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a) Verhältnis zwischen spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen und Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts
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Die spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen genießen grundsätzlich Anwendungsvorrang vor den Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts. Ob und ggf. inwieweit das Spezialgesetz die sondergesetzlich geregelte Materie abschließend regelt und damit einen Rückgriff auf die Vorschriften des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausschließt, müssen Sie in jedem Einzelfall durch Auslegung des Spezialgesetzes und seiner Ermächtigungsgrundlage prüfen. Als Grundregel sieht das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht vor, dass Bundes- oder Landesgesetze, in denen die Gefahrenabwehr spezialgesetzlich geregelt ist, den allgemeinen Gefahrenabwehrgesetzen vorgehen und dass die allgemeinen Gefahrenabwehrgesetze, sofern die Spezialgesetze keine abschließenden Regelungen enthalten, ergänzend anzuwenden sind (vgl. z.B. § 1 Abs. 2 S. 2 OBG).[17]
Beispiel 1
Z betreibt einen Zeitschriften- und Tabakladen. Berufliche und persönliche Sorgen haben ihn zum Alkoholiker werden lassen. Als die zuständige Behörde hiervon Kenntnis erlangt, untersagt sie dem Z jedwede gewerbliche Tätigkeit wegen Unzuverlässigkeit. – Die auf § 35 Abs. 1 GewO gestützte Gewerbeuntersagung gegenüber Z betrifft die Ausübung gewerblicher Tätigkeit (das „Ob“ gewerblicher Tätigkeit). Die Gewerbeordnung ist in erster Linie Gewerbezulassungsrecht (vgl. auch § 1 GewO, der den Grundsatz der Gewerbefreiheit einfach-gesetzlich normiert) und enthält insoweit abschließende Regelungen. Ein Rückgriff auf allgemeinere Bestimmungen (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) ist daher ausgeschlossen.
Beispiel 2
Die zuständige Bauaufsichtsbehörde erfährt, dass Familie B ihren Bungalow um ein Obergeschoss aufgestockt hat, ohne zuvor eine Baugenehmigung zu beantragen. Das Bauvorhaben ist nach geltendem Baurecht unzulässig. Die Behörde erlässt daher eine Abrissverfügung. – Durch die Bauordnung NRW 2018 werden den Baubehörden Aufgaben zur Abwehr baurechtlicher Gefahren übertragen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben steht den Baubehörden u.a. die bauordnungsrechtliche Generalklausel des § 58 Abs. 2 S. 2 BauO NRW 2018 zur Verfügung (s. dazu Skript „Baurecht NRW“ Rn. 447 f.). Auf der Grundlage dieser Bestimmung kann die zuständige Bauaufsichtsbehörde die zur Abwehr baurechtlicher Gefahren notwendigen Maßnahmen ergreifen, hier somit eine Abrissverfügung wegen des Schwarzbaus erlassen. Ein Rückgriff auf eine allgemeinere Befugnisnorm (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) ist ausgeschlossen.
JURIQ-Klausurtipp
Im Zweifel können Sie davon ausgehen, dass eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage einen abschließenden Charakter hat, weil der Gesetzgeber mit dem Erlass der spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage einen spezifischen Zweck verfolgt und insoweit einen Rückgriff auf allgemeinere Regelungen ausschließen will.[18]
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Ergibt Ihre Prüfung, dass eine abschließende spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage zwar existiert, aber in Ihrer Fallbearbeitung nicht eingreift, ist ein Rückgriff auf eine Ermächtigungsgrundlage des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausgeschlossen.[19]
Beispiel 1
Anders als in Beispiel 1 oben (Rn. 68) ist Z nicht alkoholkrank. Dennoch wird ihm die gewerbliche Tätigkeit wegen Unzuverlässigkeit untersagt. – Da Z nicht alkoholkrank ist, ist er gewerberechtlich zuverlässig. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 Abs. 1 GewO liegen daher nicht vor. Die Behörde kann in diesem Fall nicht auf allgemeinere Regelungen (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) zurückgreifen, um auf dieser Grundlage die Gewerbeuntersagung gleichwohl zu verfügen.
Beispiel 2
Anders als in Beispiel 2 oben (Rn. 68) ist das Bauvorhaben der Familie B genehmigungsfähig. – Eine auf § 58 Abs. 2 S. 2 BauO NRW 2018 gestützte Abrissverfügung ist in diesem Falle rechtswidrig. Die Behörde kann auch hier nicht z.B. auf die ordnungsbehördliche Generalklausel zurückgreifen, um auf dieser Grundlage die Abrissverfügung gleichwohl zu erlassen.
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Ergibt Ihre Prüfung, dass eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage existiert, diese aber nicht abschließend ist, sondern in bestimmten Punkten (z.B. hinsichtlich des Adressaten oder der auszusprechenden Rechtsfolge) keinen abschließenden Charakter hat, können diese Lücken durch Rückgriff auf die einschlägigen Bestimmungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts geschlossen werden.
Beispiel 1
Wie oben (Rn. 68) gesehen, enthält die Gewerbeordnung grundsätzlich nur Gewerbezulassungsrecht. Soweit lediglich die Art und Weise der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit betroffen ist, enthält die Gewerbeordnung daher keine abschließende Regelung mit der Folge, dass ein Rückgriff v.a. auf die ordnungsbehördliche Generalklausel möglich ist.
Beispiel 2
Die BauO NRW 2018 enthält mit §§ 53 ff. spezielle Regelungen in Bezug auf den Adressaten einer Bauordnungsverfügung „bei der Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und der Beseitigung von Anlagen“ (vgl. § 52 BauO NRW 2018). Soweit diese Bestimmungen nicht einschlägig sind (insbesondere nach Abschluss der genannten Tätigkeiten), ist auf die allgemeinen Regelungen (§§ 17 ff. OBG) zurückzugreifen.
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Ein wichtiges und vor allem auch prüfungsrelevantes Beispiel bildet in diesem Zusammenhang das Versammlungsrecht, dessen Verhältnis zum allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht im folgenden Exkurs näher dargestellt werden soll.