Читать книгу Die Chroniken Aranadias II - Die Herrin der Seelen - Daniela Vogel - Страница 9
Kapitel 3
ОглавлениеDie untergehende Abendsonne, deren gleißender, glühender Ball bereits zur Hälfte hinter dem Horizont versunken war, tauchte das Meer und den Strand in ihr rotes Licht. Drei Tage lang hatte ein solcher Sturm getobt, wie noch niemals zuvor in ihrem Dasein. Sie konnte sich auf jeden Fall nicht an etwas Ähnliches erinnern. Der Himmel hatte sich verdunkelt, als wäre es tiefste Nacht. Der Regen peitschte über die Wellen, die sich meterhoch aufgetürmt und fast den gesamten Strand überspült hatten. Der Wind hatte mit einer solchen Gewalt an den Bäumen gezerrt, das viele jetzt entwurzelt auf dem Boden lagen. Es war einfach höllisch gewesen. Inzwischen war es wieder fast windstill und das Meer lag wie ein glatter Spiegel vor ihren Augen. Die Wellen plätscherten gemächlich auf den Sand und nur durch das angeschwemmte Strandgut konnte man noch erahnen, was sich in den letzten Tagen abgespielt hatte.
Saphira, stand mit ihren nackten, von der Sonne gebräunten Beinen im knietiefen Wasser und betrachtete den Horizont. Die leichte Abendbrise fuhr durch ihr langes, weißblondes Haar und spielte mit ihren Locken. Es war eine Wohltat nach drei Tagen endlich wieder das Haus verlassen und ihr Gesicht in die Sonne halten zu können. Saphira atmete tief ein und saugte die salzhaltige Luft in ihren Körper. Über ihr kreisten Möwen, die hin und wieder zur Landung ansetzen, um in dem angeschwemmten Treibgut nach Krabben oder irgendwelchem anderen Getier zu suchen. Alles wirkte so friedlich und sie genoss jede Sekunde. Hier, in diesem Augenblick fühlte sie sich frei. So frei, wie noch niemals zuvor.
Es war nicht so, dass sie sich zu Hause eingesperrt fühlte. Ihr Vater hatte ihnen einen wahren Palast geschaffen. Die Räume waren riesig und die Fenster so groß, dass das Tageslicht bis in die hintersten Winkel dringen konnte. Doch Saphira hasste es innerlich, vom Meer getrennt zu sein. Nur, wenn die sanften Wellen ihre Knöchel umspielten, war sie richtig lebendig und die letzten drei Tage waren für sie die Hölle gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte es sie immer wieder zum Meer gezogen. Oft verbrachte sie Stunden damit, einfach nur mit den Füßen im seichten Wasser zu stehen und wortlos den Horizont zu betrachten. Ihr Vater hatte immer genau gewusst, wo sie war und was sie trieb, doch er hatte sie niemals gestört oder sie daran gehindert. Erst wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, war er gekommen, hatte sie auf seine starken Arme genommen und zurück ins Haus getragen. Sie konnte sich auch heute noch nicht erklären, wieso sie tat, was sie getan hatte. Aber der Drang, es immer wieder zu wiederholen war einfach übermächtig. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, auch wenn sie es noch so oft versucht hatte. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, dass sie die Liebe zum Meer von ihrer Mutter geerbt hätte. Seine Augen hatten sie traurig angeblickt und er hatte sogar geweint. Ihr Vater weinte sonst nie! Es war für sie ein Schock gewesen, ihn so zusehen. Deshalb hatte sie auch nicht weiter gebohrt, obwohl sie gerne mehr über ihre Mutter erfahren hätte. Irgendwann, so hoffte sie wenigstens, würde ihr Vater von selbst anfangen, zu erzählen. Doch noch war es nicht so weit.
Saphira betrachtete noch einmal den Horizont. Der Himmel war jetzt in sämtliche Rotschattierungen getaucht, die sie kannte. Von hellorange bis zum dunkelsten Purpur war jede erdenkliche Nuance ihrer Lieblingsfarbe vorhanden. Es war ein überwältigender Anblick. Nach jedem heftigen Sturm war es immer so. Ihr schien es, als wollte sich die Natur mit diesem Farbenspiel bei ihr für die vergangenen Tage entschuldigen. Sie seufzte, dann flüsterte sie leise, »Danke!«, in den Himmel. Da es schon spät war und die Sonne ihre letzten Strahlen bald im Meer versenken würde, beschloss sie noch kurz das Treibgut nach irgendwelchen brauchbaren Gegenständen abzusuchen. Es war schon erstaunlich, was ein so gewaltiges Unwetter alles an den Strand spülte. Proviantkisten und Fässer waren da ihre geringste Beute. Sie besaß mittlerweile eine gewaltige Sammlung von Gegenständen aus der gesamten Welt. Da gab es kunstvoll bemalte Krüge aus dem hohen Norden, wie ihr Vater ihr erklärt hatte. Waffen mit verzierten Klingen. Manche gebogen, wie eine Banane, andere gerade wie ein Messer nur viel länger. Kisten mir wunderschön gearbeiteten Schlössern und jede Menge Kleidung. Sie selbst trug am liebsten ihre kurze Tunika, die ihr bis knapp unter ihr wohl gerundetes Gesäß reichte und die sie mit einem Gürtel über ihrer schmalen Taille zusammenraffte. Dennoch waren die Kleider, die sie auf ihren Erkundungstouren gefunden hatte, einfach wunderschön. Am besten gefiel ihr ein Dunkelrotes, dass mit Spitze besetzt war. Es war aufwendig bestickt und die kleinen Perlen, die das Muster vervollständigten, schimmerten wie kleine Tränen auf der dunklen Seide. Ihr Vater hatte damals, als sie es entdeckt hatte, gemeint, es wäre bestimmt für eine Prinzessin angefertigt worden, und da sie ja seine Prinzessin wäre, würde es demnach ausgesprochen gut zu ihr passen. Sie hatte nur gelacht und erwidert, wenn sie dieses Kleid trüge, würde sie es nur ruinieren. Es wäre viel zu schade, um damit durch das salzige Wasser zu waten. Da hatte ihr Vater auch lachen müssen. Jetzt hing das Kleid sorgfältig gereinigt und geglättet in ihrem Zimmer, so als warte es nur darauf, dass sie es endlich anzog.
Die Sonne war jetzt nur noch als schmaler Strich am Horizont zu erkennen. Wieder seufzte sie. Wenn sie sich nicht ein wenig beeilte, dann würde die Sonne endgültig untergehen, noch bevor sie etwas erbeuten könnte. Sie gab sich einen Ruck und watete aus dem Wasser heraus in Richtung Strand. Dort angekommen lief sie zu den verstreuten Seetanghaufen, die überall herumlagen. Einige waren nichts weiter als das, was sie auch sein sollten: Seetanghaufen. Doch schon nach kürzester Zeit hatte sie etliche Dinge gefunden, die sie nebeneinander auf dem noch immer warmen Sand aufreihte. Zufrieden betrachte sie ihre Ausbeute. Da gab es verschiedene Krüge, einen mit Juwelen verzierten Dolch und ein goldenes Schmuckkästchen, das sie zu Hause öffnen würde. Sie lief noch ein Stückchen weiter über den Sand, als plötzlich etwas am Rand der Bucht ihre Aufmerksamkeit erregte. Dort hatte der Wind einen riesigen Haufen Treibholz angespült, der über und über mit schwarzem Seetang bedeckt war. Inmitten dieses fast schwarzen Haufens sah sie etwas Rotes aufblitzen. Wie von selbst trugen sie ihre Füße in seine Richtung. Als sie ihn fast erreicht hatte, verlangsamte sie ihre Schritte. Was war nur mit ihr los? Sie zögerte sonst doch nicht? Vorsichtig, fast lautlos trat sie näher, dann sah sie ihn. Er lag bäuchlings auf etwas, was vermutlich einmal eine Schiffsplanke gewesen war. Seine Kleidung war vom Sand vollkommen verdreckt und völlig zerrissen. Sein tiefschwarzes, schulterlanges Haar klebte feucht auf seinem Gesicht, sodass sie seine Züge nicht erkennen konnte. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem Hinterkopf und auch sein übriger Körper war mit Schnitten und Rissen übersät. Er musste die Hölle durchgemacht haben, aber die vergangenen Tage waren ja auch die Hölle gewesen. Woher er wohl kam? Sicher von einem Schiff, das im Sturm an den schroffen Klippen zerschellt war. Lebte er noch? Saphira zögerte. Sollte sie noch näher herangehen? Schließlich aber siegte ihre Neugier über ihre Vorsicht. Ohne sich dessen überhaupt richtig bewusst zu sein, ging sie Schritt für Schritt auf den jungen Mann zu.
Während sie sich ihm jetzt zaghaft näherte, knabberte sie nervös an ihrer Unterlippe. Es war ja nicht so, dass ihr Vater der einzige Mann in ihrem bisherigen Leben war. Doch alle Männer, die sie bisher gesehen hatte, waren in ihres Vaters Alter und somit vollkommen uninteressant für sie. Selbst von den Männern der Wache, die ihr Vater zu ihrem Schutz irgendwann mit auf die Insel gebracht hatte, war keiner in ihrem Alter. Es schien ihr fast, als hätte ihr Vater bei der Auswahl der Männer es zur Bedingung gemacht, dass sie auf keinen Fall jünger als er selbst sein durften. Der Mann hier vor ihr, zu dem sie sich nun langsam hinunterbeugte, war da ganz anders. Er war in etwa so groß wie ihr Vater und ihr Vater war ein richtiger Hüne. Er überragte die meisten seiner Männer fast um eine Haupteslänge. Doch nicht nur seine Größe war ihr aufgefallen. Sein pechschwarzes Haar zeigte noch keinerlei Zeichen des Alters. Weder wurde es langsam licht, noch durchzogen graue Strähnen die volle Haarpracht. Es wirkte so seidig, dass sie am liebsten ihre Finger hineingegraben hätte, um auszuprobieren, ob es sich auch genauso seidig anfühlte. Durch seine zerrissene Kleidung schimmerte haselnussbraune Haut, die sich über seine Muskelberge spannte. Sein Körper wirkte so perfekt, wie der, einer dieser Statuen, die in ihrer Vorhalle standen und die alte Götter darstellen sollten. Saphira hielt den Atem an. Noch immer hatte er sich nicht bewegt. Nicht einmal das Heben und Senken seines Brustkorbes war zu erkennen. »Allmächtiger«, betete sie im Stillen, »lass ihn leben.«
Dadurch, dass er sich noch immer nicht gerührt hatte, wurde sie langsam etwas mutiger. Sie kniete sich neben ihm und strich vorsichtig sein Haar aus seinem Gesicht. Doch mit dem, was sie jetzt sah, hatte sie auf keinen Fall gerechnet. Für einen Mann sah er viel zu gut aus. Seine Augen waren geschlossen und deshalb stellte sie sich vor, dass er sie jeden Moment öffnen würde. Waren sie blau wie das Meer, oder tiefschwarz wie der Seetang, der ihn bedeckte? Sie wusste nicht, was ihr besser gefallen würde. Seine Wangenknochen traten ein wenig hervor, wohl, weil er tagelang nichts zu sich genommen hatte. Doch das beeinträchtigte in keinster Weise sein gutes Aussehen. Seine Lippen waren voll, und obwohl sie, durch seinen langen Aufenthalt im Salzwasser aufgesprungen waren, fiel ihr nichts Besseres ein, als sich zu fragen, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er sie küsste. »Saphira«, ermahnte sie sich selbst, »du musst aufhören zu träumen. Erst musst du feststellen, ob er überhaupt noch lebt, bevor du dir Dinge vorstellst, die niemals geschehen werden.« Unsicher fuhr sie mit einer Hand über die Konturen seines Gesichtes, über seine Lippen und sein mit kurzen, dunklen Haaren übersätes Kinn hinunter, bis zu seiner Halsschlagader. Sie drückte ihre Finger leicht dagegen, um nach seinem Puls zu tasten. Zunächst fühlte sie nichts, und sie wollte sich schon abwenden, um die Männer ihres Vaters zu holen, damit sie ihn auf ein Schiff schaffen konnten, um ihn dem Meer zu übergeben, doch dann spürte sie ein zaghaftes Klopfen. Genau in diesem Moment schnellte eine seiner Hände nach oben und umfasste fest ihr Handgelenk. Saphira schrie vor Schreck laut auf. Von dunklen Wimpern umrandete, bernsteinfarbene Augen blickten sie flehend an.
»Bitte«, hörte sie ihn leise flüstern. »Ihr müsst mir helfen.« Seine Augen schlossen sich wieder, sein Griff lockerte sich und er brach erneut zusammen. Er lag wieder genauso starr vor ihr, wie zuvor. Saphira war so entsetzt, dass sie zu keiner Bewegung fähig war. Sie hockte neben ihm, als wäre sie zu einer Salzsäule erstarrt, unfähig den Blick von ihm abzuwenden oder sich zu erheben, um nach Hause zu laufen. Wie lange sie dort hockte, konnte sie nicht genau sagen, nur dass es mittlerweile stockfinster geworden war. Ganz langsam kam sie wieder zur Besinnung. Von Ferne hörte sie die Schreie ihres Vaters, der verzweifelt ihren Namen rief.
»Vater«, schrie sie zurück. »Ich bin hier!« Sie hörte das leise Knirschen des Sandes, als sich ihr zahllose Schritte näherten.
»Saphira, was machst du hier? Du hast geschrien und ich dachte ... Ist mit dir alles in Ordnung, Kind? Ich habe mir die größten Sorgen gemacht, dass ...« Ihr Vater stand nun direkt hinter ihr, umringt von seinen Männern. Der Schein ihrer Fackeln tauchte sie in rötlich schimmerndes Licht.
»Vater, mir geht es gut«, erwiderte sie matt, »aber er braucht unsere Hilfe.« Sie rückte ein Stück zur Seite und gab so den Blick auf den jungen Mann frei, der vor ihr lag. Ihr Vater starrte sie entgeistert an, dann musterte er fassungslos den jungen Mann. Seine Augen glitten panisch von ihm zu ihr und wieder zurück.
»Geh ins Haus!«, presste er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sie wollte etwas erwidern, doch sein Blick hinderte sie daran. Seine Augen, die normalerweise die Farbe des Meeres hatten, waren so hell geworden, dass sie im Fackelschein silbrig glänzten. Es lag so viel Hass in ihnen, dass sie entsetzt zusammenzuckte. »Ich habe dir doch gerade gesagt, dass du ins Haus gehen sollst. Was ist? Willst du Wurzeln schlagen?«, sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Saphira erhob sich zögernd.
»Ihr werdet ihm doch nichts antun?«, ihre Stimme klang flehend. »Er ist verletzt! Er ...« Ihr Vater rang sichtlich um seine innere Ruhe. Erst nachdem er einige Male tief ein und aus geatmet hatte, konnte man sehen, dass er sich langsam beruhigte und sein Gleichgewicht wieder fand.
»Keine Sorge«, er berührte sanft ihr Haar und tätschelte leicht ihre Wange. »Saphira, ich bin kein Unmensch. Geh voraus und sag der Dienerschaft, sie sollen ein Quartier für ihn herrichten.« Seine Stimme klang jetzt genau so weich und warm, wie sie es von ihm gewohnt war. »In der Zwischenzeit werden ich und meine Männer uns um ihn kümmern.« Saphira nickte, obwohl sie sich nicht sicher war, dass ihr Vater auch das tat, was er sagte. Viel lieber würde sie bei ihm bleiben. Um noch etwas Zeit zu schinden, sah sie ihrem Vater in die Augen und lächelte ihn verlegen an.
»Vater, habe ich dich verärgert?«, wollte sie von ihm wissen. Er lächelte zurück.
»Das kannst du gar nicht.«
»Aber ...« Sie zögerte.
»Geh endlich ins Haus. Ich verspreche dir, wir werden ihn mitbringen. Du hast mein Wort.« Als sie sah, dass ihr Vater seinen Männern einen Wink gab, diese vortraten und den Fremden behutsam auf den Rücken drehten, verlor sie ihre Zweifel. Sie küsste ihren Vater auf die Wange, flüsterte ihm, »Du bist der Beste!«, ins Ohr und rannte dann in Richtung Haus davon.
Atticus blickte seiner Tochter lange nach. Er berührte gedankenverloren die Stelle seiner Wange, auf die sie ihn geküsst hatte. »Saphira", flüsterte er leise vor sich hin. »Du weißt gar nicht, was du mir gerade antust. All die Jahre, die ich dich beschützt habe. All die Jahre, die ich dich auf dieser Insel vor der Welt verborgen habe. War das alles um sonst?«, in seiner Stimme lag tiefe Trauer. »Ich hatte inständig gehofft, dich vor deiner Bestimmung bewahren zu können, aber ich denke, meine Hoffnung wurde gerade eben, durch ein infernalisches Unwetter zu Nichte gemacht. Dein Schicksal ist in Form eines Schiffbrüchigen auf diese Insel gekommen und ich kann nur noch zusehen, wie es seinen Lauf nimmt.«