Читать книгу Todesfalle Campus - Dagmar Isabell Schmidbauer - Страница 24

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Als ihr Blick an diesem Vormittag in den Spiegel über dem Waschbecken fiel, hätte sie schon wieder laut aufheulen können. Sie sah einfach schrecklich aus. Ihre glanzlosen mausbraunen Haare waren wie jeden Tag zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gebunden, damit sie nicht so wild von ihrem Kopf abstanden. Früher hatte sie ihrer nichtssagenden Haarfarbe gern mit einer rötlichen Haartönung fröhliche Glanzlichter verpasst, aber jetzt … Unter ihren Augen lagen hässliche dunkle Schatten, die Haut war blass und welk und die Lippen so schmal und farblos, dass sie fast übergangslos mit Wangen und Kinn verschmolzen. Es war das Gesicht einer Fremden, einer Frau, die so gar nicht zu ihrem innersten Wesen passen wollte und doch immer massiver Besitz von ihr ergriff.

Wo war sie geblieben, die lebenslustige Mandy, die so vertrauensvoll und optimistisch in den Westen geflüchtet war, mit einem Mann, den sie deshalb liebte, weil er so kraftvoll und zuverlässig war und ihr versprochen hatte, dass im goldenen Westen für sie beide alles gut werden würde.

Wie ein kleiner Schatten huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und verschwand gleich darauf zwischen den Falten ihrer Mundwinkel. Resigniert schloss sie die Augen und hielt sich schnell am Waschbecken fest, damit sie nicht völlig den Halt verlor.

Wie lange hatten sie als Familie schon nichts mehr unternommen, wie lange nicht mehr miteinander gelacht? Wo war die Liebe von damals geblieben?

Vanessa war ihr Sonnenschein gewesen, mit ihren Engelslöckchen hatte sie jeden betört. „So süß, die Kleine, und diese Haare, genau wie der Papa!“, hatten die Leute geschwärmt, wenn sie mit ihr auf dem Spielplatz war oder beim Ballettunterricht, im Schwimmbad, in der Musikschule und später – aber da war sie dann schon nicht mehr so süß, sondern langsam ziemlich schwierig – bei der Nachhilfe. Alles hätten sie getan, um Vanessa einen optimalen Start ins Leben zu ermöglichen, alles!

Als sie fünf gewesen war, bauten sie das Haus in Fischerdorf auch für Vanessa, die ein eigenes Zimmer ganz in Pink bekam, ihrer damaligen Lieblingsfarbe. Für die kleine Prinzessin sparten sie an nichts. In Fischerdorf waren sie glücklich gewesen, dort hatten sie wirklich gelebt, hatten ein hübsches Häuschen, einen schönen Garten, wo man sich mit den Nachbarn zum Grillen traf und über die Kinder sprach, über ihre Noten und darüber, wer von ihnen ins Comenius-Gymnasium in der Jahnstraße wechseln würde. Wer seinen Schatz liebte, bemühte sich, die Weichen rechtzeitig auf Erfolg zu stellen.

„Auf Erfolg trimmen!“ Mandy spie diesen Durchhalteslogan geradezu ins Waschbecken und wandte sich dann energisch ab.

Worin genau waren sie denn eigentlich erfolgreich gewesen?

Jens, der früher genauso hübsche Locken gehabt hatte wie später seine Tochter, trank seinen Schnaps inzwischen schon am Vormittag und das ganz selbstverständlich aus der Kaffeetasse. Anfangs hatte er noch gesagt, er bräuchte jetzt einen Schnaps, weil er Ärger gehabt hatte. Dann um besser einschlafen zu können. Manchmal hatte er sich zwischendurch einen genehmigt und dann auch einen zweiten, weil man auf einem Bein ja nicht stehen konnte. Irgendwann hatte er nichts mehr gesagt, weil es nichts mehr zu sagen gab. Er hatte dann einfach nachgeschenkt, und weil die Schnapsgläser so klein waren, hatte er gleich nach dem Frühstück die Kaffeetasse genommen.

Jetzt saß er wie jeden Vormittag im Wohnzimmer auf der abgewetzten Couch, trank seinen „kalten Kaffee“ und wartete darauf, dass jemand anrief, um ihm zu sagen, dass man ihn noch brauchte. Dass er nur eine kurze Pause eingelegt hatte und jetzt wieder voll im Leben stand. Aber dieser Anruf kam nicht und wenn, dann wäre er schon längst nicht mehr in der Lage gewesen, wieder in seinem alten Beruf zu arbeiten.

Sie dagegen hatte inzwischen einen Job an der Kasse einer Supermarktkette ergattert. Das war nicht das, wovon sie früher geträumt hatte, aber immerhin verdiente sie damit Geld und kam raus. Das Rauskommen war wohl das Wichtigste an der ganzen Sache.

Wenn Jens nicht trübsinnig vor sich hin stierte, dann putzte er die Wohnung, und wenn sie gerade zuhause war, musste sie ihm helfen. Schon am Morgen begann er damit, alle Sachen, die sie in der Nacht getragen hatten, aus dem Fenster zu schütteln. Er hasste Dreck jeder Art, aber der Feinstaub, der sich angeblich überall einnistete, war sein persönlicher Feind. Auch wenn sie nie so genau wusste, warum ausgerechnet ihre Schlafanzüge staubig sein sollten, musste sie sie kräftig zum Fenster hinaus ausschütteln, bevor sie sie ordentlich zusammengefaltet unters Kissen legen durfte.

Mandy warf einen Blick auf die Wanduhr. Noch zwei Stunden, dann begann ihre Schicht. Vielleicht sollte sie etwas kochen, vielleicht sich zu ihm setzen und seine Hand nehmen. Doch sie stand nur da und versuchte krampfhaft nicht daran zu denken, was die beiden Kommissare ihr erzählt hatten. Vanessa war so lange nicht mehr zuhause gewesen, es würde sich also gar nichts ändern, wenn sie einfach so tat, als wäre sie nur weggegangen. Vielleicht ins Ausland, so wie sie sich das gewünscht hatte.

Nachdem Jens noch immer nichts sagte, wandte sie sich ab und ging in die Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Als er fertig war und ein köstliches Aroma verbreitete, öffnete sie die Schublade, um einen Keks herauszuholen. Kaffee und Kekse gehörten zusammen, das geschah alles ganz automatisch. Als sie aber den Keks in der Hand hielt, bemerkte sie, dass sie gar keine Lust darauf hatte. Sie mochte nichts mehr essen. Viel zu lange hatte sie mit Essen versucht, ihre innere Leere zu füllen.

Warum hätte Vanessa nach Hause kommen sollen? Und wo sollte das sein, wo es doch seit der Hochwasserkatastrophe kein Zuhause mehr gab, nur noch diese Wohnung, in der sie selbst schon zu ersticken drohte, mit einem Mann, der inzwischen nur noch vor sich selber davon lief.

Anfangs hatten die Leute noch Mitleid mit ihnen gehabt, aber was half das schon? Ein Fernsehteam kam, um ihre Tragödie zu filmen, und am Ende mussten sie einsehen, dass sie ja noch Glück im Unglück gehabt hatten, weil sie zumindest gleich eine billige Wohnung gefunden hatten.

Anfangs hatten sie noch gesagt, sie würden schon damit klarkommen, weil das alle sagten. Wenn es so viele trifft, dann schweißt das zusammen, hatten sie gesagt. Aber viele waren schon wieder zurück in ihren Häusern oder waren weggegangen, sie dagegen mussten bleiben, weil sie buchstäblich nichts mehr hatten. Und jetzt, Mandy schluchzte laut auf, jetzt hatte sie noch nicht einmal mehr die Hoffnung darauf, dass ihr Kind eines Tages zu ihr zurückkommen würde. Es sei denn, die Polizei hatte sich geirrt.

Dieser Gedanke gefiel ihr so sehr, dass sie ihn ganz tief in ihrem Herzen verankerte. Vielleicht war ja alles nur ein großer Irrtum. Vielleicht war ihr kleines Mädchen gar nicht tot, vielleicht musste sie nur die Augen schließen und wieder öffnen und dann war alles so, wie es früher einmal gewesen war. Das Haus, der Garten, ihre Träume, die Arbeit und die süße Vanessa.

Vielleicht …

Als das Telefon klingelte, wäre sie fast umgefallen. Der Klingelton war laut und schrill und durchschnitt die Stille unbarmherzig. Jens hatte am Anfang hier in der Wohnung immer Angst gehabt, er würde einen wichtigen Anruf verpassen. Obwohl der nie gekommen war, hatten sie schließlich ganz vergessen, den Klingelton wieder leiser einzustellen.

Mandy lief ins Wohnzimmer, um zu erfahren, wer da in ihre Einsamkeit eindringen wollte. Nachdem ihr Mann keine Anstalten machte sich zu erheben, näherte sie sich ganz vorsichtig dem Apparat, räusperte sich und nahm ab. „Hallo?“

„Hallo Frau Auerbach, hier ist Steffi, ich bin die beste Freundin von Vanessa und wollte Ihnen sagen, wie leid mir das alles tut.“

„Ja“, antwortete Mandy, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Sie kannte keine Steffi, kannte keine Freundinnen von Vanessa, außer denen aus dem Kindergarten und der Grundschule.

„Das muss alles sehr schwer für Sie sein, kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Das Mädchen hörte sich sehr nett an, fand Mandy und lächelte. „Ach wenn doch Vanessa nur auch einmal nach mir gefragt hätte.“

„Hat sie das nicht?“, fragte Steffi, woraufhin Mandy erst bewusst wurde, dass sie das nicht gedacht, sondern gesagt hatte. Aber jetzt war es raus und letztlich stimmte es ja auch.

„Ach“, wiegelte sie ab und wischte mit einer energischen Handbewegung den Gedanken weg, „bestimmt hatte sie viel zu lernen für ihr Studium.“

„Ich könnte ja mal vorbeikommen und nach Ihnen schauen“, erklärte diese Steffi ganz ernst, und Mandy dachte entsetzt: Das darf ich auf keinen Fall zulassen.

„Das würde mir das Herz brechen“, erklärte sie, ohne über ihre Worte nachzudenken. Und dann war der Damm gebrochen. Sie erzählte einem völlig fremden Mädchen, wie es sich anfühlte, wenn das eigene Kind einem entgleitet.

Im Nachhinein machte sie sich Vorwürfe wegen ihrer Vertrauensseligkeit, aber offensichtlich war diese Steffi ja wirklich ein nettes, verständnisvolles Mädchen. Und sie konnte doch nicht ahnen, was die noch mit ihrer Geschichte anfangen würde.


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