Читать книгу Die Chroniken Aranadias II - Die Herrin der Seelen - Daniela Vogel - Страница 11
Kapitel 5
ОглавлениеSaphira saß neben dem Bett des Fremden und seufzte leise. Seit über zwei Wochen befand er sich nun schon in diesem Zustand zwischen Leben und Tod. Wenn sich nicht bald etwas ändern würde, dann ... Saphira wollte gar nicht darüber nachdenken, was dann geschehen würde. Sein Gesicht war ihr mittlerweile so vertraut, als würde sie ihn schon Jahre kennen. Die Schatten seiner Wimpern, die auf seinen mittlerweile eingefallenen Wangen lagen. Der volle Mund, den inzwischen ein dunkler Bart umrandete. Es war schon erstaunlich, wie schnell man sich an den Anblick eines Menschen gewöhnen konnte. Der junge Mann wälzte sich nun auf seinem Bett unruhig hin und her. Er stöhnte leise. Saphira legte ihm beruhigend ihre Hand auf die Stirn. Er war glühend heiß. Sie befeuchtete ein Tuch mit eiskaltem Wasser und drückte es auf seine Stirn. Eine Hand schnellte nach oben, packte sie an ihrem Handgelenk und seine vom Fieber glasigen Augen öffneten sich.
»Nein!«, flüsterte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. Saphira sah in seine bernsteinfarbenen Augen und schüttelte verzweifelt den Kopf. Er ließ ihre Hand augenblicklich los, drehte seinen Kopf zur Seite und schloss seine Augen. Dann seufzte er. Ihr Vater, der im hinteren Bereich des Raumes gestanden hatte, kam langsam zu ihr herüber.
»Kind, es hat keinen Sinn. Du kannst niemanden retten, der nicht gerettet werden will!«
»Was meinst du damit?«
»Ich beobachte Euch jetzt schon eine ganze Weile. Dein junger Freund, hier, weigert sich ins Leben zurückzukehren. Er hat mit allem abgeschlossen und ist bereit zu gehen.«
»Vater, das kann nicht dein Ernst sein.«
»Es ist mein bitterer Ernst. Ich habe so etwas schon oft miterlebt. Viele Männer, die in einer Schlacht verwundet werden, ergeht es ähnlich. Obwohl sie nicht tödlich verwundet sind, sterben sie. Sie siechen dahin und irgendwann ist es mit ihnen vorbei. Das, was sie erlebt haben, hat ihren Geist gebrochen. Ihnen fehlt der Sinn, auf dieser Welt zu verharren und deshalb sterben sie. Es ist nicht ihr Körper, der aufgibt, sondern ihr Verstand, der ihnen befielt, alles hinter sich zu lassen.«
»Du denkst also, er will nicht mehr leben?«
»Genau das denke ich.«
»Aber, Vater warum? Am Strand, als er kurz erwacht ist, bat er mich ihm zu helfen. Er hätte mich doch nicht darum gebeten, wenn er nicht gewollt hätte, dass ich es auch tue.«
»Manchmal ist es halt so. Vielleicht hat er seine Meinung inzwischen geändert.«
»Das will und kann ich nicht glauben.«
»Kind, was du denkst und fühlst, ist vollkommen unwichtig. Es geht darum, was er denkt und fühlt.« Saphira betrachtete den jungen Mann eingehend. Wenn ihr Vater recht mit seiner Vermutung hatte, dann musste etwas Schwerwiegendes passiert sein. Ein Schiffbruch war vermutlich tragisch, aber in ihren Augen nicht bedeutend genug. Es waren wahrscheinlich etliche seiner Männer ertrunken, aber so wie er gebaut war, war das nicht das erste Mal, dass er mit dem gewaltsamen Tod eines Menschen konfrontiert wurde. Er war höchstwahrscheinlich in seinem früheren Leben ein Kämpfer gewesen. Seine stahlharten Muskeln sprachen auf jeden Fall dafür. Wenn er aber ein Kämpfer war, dann waren grausame Verstümmlungen und Tode für ihn nichts Neues. Wieso, so fragte sie sich, gab er dann gerade jetzt auf? Jetzt, wo sie ihn endlich gefunden hatte? Ihr war nicht bewusst, dass ihre Gedanken gerade in eine Richtung drifteten, die sie niemals für möglich gehalten hätte. Vielleicht lag es daran, dass er der erste junge Mann auf dieser Insel war, doch Saphira wollte nicht glauben, dass sie so töricht sein könnte, sich in den Erstbesten zu verlieben, der vor ihrer Tür erschien. Etwas Besonderes war mit dem Fremden. Es war nicht nur sein gutes Aussehen, das sie in seinen Bann zog. Es war mehr, doch was es war, das konnte sie sich auch nicht erklären.
Atticus beobachtete seine Tochter dabei, wie sie den Fremden ansah. Genauso hatte Silvana ihn immer angesehen. Silvana! ... So viele Jahre waren sie nun schon voneinander getrennt. So viele Jahre, in denen er nicht mit ihr sprechen und sie nicht berühren konnte. Saphira war mittlerweile ein viertel Jahrhundert alt. Ein halbes Leben, ohne seine große Liebe. Die ersten Jahre nach Silvanas Versteinerung war er vollkommen kopflos mit seinem Kind über die Weltmeere gesegelt. Immer wenn er die Kleine betrachtet hatte, waren ihm Tränen in die Augen gestiegen und er war der Verzweiflung nahe gewesen. Oft genug hatte er kurz davor gestanden, zum weißen Palast des Meeres zurückzukehren, sich vor Silvanas Mutter auf die Knie zu werfen und sie anzuflehen, ihn wieder mit seiner großen Liebe zu vereinen. Damals wäre es ihm lieber gewesen ihr als Statue gegenüberzustehen und sie aus seinem steinernen Gefängnis zu betrachten, als ewig auf ihren Anblick verzichten zu müssen. Doch das Kind hatte ihn daran gehindert, es auch zu tun. Sie war sein Sonnenstrahl in der dunklen, kalten Gruft seines Herzens.
Dann irgendwann hatte er beschlossen, dass es an der Zeit wäre, die lange Reise zu beenden. Er war mit ihr auf dieser Insel gelandet und sie war zu ihrem Heim geworden. Ihr Unterschlupf, der sie vor der gesamten Welt verbarg. Die Jahre vergingen und Saphira war Silvana immer ähnlicher geworden. Das Mädchen war zu einer Schönheit herangewachsen, die jeden Mann in ihren Bann ziehen konnte. Nur ihr selbst war es nicht bewusst. Sie war genauso feingliedrig wie ihre Mutter. Sie hatte Silvanas saphirblaue Augen und auch ihre Gesichtszüge waren ihrer Mutter so ähnlich, dass es Atticus oftmals noch immer die Sprache verschlug, wenn er ihr ins Gesicht sah. Das Einzige, was sie von ihm geerbt hatte, waren ihre weißblonden Haare, die ihr in sanften Wellen bis hinunter zu ihren Schenkeln reichten. Er seufzte erneut, während er sie weiterhin beobachtete. Selbst ihre Bewegungen glichen die ihrer Mutter, wie ein Haar dem anderen. War es da verwunderlich, dass er sie vor der gesamten Welt hatte abschirmen wollen, nur um sie zu schützen? Um ihr Silvanas Schicksal zu ersparen, war er sogar so weit gegangen, nur Männer seines Alters auf die Insel zu bringen, in der Hoffnung, niemals Saphiras Interesse an irgendeinem von ihnen zu erwecken. Bisher war es ihm auch gelungen. Doch der Sturm hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ihm kreisten plötzlich wieder Meranas Worte durch seine Gedanken, wie in den letzten Tagen sooft. Er sah sie vor sich und hörte, wie sie ihm leise zuflüsterte:
Mit List gezeugt, aus Leid geboren,
wird sie zu Höherem erkoren.
Aus Sehnsucht entsprungen, durch Hoffnung gefeit,
ahnungslos zur Liebe bereit.
Aus dem Meer wird er kommen, wie
vorherbestimmt,
der Kreislauf endet mit einem Kind.
Doch der Treue ergeben, wird sie weiter leben.
Sein Tod wird besiegeln, wie sehr sie sich lieben.
Um den Schmerz zu beenden, muss das Schicksal
sie wenden.
Das Lied muss erschallen, ihr Gesang wird
erklingen,
die Mauern fallen und die Felsen zerspringen.
Was verdammt, wird erlöst und ewig bestehen,
der Fluch wird gebrochen und die Macht
untergehen.
Saphiras Schicksal war aus dem Meer gekommen. Es lag dort buchstäblich vor ihr. Atticus wusste nicht, wie er mit dieser Tatsache umgehen sollte. Einerseits schrie seine innere Stimme, »Töte ihn!«, andererseits warnte sie ihn, aber auch davor es tun, denn alle Hoffnung auf Erlösung wäre dadurch zerstört. Er war hin und her gerissen zwischen seiner Liebe zu seiner Tochter und seiner Liebe zu Silvana. Sollte er einfach nur abwarten und es geschehen lassen, in der Erwartung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Oder sollte er eingreifen und es verhindern. Er war sich nicht sicher.
Das Schlimmste an seiner Lage war jedoch, dass er immer noch nicht genau wusste, was der Rest der Prophezeiung zu bedeuten hatte. Der Anfang war ihm klar. Er saß und lag ja direkt vor seinen Augen. Doch welche Bedeutung hatten die anderen Zeilen? Er hatte Männer in alle Herrenländer ausgesandt, damit sie etwas über den Orakelspruch herausfanden, doch alle waren sie ohne Ergebnis zurückgekehrt. Es gab keine Aufzeichnungen, keine mündlichen Überlieferungen, nichts, was ihm weitergeholfen hätte. Irgendwann hatte er einfach aufgegeben. Doch allmählich wuchs in ihm die Angst, dass seine Aufgabe etwas verfrüht gewesen war, denn jetzt benötigte er dringend Antworten. Antworten auf Fragen, die er viel zu lange vor sich hergeschoben hatte und die keinen Aufschub mehr duldeten.
»Vater«, Saphiras Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »kann man wirklich nichts für ihn tun?« Ihre großen Augen sahen Atticus flehend an. Er strich ihr zärtlich mit einer Hand eine Locke aus dem Gesicht, dann seufzte er erneut.
»Ach, Tochter! Ich würde dir ja gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie. Vielleicht ist es für ihn wirklich zu spät und du musst ihn gehen lassen.«
»Ich will ihn aber nicht gehen lassen«, gab sie trotzig zurück. Sie war erstaunt über sich selbst. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?
»Eine Möglichkeit gibt es vielleicht noch.«, Atticus zögerte.
»Welche?«
»Es ist so. Etwas hindert ihn daran, ins Leben zurückzukehren. Du musst ihn dazu bringen, es dir zu offenbaren.«
»Wie soll ich das machen? Ich weiß doch noch nicht einmal, was es ist?«
»Lass dir etwas einfallen!«