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3.9.8 Wahrnehmungsschulung

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Das Kernstück der AC-Systematik ist die Orientierung am wahrgenommenen Verhalten. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass gezeigtes Verhalten eine höhere Prognosegüte hat als sprachliche Beschreibungen. Das Verhalten des Kandidaten soll von den Beobachtern möglichst so notiert werden, wie diese es unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen, also gehört oder gesehen, haben. Erst von dieser reinen Wahrnehmung aus sollen die Beobachter die Wirkung, die dieses Verhalten auf sie gehabt hat, und schließlich die aus dieser Wirkung abgeleiteten Schlussfolgerungen aufnehmen.

Dieses Verfahren kann in der Beobachterschulung vom Moderator nicht oft genug betont werden. Die Rückführung von Urteilen und Wirkungen auf wahrgenommenes Verhalten erweist sich als die beste Vorgehensweise, denn über Wahrnehmungen lässt sich am wenigsten streiten. Es kann zwar sein, dass Beobachter einige Wahrnehmungen nicht gemacht haben, aber sobald die Erinnerung oder die Notiz an eine gemeinsame Wahrnehmung gefunden ist, ist ein sehr guter Ausgangspunkt geschaffen, die Wirkungen, welche ein und dasselbe Verhalten hervorgerufen haben, zu diskutieren und die erfolgte subjektive Beurteilung eventuell in Frage zu stellen.

Diese Vorgehensweise ist der Kernpunkt des AC und zugleich der Grund, warum es valider als andere Methoden der Personalauswahl sein kann: Mehrere Beobachter bündeln ihre subjektiven Eindrücke (die auf Fakten der Verhaltenswahrnehmung fußen) zu einem Konsens und machen diese damit ein Stück weit objektiver. Das führt in den meisten Fällen dazu, der Leistung eines Kandidaten gerechter zu werden, denn je mehr Objektivität vorherrscht, umso mehr nähert man sich einem umfassenden Bild des Kandidaten, das der Wirklichkeit entspricht. Die im AC zugrunde gelegten Annahmen entsprechen demnach einem erkenntnistheoretischen Realismus (Achouri 2003). Um diese Grundhaltung bei den Beobachtern zu erzeugen, empfiehlt es sich, die Wahrnehmungsschulung mit Bildern zu beginnen. Hierzu eignen sich beispielsweise Kippbilder, die mehrdeutige Darstellungen zeigen ( Abb. 19).


Abb. 19: Necker-Würfel und Saxofonist/Frauengesicht?

Um die Geduld der Beobachter nicht zu überstrapazieren, empfiehlt es sich, nach mehreren Bildinterpretationen zügig zu erklären, wofür die Bilder stehen. Es sollte klargestellt werden, dass alle Äußerungen der Beobachter richtig waren und es somit keine falsche Version der Wahrnehmung gibt, sondern jede einzelne Wahrnehmung zum Gesamtbild der Wirklichkeit beiträgt. Die Asch-Experimente (Ash 1951/1956) zum normativen sozialen Einfluss haben bereits in den 1950er Jahren gezeigt, dass selbst ein falsches Urteil der Mehrheit die eigene Urteilsbildung beeinflussen kann, insbesondere bei unmittelbarer Anwesenheit hoher Entscheider. Um hier sicherzustellen, dass ein Beobachter keine »private Akzeptanz« entwickelt und das offensichtlich falsche Urteil der Majorität tatsachlich internalisiert, ist es wichtig, dass der Moderator die Autonomie der individuellen Validitäten stärkt und auch darauf hinweist, dass gerade diese Pluralität der Urteile die höhere Objektivität eines AC bewirkt. So soll jede Äußerung eines Beobachters willkommen sein, auch wenn sie ggf. von allen anderen Beobachtungen abweicht, weil sie das Bild vom Kandidaten ergänzt und auch eine andere Sicht des Kandidaten zulässt. Visualisierungen ermöglichen meist eine schnelle, intuitive Erkenntnis, aber auch Texte können geeignet sein ( Abb. 20).


Abb. 20: Das Auge – Gibran (1986)

Unsere Wahrnehmung ist immer auch von vorherigen Eindrücken beeinflusst, und zum Teil ändert sich die Wahrnehmung auch nur graduell zu einem neuen Ordnungsparameter. Jeder weiß von sich beispielsweise, wie zäh sich Vorurteile revidieren lassen. Bildlich kann man das sehr gut mit dem sogenannten Hysterese-Phänomen zeigen. So ändern sich auch visuell Übergänge bei Kippbildern oft nicht abrupt, sondern graduell. Das liegt daran, dass erste Eindrücke vorhanden bleiben, auch wenn sie nicht mehr wahrgenommen werden (griech. hysteros = hinterher). Den graduellen Übergang von einem Ordnungsparameter in der Wahrnehmung zum nächsten kann man sehr schön beim Übergang vom »Männergesicht« der oberen Zeile zur »Frauengestalt« in der unteren Zeile in ( Abb. 21) beobachten. Bei diesem Bild ist interessant, dass 86 Prozent der Männer in einem Versuch zuerst die junge Frau sehen (Haken 2004).

Eine andere Wahrnehmungsfalle ist der sogenannte »Halo-Effekt«. Hier überstrahlt ein besonderes Merkmal alle anderen. Wenn ein Bewerber beispielsweise zu spät kommt, und ein Beobachter daraufhin auf generelle Unpünktlichkeit des Bewerbers schließt oder aufgrund eines Kleidungsmerkmals auf generelle Ordentlichkeit. Der »Kontrast-Effekt« beschreibt, wie Urteile durch unmittelbar vorhergehende Leistungen beeinflusst werden.


Abb. 21: Hysterese-Effekt

Der »Primacy-« bzw. »Recency-Effekt« beschreiben die Tendenz, als Beobachter seinem ersten bzw. letzten Eindruck stärkeres Gewicht zu verleihen. Das zuerst und zuletzt Wahrgenommene wird demnach am besten behalten und hat überproportional großen Einfluss auf die Entscheidung. Der Psychologe Solomon Asch erläuterte den Primacy-Effekt schon im Jahre 1946, indem er Versuchspersonen dieselben Attribute, nur in verschiedener Reihenfolge, darbot. Dabei wurden die ersten Attribute entscheidend für die Gesamtbewertung der Teilnehmer ( Abb. 22).

Die Arbeit von Asch (1946) ist in der Folge vielfach bestätigt worden. Aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung erklären den Primacy-Effekt als evolutionäre Entscheidungshilfe, der in der Amygdala des Gehirns seinen Ursprung hat. So haben wir sofort ein Gefühl, ob uns jemand sympathisch ist, oder wir ihm vertrauen. Untersuchungen des Hirnforschers Gerhard Roth (2003) haben gezeigt, dass für den allerersten Eindruck zum Teil weniger als eine Sekunde genügt. Diesem Effekt ist also nicht nur im AC, sondern insbesondere in Bewerbungssituationen wie dem Interview Rechnung zu tragen. Um den Primacy-Effekt in einem AC auszugleichen, lautet die Botschaft des Moderators in der Schulung also, dem ersten Eindruck unbedingt eine zweite Chance zu geben.

»Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance«.

Exp. Von Solomon E. Asch (1946): 6 Eigenschaften einer Person an 2 Gruppen; Reihenfolge beeinflusst die Bewertung:


Abb. 22: Primacy-Effekt

Eine weitere psychologische Wahrnehmungsfalle ist die »Implizite Persönlichkeitstheorie«. Sie beschreibt das eigene System von Überzeugungen, das bei Wahrnehmung und Beurteilung anderer mitwirkt, also beispielsweise: »Wer dick ist, ist auch gemütlich.« Schließlich ist es sicher hilfreich, sich auch das »Ähnlichkeitsphänomen« vor Augen zu halten. Demnach werden Menschen, die einem selbst ähnlicher sind, etwa hinsichtlich Aussehen, Auftreten, Herkunft, gleichem Dialekt oder gleicher Universität, besser beurteilt.

Die Beobachter sollten auch dafür offen sein, dass alle Teilnehmer in einer Übung nur gut oder nur schlecht abschneiden können. Eine Normalverteilung wäre Zufall, auch wenn unser Bauchgefühl dazu tendiert. Zusammenfassend wird der Moderator die Beobachter darauf hinweisen, dass es unmöglich ist, die erwähnten Wahrnehmungsfallen ganz zu vermeiden. Es ist aber sicher hilfreich, die psychologischen Mechanismen, die in die Beurteilung mehr oder weniger bewusst mit einfließen, zu kennen, und so u. U. Wahrnehmungsfallen zu Gunsten eines reflektierten Gesamtbildes, das sich vor allem auf die gezeigten Verhaltensweisen und damit die Leistung im AC stützt, in den Hintergrund treten zu lassen.

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