermute, dass er weiter steigen wird. Wir im Westen müssen das Gegenteil tun und die eine Milliarde Menschen, die am meisten Ressourcen verbraucht, davon überzeugen, sich auf eine weniger fleischhaltige Ernährung umzustellen. Außerdem müssen wir den Biotreibstoff abschaffen, der in den USA immerhin 30 % unserer Getreideproduktion beansprucht. Im Augenblick geht uns zu viel Ackerfläche verloren, durch Erosionen, Sandstürme, Industrialisierung und den Städtebau. Rechnen wir das zu den bereits aufgezählten Faktoren hinzu, geraten wir schnell in eine nie dagewesene dramatische Situation.
Erstmals in der Geschichte – jedenfalls soweit ich davon weiß – müssen arme Familien in Nigeria, Indien und Peru jede Woche Tage ohne Essen einplanen. Sie setzen sich Sonntagabends zusammen und beschließen zum Beispiel: „Diese Woche lassen wir am Mittwoch und am Samstag das Essen ausfallen.“ Weil sie es sich nicht mehr leisten können, sieben Tage die Woche zu essen. Ob sich der Getreidepreis in Frankreich oder in den USA verdoppelt, davon merken wir nicht viel, aber für ärmere Länder hat das direkte und schwerwiegende Folgen. Wir sprechen immerhin von 24% der Familien in Nigeria, von 22% der indischen Familien und von 14% der Familien in Peru … Seit fünfzig Jahren forsche ich zu diesen Themen und weiß deshalb, dass sich Menschen in Mangelzeiten meistens geholfen haben, indem sie eine Mahlzeit ausfallen ließen. Aber ganze Tage – das war mir vollkommen neu!
CYRIL: Wo kann uns das alles hinführen?
LESTER: Diese Situation wird sich sehr wahrscheinlich in politischer Instabilität und verschiedenen Arten von Unruhen äußern.
CYRIL: Sie haben seit beinahe fünfzig Jahren regelmäßig Kontakt zur politischen Elite. Auf den Fotos hier an Ihren Wänden sind eine ganze Reihe dieser Begegnungen dokumentiert. Warum reagiert die Politik nicht?
LESTER: Das Erstaunliche ist, dass sie in den meisten Fällen längst wissen und genau verstehen, was gerade passiert. Nur wissen sie nicht, was sie dagegen unternehmen sollen. Schließlich geht es hier um gesellschaftliche Veränderungen im großen Stil. Und wie soll man Leute davon überzeugen, ihre Lebensweise radikal umzustellen, wenn sie noch nicht einmal ein Bewusstsein für das Problem haben? Mir geht es doch genauso, wenn die Dinge irgendwie in Ordnung kommen, dann mache ich auch einfach so weiter wie immer. Und ich glaube, da bin ich nicht der Einzige. Tatsache ist aber, dass wir etwas ändern müssen, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur: Schaffen wir es, bevor das System zusammenbricht? Wissen Sie, wir erforschen auch die alten Zivilisationen und sehen, dass deren Niedergang in den meisten Fällen mit dem Einsturz ihrer Nahrungsmittelversorgung zusammenhing. So hatten beispielsweise die Sumerer vor 6.000 Jahren ein sehr raffiniertes und effektives Bewässerungssystem, das darin bestand, von den Flüssen aus Kanäle zu graben, um das Wasser zu Feldern im Landesinneren zu leiten. Aber im Laufe der Zeit führte das dazu, dass weite Uferflächen überschwemmt waren und oft unter Wasser standen. Wenn es verdampfte, setze sich das darin enthaltene Salz ab und veränderte so die Zusammensetzung der Böden. Dadurch brachen zwangsläufig die Ernteerträge ein, ohne dass die Sumerer je dahinter kamen, woran es lag. Bei den Mayas in Zentralamerika waren offenbar die Entwaldung und die Erosionen dafür verantwortlich, dass die Nahrungsmittelproduktion zurückging. Es ist ihnen nicht gelungen, das Phänomen unter Kontrolle zu bringen, weshalb die Stätten, wo einst ihre Zivilisation blühte, inzwischen vom Dickicht des Urwalds bedeckt sind.
Der Unterschied zu unserer heutigen Situation ist, dass erstmals in der Geschichte die ganze menschliche Zivilisation gefährdet ist. Wir können uns nicht mehr vom Rest der Welt abkoppeln. Die USA und China sitzen in einem Boot und müssen diese Herausforderungen zusammen meistern. Kein Land ist in der Lage, das Klima im Alleingang zu stabilisieren. Ob uns das nun passt oder nicht, ab sofort hängt die Zukunft der Menschheit von unserer Fähigkeit ab zusammenzuarbeiten – und zwar in einem nie gekannten Ausmaß.
CYRIL: Wenn wir doch all diese Katastrophen auf uns zukommen sehen, warum stehen wir dann nicht auf und tun etwas? Das verstehe ich nicht.
LESTER: Es gibt ein kleines Rätsel, mit dem ich diese Frage beantworten möchte. Es wird meistens verwendet, um Kindern zu verdeutlichen, was grenzenloses Wachstum ist. Stellen wir uns eine Seerose auf einem Teich vor, die am ersten Tag ein Blatt hat. Jeden Tag verdoppelt sich die Anzahl ihrer Blätter. Wann ist der Teich halb voll? Die Antwort lautet: am 29. Tag. 29 Tage lang können wir uns in der Sicherheit wiegen, dass alles gut geht, wir noch genug Zeit haben. Aber am 30. Tag kippt das Ganze. Genauso verhält es sich mit unserer Erde. Wir haben unsere Wirtschaft während der letzten Jahrzehnte ungebremst weiterentwickelt, und ein Teil von uns glaubt, dass wir endlos damit weitermachen können. Aber das ist ausgeschlossen.
CYRIL: Glauben Sie, wir schaffen die Kehrtwende noch rechtzeitig, oder haben Sie angesichts dessen, was sich da abzeichnet, schon fast die Hoffnung verloren und sogar Angst?
LESTER: Ich glaube, wir sollten alle ein wenig Angst haben, aber ich glaube auch, dass wir in der Lage sind, uns schnell umzuorientieren. Ich erinnere mich an den Zweiten Weltkrieg. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor waren die Vereinigten Staaten von einem Tag auf den anderen eine Kriegsnation, ohne im Geringsten darauf vorbereitet zu sein. Damals erklärte Präsident Roosevelt, wir müssten 60.000 Flugzeuge bauen, 40.000 Panzer … Die Zahlen waren gewaltig. Niemand wusste, wie wir das schaffen sollten. Roosevelt hat einfach neue Prioritäten gesetzt. Er hat über Nacht den Verkauf von Neuwagen in den USA verboten. Punkt. Ende der Diskussion. Da haben die Automobilhersteller begriffen, dass sie ihre Montagebänder für den Bau von Panzern und Flugzeugen umrüsten mussten, wenn sie nicht Pleite gehen wollten. Ich war kürzlich in Detroit bei den alten Fabriken von Ford, da kamen mir die Filme von damals wieder in den Sinn, mit Bildern von Bombern des Typs B-24 und B-29, die die Fabrikhallen verließen. Wir haben keineswegs Jahrzehnte gebraucht, um die Wirtschaft umzustellen, nicht einmal Jahre. Wir haben es in ein paar Monaten geschafft. Und wenn wir das damals geschafft haben, dann sind wir mit vereinten Kräften auch heute in der Lage, das Klima nicht völlig außer Rand und Band geraten zu lassen. Aber wir brauchen ein Pearl Harbor. Vielleicht eine Dürre und den Verlust unserer ganzen Ernte, vielleicht weitere Unwetter, die unsere größten Küstenstädte verwüsten. Ein solches Ereignis lässt sich schwer voraussagen. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass wir so nicht weitermachen können. Wir müssen sehr bald eine neue Richtung einschlagen.
1 Die Bewegung Colibris, www.colibris-lemouvement.org.
2 Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC, dt. Zwischenstaatlicher Ausschuss über die Klimaveränderung.
3 www.wwf.de/themen-projekte/fluesse-seen/wasserverbrauch/wasser-verschwendung
4 Nancy Huston, L’espèce fabulatrice, Actes Sud, 2008, S. 14. Ins Deutsche übersetzt, bedeutet der Titel: Die Gattung der krankhaften Einbildungen.
5 Nature 486, Juni 2012, S. 52 – 58.
6 Kohlenstoffdioxyd.
7 Der ökologische Fußabdruck eines US-Amerikaners ist 14-mal größer als der eines Bewohners von Bangladesh.
8 „Der Klimawandel wird die Risiken für Gewaltkonflikte wie Bürgerkrieg, Gewalt zwischen Ethnien und gewalttätige Demonstrationen indirekt erhöhen“, 5. Sachstandsbericht des IPCC, 2014, http://ipcc-wg2.gov/AR5/.
Thomas Friedman, einer der bekanntesten Leitartikler der New York Times, hat mehrere Monate lang zu einem typischen Beispiel für diese Behauptung recherchiert. Vier Jahre vor Ausbruch des Syrienkrieges, der bereits Hunderttausende Opfer forderte, wurde das Land von einer schrecklichen Dürre heimgesucht, sodass sich Millionen Syrer auf die Flucht machten und etwa zwei Millionen in bittere Armut fielen. Viele von ihnen zogen vom Land in die Städte Damaskus und Homs, wo sie sich in winzigen, ungesunden Behausungen zusammendrängten. Die ausbleibende Reaktion der Regierung gegenüber der notleidenden Bevölkerung brachte viele Bauern auf und heizte eine allgemeine Stimmung des Aufruhrs an. Nach Jahrzehnten der politischen Instabilität und der religiösen Spannungen, nach Jahren der Diktatur und während der Revolutionen in der arabischen Welt trug diese Dürre das ihrige zu dem heute bekannten Drama bei. Daher kommen verschiedene US-amerikanische Untersuchungen zu dem Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen dem Konflikt und dem Klimawandel besteht (www.nature.com/news/climate-change-implicated.in-current-syrian-conflictI.17027?WT.mc_id=TWT_NatureNews).
9 Zum Beispiel Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, von Jean Ziegler (Bertelsmann, München 2008).