Читать книгу Die Chroniken Aranadias II - Die Herrin der Seelen - Daniela Vogel - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеRuben stand an Deck der »Persepolis«, und schlang den Umhang fester um seinen Körper. Seit fünf Tagen herrschte absolute Flaute. Es wehte kein Lüftchen, sodass die Segel nur noch schlaff an den Masten hingen. Seit einigen Stunden war Nebel aufgezogen. Im Grunde genommen unmöglich, da nicht der leiseste Hauch eines Windes zu spüren gewesen und es viel zu warm dafür war. Aber dennoch war er aufgezogen. Der Nebel war so dicht, dass er kaum die eigene Hand vor Augen erkannte. Die Planken unter seinen Füßen knarrten leise, als er nun langsam auf und ab schritt. Es war geradezu gespenstisch, denn aufgrund der Tatsache, dass seine Augen kaum etwas sahen, war sein Gehör umso besser. Doch das Unheimlichste an der ganzen Sache war, dass er im Grunde genommen nichts hörte außer dem Klang seiner eigenen Schritte. Sein Blick fiel nach oben in Richtung Hauptmast, wo sich der Ausguck befand. Aber es war zwecklos, jemanden dort hinaufzuschicken, er würde sowieso nichts entdecken können. Resignierend zuckte er mit den Schultern und wanderte dann wieder zurück in Richtung Kajüte. Dort angekommen warf er seinen Umhang auf die Koje und setzte sich an den breiten Schreibtisch. Zwei Jahre waren sie nun schon unterwegs und seine Männer, obwohl ihm treu ergeben, wurden langsam ungeduldig. Zu groß war ihr Heimweh, zu groß die Sehnsucht nach ihren Familien. Er verstand sie nur allzu gut. Auch ihn trieb die Sehnsucht. Doch die Geschehnisse von vor zwei Jahren hatten ihn zutiefst verwirrt und in diesem Zustand wollte er keinem seiner eigenen Leute vor die Augen treten. Erst musste er wieder mit sich selbst ins Reine kommen, bevor er zurückkehren konnte. Dass sein Zustand aber so lange anhalten würde, damit hatte er nicht einmal im Traum gerechnet.
Zum wiederholten Male drängten sich die Ereignisse von damals in seine Gedanken und wieder raubten sie ihm die Luft zum Atmen. Etwas Ähnliches hatte er schon einmal durchstehen müssen. Doch zu jener Zeit war er noch ein Kind gewesen, das von Erinnerungen gequält, kaum in den Schlaf gefunden hatte. Jetzt war er ein Mann und musste endlich seine Gefühle unter Kontrolle bringen. Doch kaum dass er diesen Entschluss gefasst hatte, da entstanden vor seinem inneren Auge auch schon wieder die Bilder der Vorfälle von damals. Sie brachen förmlich aus ihm heraus wie die tosenden Fluten des Meeres. Er lauschte gespannt in die Stille, in der Hoffnung etwas zu hören, was ihn von den Gedanken ablenken, und ihn aus seiner Trübseligkeit reißen könnte, aber es war weiterhin totenstill. Diese absolute Stille war kaum noch zu ertragen!
Er hatte sich immer für mutterseelenallein auf der Welt gehalten, doch die Ereignisse von damals hatten ihn eines Besseren belehrt. Zuerst war sein tot geglaubter Vater wieder erschienen und dann auch noch seine Mutter. Er hatte Jahre gebraucht, um über den Tod der beiden wenigstens einigermaßen hinwegzukommen, und dann waren sie wie aus dem Nichts plötzlich wieder aufgetaucht. Er wusste nicht, wie er mit dieser Tatsache umgehen sollte. Einfach zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als wäre nie etwas geschehen, war ihm unmöglich. Zu viel war in der Zwischenzeit passiert. Er war nicht mehr der kleine Junge, der sich ihnen weinend in die Arme warf, wenn es für ihn zu schwierig wurde, die Dinge allein zu meistern. Er war jetzt ein Mann und er hatte viel zu früh lernen müssen, mit der eigenen Entscheidungen zu leben und für seine Taten Verantwortung zu übernehmen. Wie immer, wenn er an seine Eltern dachte, schossen ihm die Bilder aus seiner Kindheit in den Kopf. Seine zutiefst verwirrte Mutter, die ihn unbedingt in den Orden stecken wollte. Seine beiden älteren Brüder, die im Hof vor dem Fenster ihren Waffenübungen nachgingen, während er oben in einer Kammer mit den Lektionen seines Lehrers, Vater Barnabas, beschäftigt gewesen war. Seine Flucht vor der Mutter. Der See, der auf ihrem Gut gelegen hatte und dann das Auftauchen Gorregs des Schwarzen, der seinen Bruder Daniel mit einer Axt, die eigentlich ihn hatte treffen sollen, getötet hatte. Seine Mutter, die bereitwillig mit diesem Schwein ins Haus gegangen war, nur um ihre beiden letzten Söhne vor ihm zu schützen. Das Drachenemblem, das Gorreg ihm tief in die Haut gebrannt hatte und schließlich Elias, den sie auf ein Rad geflochten, gefoltert und zuletzt auch noch geblendet hatten. Sein Bruder hatte ihn angefleht, ihn zu töten und er hatte es letztendlich getan, obwohl sich seine Geburt zu diesem Zeitpunkt erst acht Mal gejährt hatte. Die Konsequenz daraus war allerdings, dass er sich über Jahre hinweg die größten Vorwürfe gemacht hatte. Doch mittlerweile konnte er mit seiner damaligen Tat umgehen und sie als das akzeptieren, was sie gewesen war: ein Akt der Gnade. Womit er aber immer noch nicht leben konnte, war die Tatsache, dass auch sein Vater ihn, trotz der Vorfälle von damals verlassen und in dem Glauben gelassen hatte, er wäre in einer Schlacht getötet worden. Gut, sein Vater hatte ihm seine Gründe dafür plausibel dargelegt, doch Ruben war in seinem Innern unbewusst noch immer der kleine Junge, der mit seinem Schicksal haderte. Es half auch nichts, dass er in seiner Tante und seinem Onkel so etwas wie neue Eltern gefunden hatte und sein kleiner Vetter, für ihn mehr ein Bruder, als alles andere gewesen war. Sie waren einfach nicht seine richtige Familie. Seine richtige Familie hatte ihn bloß kläglich im Stich gelassen, als er sie am Meisten gebraucht hatte.
Sein Verstand sagte ihm zwar, dass er an seines Vaters Stelle vermutlich genauso gehandelt hätte, aber sein Herz schrie noch immer nach den Zuwendungen und der Liebe, die er in all den Jahren nicht von ihm bekommen hatte.
Als wenn das nicht alles schon schmerzlich genug gewesen wäre und er nicht bereits genug gelitten hätte, musste das Schicksal dann vor zwei Jahren noch einmal mit voller Wucht zugeschlagen. Sein Vetter Raoul hatte damals endlich seine große Liebe gefunden. Seine Bestimmung! Und er? Er hätte fast den Tod der beiden verschuldet. Er war in Gorregs und Xorenas Falle getappt, wie ein unbedarfter Tölpel. Wenn auch Raoul und Rilana ihm verziehen hatten und immer wieder beteuerten, dass es nicht seine Schuld gewesen wäre, so konnte er selbst sich jedoch nicht verzeihen. Die Bilder seines Versagens gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Nachdem Gorreg oder de Beriot, wie er sich zu diesem Zeitpunkt nannte, ihn unter seine Kontrolle gebracht hatte, musste er mit ansehen, wie er selbst Dinge tat, für die er sich abgrundtief hasste. Er konnte noch immer de Beriots Stimme in seinem Kopf hören, die ihm befahl, seinen eigenen Vater umzubringen. Er sah noch immer, wie er sich Rilana über die Schulter schmiss, hörte ihr Flehen, ihr zu helfen, und sah, wie er sie schließlich in dieses stinkende Loch geworfen hatte. Das Schlimmste aber an seiner damaligen Lage war die Tatsache gewesen, dass de Beriot ihn Xorena oder Roxane, wie sie sich zu diesem Zeitpunkt genannt hatte, als Objekt ihrer Begierde geschenkt hatte. Er hatte keinen freien Willen besessen und jeden ihrer noch so perversen Wünsche erfüllt, obwohl er nichts lieber getan hätte, als ihr die Gurgel umzudrehen. Er war noch nicht einmal fähig gewesen Worte, geschweige denn ganze Sätze zu bilden. Wie ein Tier hatte sie ihn in einen Käfig gesperrt, denn das Monster, das sie aus ihm gemacht hatten, wurde nur von seinen Trieben beherrscht, die ihn trotz der Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte, immer wieder in ihre Arme trieben. Es war die reinste Folter gewesen, ihr Sexsklave und gleichzeitig ihr Prügelknabe zu sein. Sein Geist hatte jedes Mal laut aufgestöhnt und »Nein« geschrien, aber sein Körper, der vollständig unter de Beriots Kontrolle stand, hatte geradezu nach ihr gegiert. Er war dem Wahnsinn so nah gewesen, dass es oftmals nur einer Kleinigkeit bedurft hätte und er hätte sich mit Freuden hineingestürzt. Meist, wenn er kurz davor stand, es wirklich zuzulassen, hatte sie von ihm abgelassen und sein Geist hatte sich für kurze Zeit an die irrige Hoffnung geklammert, es wäre endlich vorbei. Aber es war nicht vorbei. Monate lang hatte sie ihn gequält, bis sie schließlich scheinbar genug von ihm hatte und einen noch perfideren Plan ausheckte.
Noch immer musste er an ihre Berührungen denken und noch immer ekelte es ihn an, was er damals alles getan hatte. Oft genug wurde er selbst jetzt noch des Nachts schweißgebadet wach. Das Einzige, was ihm dann einfiel, war zu überprüfen, ob sein Verstand wirklich noch seinen Körper beherrschte. Nur um kurz darauf wieder einzuschlafen und das Ganze noch einmal durchzumachen. Sowohl Raoul als auch sein Vater hatten ihn damals bedrängt, ihnen zu sagen, was sie mit ihm gemacht hatte. Er aber hatte beharrlich geschwiegen und sich fest vorgenommen, niemals über seine Gefangenschaft zu reden. Warum die beiden mit Dingen belasten, die sie nichts angingen? Er würde schon irgendwann fähig sein, auch diese Episode seines Lebens in die hinterste Ecke seines Verstandes zu verbannen, und dann wäre er endlich frei und könnte ihnen gegenübertreten. Noch war es allerdings nicht so weit.
Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Da er sich bereits an die absolute Stille gewöhnt hatte, erschrak er bei dem Geräusch. Er blickte auf und versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen, bevor er leise, »Komm herein!«, flüsterte. In der Tür erschien der blonde Lockenkopf seines ersten Steuermanns und mittlerweile besten Freundes Lucas.
»Ruben entschuldige die Störung, aber wir müssen dringend reden.« Ruben nickte.
»Ich weiß!« Lucas kam durch die Tür, schloss sie leise und setze sich dann auf den Stuhl, der Ruben gegenüberstand.
»Ruben, ich möchte dich nicht drängen, aber ...", begann Lucas zögernd.
»Was ist los? Warum zögerst du? Du sagst doch sonst auch alles, was du denkst.«
»Es geht um die Männer. Du weißt, sie stehen alle hinter dir. Aber langsam werden sie ungeduldig. Wir sind jetzt bereits zwei verdammte Jahre unterwegs, ohne ein richtiges Ziel vor Augen zu haben. Sie fragen sich langsam, wofür unsere Reise überhaupt gut ist. Wir treiben keinen Handel. Wir suchen nicht nach Schätzen. Wir sind in keine Schlachten verwickelt. Wir segeln einfach nur so durch die Gegend ohne Sinn und Verstand. Der Proviant wird langsam knapp, da wir, seit über drei Monaten, keinen Hafen mehr angelaufen haben. Wenn wir unsere Vorräte nicht bald auffüllen, dann riskierst du, dass sie krank werden. Willst du, dass sie Skorbut bekommen? Willst du, dass es eine Reise ohne Wiederkehr wird? Willst du ihren Tod? Oder ist es deiner, den du herbeisehnst?« Ruben sah ihn nachdenklich an. »Du schließt dich tagelang hier unten ein und grübelst. Irgendwann reicht es. Und mir reicht es schon lange. Du bist mein bester Freund, aber ich kann und will nicht mehr mit ansehen, wie du dich selbst zerstörst. Was ist damals geschehen, dass dich dermaßen verändert hat? Du hattest vorher doch auch schon Einiges erlebt, was andere nicht so leicht hätten wegstecken können. Doch seit dich diese Hexe in ihren Klauen hatte, bist du nicht mehr du selbst. Du bist ein gebrochener Mann. Doch, anstatt dagegen anzukämpfen, suhlst du dich geradezu in deinem Elend. Wenn es nur um dich ginge, würde ich dir ja deine Schwermut gönnen. Kann sein, dass du deinen Zustand vielleicht sogar genießt, aber es geht nicht nur um dich. Die Männer haben ein Recht darauf ihre Familien wiederzusehen. Genug ist genug! Willst du eine Meuterei riskieren? Willst du, dass sie das vollenden, was Roxane damals begonnen hat? Komm endlich wieder zu dir!«
»Bist du fertig?« Rubens Stimme klang matt.
»Noch lange nicht! Ich habe dir deinen Willen gelassen. Ich bin dir gefolgt. Ich habe für dich immer die Drecksarbeit erledigt, wenn wir in Schwierigkeiten geraten sind, aber wenn du nicht langsam Vernunft annimmst, dann kannst du auf mich nicht mehr zählen. Du isst kaum noch etwas. Du schläfst nicht. Du ziehst dich tagelang in die Einöde deiner Kajüte zurück und redest mit Niemandem. So geht das nicht weiter! Sieh dich doch an. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst. Ich habe es so satt! Ich kenne dich bereits, seit ich denken kann, aber so habe ich dich noch nie gesehen. Nicht einmal als dein Vater damals verschwand und da warst du noch ein Kind. Reiß dich endlich zusammen. Ich habe keine Lust, deine Leiche ins Meer zu versenken, denn lange wird es nicht mehr dauern, bis es so weit ist, wenn du so weiter machst und nicht endlich zur Vernunft kommst.«
»Was weißt denn du?« Ruben schrie ihn geradezu an.
»Was ich weiß?«, schrie Lucas zurück. »Ich weiß, dass ich gerade dabei bin, meinen besten Freund, zu verlieren! Ich weiß, dass ich damit nicht leben könnte! Ich weiß, dass ich nicht länger tatenlos zusehen kann und ich weiß, dass Raoul mir in den Arsch treten würde, wenn er wüsste, dass ich so lange geschwiegen und dir deinen Willen gelassen habe«, Lucas Stimme wurde eine Spur leiser. »Mein Gott, Ruben! Was damals auch geschehen ist, es ist kein Grund der ganzen Welt den Rücken zuzukehren. Du weißt, du kannst mit mir über alles reden. Also rede endlich. Das macht es leichter!«
»Ich kann nicht!«, Ruben rang verzweifelt die Hände. »Lucas, es ist nicht so, dass ich nicht reden will. Ich würde gerne, aber ich kann nicht! Jedes Mal, wenn ich nur daran denke, bekomme ich keine Luft mehr. Es schnürt mir die Kehle zu. Es ist, als hätten Roxane und de Beriot mir damals die Worte, die ich für das benötige, was sie mir angetan haben, aus meinem Kopf geschnitten. Ich weiß, du kannst mich nicht verstehen, aber ich kann mich ja kaum selbst verstehen. Denkst du, mir geht es gut? Glaubst du wirklich, ich würde es genießen, mich in meinem, wie sagtest du doch gleich, Elend zu suhlen? Lucas, ich suhle mich nicht in meinem Elend! Ich will nur, dass es endlich aufhört!«
»Und deshalb begehst du Selbstmord auf Raten?«
»Werde nicht melodramatisch!«
»Ich bin nicht melodramatisch. Ich bin nur ein guter Beobachter!«, Ruben nickte.
»Ich weiß!«
»Wirst du dich nun endlich zusammenreißen?« Ruben starrte ihn lange schweigend an, dann jedoch nickte er.
»Ich werde es versuchen. Aber ich kann dir nichts versprechen.«
»Das ist mehr, als ich erwartet habe und Ruben, denk daran, mein Angebot steht. Wenn du bereit bist zu reden, dann bin ich bereit zuzuhören.« Wieder schwiegen sie eine Weile.
»Jetzt aber zu unserem anderen Problem. Ich habe nicht übertrieben, als ich dir sagte, die Männer werden ungeduldig. Ungeduldig ist vielleicht nicht das richtige Wort, ich würde es eher lethargisch nennen«, begann Lucas von Neuem das Gespräch. »Wenn nicht bald etwas geschieht, dann werden sie meutern. Du weißt, dass der Aberglaube viele Männer der See beherrscht. Auch in deinen Leuten ist er stark verwurzelt. Sie halten die Flaute, die seit Tagen herrscht für ein schlechtes Omen. Als heute Morgen dann auch noch der Nebel wie von Geisterhand aufzog, waren es nicht wenige, die auf ihre Knie fielen und Gott um Gnade anflehten. Du musst mit ihnen reden. Sie haben Angst!«
»Ich werde mit ihnen reden. Obwohl ..., Lucas, etwas stimmt wirklich nicht. Ich halte das alles nicht für ein schlechtes Omen, so weit würde ich nicht gehen, aber ... Findest du es nicht auch merkwürdig, dass während einer tagelangen Flaute plötzlich so dichter Nebel aufzieht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen kann. Dann diese Stille. Diese verfluchte tödliche Stille! Ich war heute Morgen an Deck und ich konnte noch nicht einmal ein leises Plätschern der Wellen hören. Das Einzige, was ich hören konnte, war mein Atem und meine Schritte auf den Planken. Sonst nichts! Rein gar nichts! Das ist nicht normal. Etwas geht hier vor sich und ich weiß nicht, was es ist. Wäre ich so abergläubisch wie unsere Mannschaft, dann würde ich wahrscheinlich auch auf die Knie fallen und beten.«
»Ruben, das ist es nicht allein. Die Männer glauben unser Schiff sei verflucht. Ich weiß nicht, ob du überhaupt mitbekommen hast, wo wir uns gerade befinden. Das hier ist die Meerenge von Alara. Du hast unser Schiff geradewegs hineinmanövriert. Du kennst doch die alten Legenden?«, Lucas wartete gespannt auf seine Antwort, doch, noch bevor er etwas erwidern konnte, nahm er ihm das Wort aus dem Mund. »Jeder Seefahrer kennt die Legenden. Es heißt, die Meerhexe kontrolliert die Gewässer. Wenn ihre Stimme erschallt, verwandelt sich das Meer in eine tosende Flut, die alles mit sich reißt. Noch kein Schiff ist unbeschadet davongekommen. Meist verlieren sie die komplette Ladung und die Hälfte der Mannschaft. Wer in die Fluten gerissen wird, bleibt für immer verschollen. Die Männer, die es überleben, und es sind wenige, reden meist nur noch wirres Zeug, auf das man sich keinen Reim machen kann. Sie sind dem Wahnsinn nahe und erholen sich nie wieder.«
»Lucas, du glaubst doch nicht diese Geschichten? Meerhexe? Also wirklich!«
»Wenn etwas wie Roxane existiert, wieso dann nicht auch eine Meerhexe? Hättest du es für möglich gehalten, dass irgendjemand in der Lage wäre, den Menschen die Lebenskraft zu nehmen, um sich damit zu erneuern?« Ruben schwieg. »Wenn Roxane zu so etwas fähig war, wer sagt mir dann, dass es nicht auch andere gibt, die ihr Leben durch Magie verlängern?«
»Roxane hat ihren Opfern förmlich die Lebenskraft ausgesaugt. Aber welche Art von Magie, so frage ich dich, bewirkt, dass sich die Wogen des Meeres erheben und Schiffe zerschellen lassen? Und zu welchem Zweck soll das gut sein? Toten kann man keine Lebenskraft entziehen. Sie besitzen keine mehr.«
»Sicher, aber ...«
»Ach, Lucas, jetzt überlege doch einmal. Was passiert, wenn ein Schiff in einen Sturm gerät? Meist verliert man einen Teil der Ladung und einige Männer werden von Bord gespült. Die Meerenge von Alara verbindet zwei Meere miteinander und ist äußerst klippenreich. Eines davon hat durch den Hiberastrom immer eine enorm hohe Wassertemperatur, deshalb entstehen hier so viele Stürme wie nirgendwo sonst. Demnach ist sie eine der gefährlichsten Wasserstraßen überhaupt. Da aber die meisten Seeleute nicht unsere Ausbildung genossen haben und oftmals weder schreiben noch lesen können, suchen sie nach Erklärungen, die ihrem Wissensstand entsprechen. Glaub mir, eine Wasserhexe ist für sie wesentlich einfacher zu begreifen, als die Erkenntnisse der Wissenschaft.«
»Wenn du meinst! Aber es ist die Meerhexe, nicht eine Wasserhexe!«
»Was soll das heißen?«
»Ruben", Lucas Stimme wurde gefährlich leise, »die Männer, die von den Reisen zurückgekehrt sind, reden alle ohne Ausnahme von einer tagelangen Flaute. Dann zog Nebel, wie von Geisterhand auf, der ebenfalls einige Tage andauerte. Zu guter Letzt hörten sie eine Stimme. Die Stimme war so lieblich, dass sie von einer Göttin hätte stammen können. Keiner konnte ihr entrinnen. Der Gesang war so schön, dass es ihnen die Tränen in die Augen trieb. Niemand dachte mehr daran, seiner Arbeit nachzugehen. Niemand rührte auch nur einen Finger. Doch dann änderte sich etwas. Aus dem lieblichen Gesang wurde ein infernalisches Gekreische. Das Meer, vorher glatt wie ein Spiegel, erhob sich, als müsste es sich unter Schmerzen verkrampfen. Aus der Flaute wurde ein höllischer Sturm, der an den Segeln ihrer Schiffe riss. Doch die Besatzungen rührten noch immer keinen Finger, weil sie auch weiterhin wie hypnotisiert der Stimme zuhörten. Als sie endlich wieder zur Besinnung kamen, war es schon zu spät. Viele wurden in die Tiefe gerissen. Viele Schiffe zerschellten an den zerklüfteten Felsen und ihre Besatzungen kehrten nie zurück. Doch diejenigen, die es überlebten, schwören, dass die Stimme sie auch heute noch nachts verfolgt und auf die See lockt, so als wolle sie das vollenden, was sie begonnen hat.«
»Lucas, ich kenne die Legenden. Ich weiß, was die Männer über Jahrhunderte hinweg berichtet haben, aber denkst du wirklich, dass auch nur ein Fünkchen Wahrheit darin liegt. Es ist Seemannsgarn. Es gibt keine Beweise, außer dem Geschwafel eines betrunkenen Matrosen in einer Kaschemme.«
»Ich würde dir ja auch recht geben, wäre die Sache mit Roxane nicht geschehen.« Ruben musste unwillkürlich grinsen.
»Lucas, sag dass das, was ich denke, nicht wahr ist.«, Lucas wirkte verlegen. Ruben betrachtete ihn eingehend, dann brach er in schallendes Gelächter aus, während Lucas ihn verwirrt anstarrte.
»Schön, dass du deinen Humor wiedergefunden hast. Aber ich denke nicht, dass ich der Grund für deine Erheiterung sein sollte.« Lucas wirkte sichtlich gekränkt.
»Du hast ja keine Ahnung!« Rubens Gelächter steigerte sich noch eine Spur. Es brach mit voller Wucht aus ihm heraus. Er musste sich den Bauch halten und Tränen traten ihm in die Augen.
»Erfreulich, dass ich dich so amüsiere.« Lucas wurde langsam wütend.
»Ach, Lucas!« Ruben bekam kaum noch Luft. »Ich hätte dich niemals für so, … sagen wir es einmal so, kleingläubig gehalten. Du glaubst die Geschichten wirklich!«, Ruben beruhigte sich ein wenig. »Und, was ich niemals von dir gedacht hätte, du hast Angst!«
»Ja, Ruben", gab er zögernd zu. »Ich habe eine Scheißangst! Nachdem, was vor zwei Jahren vorgefallen ist, frage ich mich ständig, ob es davon noch eine Steigerung gibt. Ich frage mich, was ich getan hätte, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre. Und ich frage mich, ob wir nicht einfach nur verdammtes Glück hatten, dass wir alle mit heiler Haut aus der Sache herausgekommen sind. Vielleicht sind wir ja nur vom Regen in der Traufe gelandet. Du hast vorhin selbst gesagt, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist nicht normal, was sich hier vor unseren Augen abspielt. Und ich will verflucht sein, wenn ich nicht zugeben könnte, dass mir das alles ganz und gar nicht gefällt.«
»Du hast recht", Ruben wurde mit einem Mal wieder todernst. »Ich denke auch, dass etwas vor sich geht, von dem wir nicht wissen, was es ist. Aber daran, dass unser Schiff von einer Meerhexe verflucht werden soll, daran glaube ich erst, wenn es so weit ist. Wenn wir den Gesang hören sollten, dann kannst du mir immer noch einen deiner sarkastischen Sprüche an den Kopf knallen. Aber in der Zwischenzeit müssen wir die Männer irgendwie beruhigen, denn auch damit hast du recht, ich habe mich viel zu lange verkrochen. Die Männer brauchen Führung vor allem jetzt.«
»Gott sei Dank! Endlich kommst du zur Vernunft.«, Lucas atmete hörbar aus. »Wenn wir das hier lebend überstehen sollten, dann kannst du ja immer noch deinen Selbstmord auf Raten fortsetzen. Irgendwie werde ich die Männer schon wieder nach Hause kriegen, schließlich bin ich ja der Steuermann und noch dazu dein erster Offizier.«
»So mag ich dich! Immer einen Spruch auf den Lippen und immer das letzte Wort.«
»Wäre es anders, würdest du mich dann nicht mehr mögen?« Lucas verzog sein Gesicht, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
»Lucas, du bist ein solcher Kindskopf! Aber irgendwie schaffst du es immer, meine Stimmung ein wenig aufzuhellen ... Danke!«
»Nicht der Rede wert! Aber wir sollten jetzt wirklich mit den Männern reden, bevor sie noch eine Dummheit machen!«
Als die beiden Männer das Deck betraten, war der Nebel noch eine Spur dichter geworden. Sie schritten das Deck ab, in der Hoffnung auf einen der Männer ihrer Mannschaft zu treffen, doch der gesamte obere Bereich des Schiffes war menschenleer. Das Geräusch ihrer Schritte schien wie Donnerhall durch die endlose weiße Masse zu dringen. Da der Nebel die Sonnenstrahlen bereits seit den frühen Morgenstunden verdrängt hatte, wurde es zudem immer kälter. Ruben fror. Er schlang seinen Umhang fester um seinen Körper und seufzte. Der Nebel fraß sich einfach durch alles. Seine Kleidung fühlte sich klamm an und auch sein schulterlanges, pechschwarzes Haar wurde langsam feucht. Auf See war es fast an der Tagesordnung, dass man nass wurde, aber die Nässe, die sie jetzt durchdrang, war anders. Sie war geradezu bedrohlich. Da sie keinen der Männer auf dem Oberdeck finden konnten, beschlossen sie, ins erste Unterdeck zu gehen, wo sich die Kojen der Matrosen befanden. Als sie den großen, dunklen Raum betraten, herrschte dort dieselbe tödliche Stille, wie auf dem oberen Deck. Keiner der anwesenden Männer sagte ein Wort. Hin und wieder hörte man ein leises, mutloses Seufzen und dann war es wieder still. Es schien fast, als wären sie sogar zu ängstlich zum Atmen. Ruben betrachtete seine Männer voller Sorge. Er hatte die Männer seiner Crew allesamt persönlich ausgewählt. Sie alle waren hervorragende Kämpfer, die oft genug schon ihre Kraft und ihren Mut unter Beweis gestellt hatten. Jetzt aber lagen sie alle mit vor Angst geweiteten Augen in ihren Hängematten und starrten sinnierend vor sich hin. Ruben konnte ihren Anblick kaum ertragen. So hatte er seine Mannschaft noch nie zuvor gesehen.
»Männer!«, erhob er zögernd seine Stimme. Einige zuckten fast panisch zusammen, andere schienen ihn noch nicht einmal zu bemerken.
»Was habe ich dir gesagt? Sie sind vollkommen lethargisch. Es ist sogar noch schlimmer als heute Morgen!«, unterbrach ihn Lucas und flüsterte ihm ins Ohr. Ruben klopfte ihm leicht auf die Schulter und nickte dann.
»Ich verstehe!«, gab er genauso leise zurück. Laut aber fügte er, »Wir müssen reden!«, hinzu. »Ich weiß", setzte er seine Rede fort, »dass ich in letzter Zeit, nicht für Euch da war. Ich habe mich weder um Eure Sorgen und Nöte noch um Eure Ängste und Wünsche gekümmert. Ich weiß, ich war kein guter Kapitän, aber das wird sich nun wieder ändern.« Ein Raunen ging durch die Mannschaft. Anscheinend hatte er jetzt endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. »Lucas ist der Ansicht, wir wären schon viel zu lange auf See. Er hat mir mitgeteilt, dass Ihr Eure Familien vermisst und endlich wieder nach Hause zurückkehren wollt. Ist das richtig?« Einer der Männer in der hintersten Ecke des Raumes antwortete ihm.
»Es ist nicht so, dass wir nicht gerne auf See sind, wenn Ihr das vielleicht glauben solltet. Aber, zwei Jahre sind eine lange Zeit, wenn man nichts zu tun hat.«
»Ihr denkt also, Ihr habt nicht zu tun?«
»Nichts Richtiges! Wir sehen keinen Sinn in unserer Reise. Reisen wir nur um des Reisens willen, oder haben wir ein Ziel?« Wieder ging ein Raunen durch die Männer.
»Ihr wisst alle, was vor zwei Jahren geschehen ist.«, die Männer nickten. »Roxane ist verschwunden. Unsere Aufgabe besteht darin, festzustellen, ob sie irgendwo anders wieder aufgetaucht ist. Ist Euch das Ziel genug?«
»Wir wissen, warum wir eigentlich unterwegs sind. Doch weshalb steuern wir dann nicht jeden uns bekannten Hafen an und forschen nach. Oftmals gehen wir mehrere Monate nicht an Land. Denkt ihr, sie treibt hilflos auf dem Meer oder ...«
»Das also ist Euer Problem. Ihr wollt öfter an Land!«
»Kapitän, es liegt uns fern, Euch zu kritisieren und eigentlich haben wir auch nicht das Recht dazu, aber, obwohl die »Persepolis« ein riesiges Schiff ist, ist sie auf Dauer nicht groß genug für uns. Wir leben hier seit einer gefühlten Ewigkeit auf engstem Raum. Da kommt es leicht zu Reibereien. Wenn wir öfter an Land gingen, könnten wir ...«
»Ich verstehe!«, unterbrach Ruben ihn. »Es geht Euch also im Grunde genommen darum, dass Ihr nicht genügend Möglichkeiten habt, Euch auszutoben. Das hätte ich mir denken können.«
»Einige von uns haben wirklich Heimweh!«
»Ich verspreche Euch, den nächsten Hafen auf unserer Route anzulaufen. Seit Ihr dann zufrieden?«
»Wir werden keinen weiteren Hafen anlaufen können!«, die Antwort seines Matrosen war ein Flüstern.
»Wieso glaubt Ihr das?«
»Die Flaute, der Nebel, sie kommt uns holen!« Zum wiederholten Male ging ein Raunen durch die Männer. Einige bekreuzigten sich, andere murmelten leise Gebete vor sich hin.
»Wer kommt uns holen?«
»Kapitän, die Meerhexe! Sie hat uns mit ihrem Bann belegt. Sie hat unser Schiff verflucht. Wir werden alle elendiglich zugrunde gehen!«
»Leute ...!«, weiter kam er nicht. In diesem Moment ging ein Ruck durch das Schiff. Die Planken knarrten und ächzten, während der Rumpf nach Steuerbord kippte. Ruben, der nicht damit gerechnet hatte, geriet ins Stolpern. Nur sein Griff nach dem Pfahl, der sich unmittelbar in seiner Nähe befand, verhinderte, dass er auf den Boden fiel. Lucas hatte nicht so viel Glück. Er ruderte mit den Armen und versuchte verzweifelt sich an einer Hängematte festzuhalten. Doch es half nichts. Er stürzte bäuchlings auf den Boden. Als er sich einigermaßen gefangen hatte, probierte er sich wieder aufzurichten, doch das Schiff schlingerte jetzt auf Backbord. Er wurde durch die Wucht der Bewegung mitgerissen und kullerte über den Boden, wie ein getretener Ball. Ruben versuchte verzweifelt seinen Arm zu greifen. Immer wieder warf sich das Schiff von der einen auf die andere Seite. Nach mehreren Anläufen gelang es ihm schließlich Lucas mit einer Hand zu packen und ihn auf die Beine zu ziehen, währen er sich mit der anderen auch weiterhin an den Pfahl klammerte.
»Lucas, wir müssen an Deck! Was ist hier los?«, Lucas nickte ihm völlig außer Atem zu.
»Ich weiß auch nicht«, entgegnete ihm dieser gepresst, »So etwas habe ich auch noch nie erlebt.«
»Bist du verletzt?«
»Nein, bei mir ist alles in Ordnung!« Das Schiff bewegte sich nun immer schneller von einer zur anderen Seite.
»Glaubst du, du kannst mir folgen? Wir müssen nach oben! Die Anker müssen gelichtet werden, bevor die Ketten reißen.« Ruben löste seine Hand von dem Pfosten. Es war gar nicht so leicht die schaukelnden Bewegungen des Schiffs auszugleichen, aber schließlich gelang es ihm irgendwie. Er tastete sich wackelig auf den Ausgang zu, während Lucas ihm genauso wackelig folgte.
»Männer!«, Lucas drehte sich noch einmal zu den Kojen um. »Folgt mir!«
Als Ruben das Deck betrat, glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Der Nebel hatte sich verzogen. Anstatt seiner verdeckten nun pechschwarze Wolken die Sonne und es tobte ein Orkan, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Turmhohe Wellen schleuderten das Schiff von einer auf die andere Seite. Einige brachen sich über der Reling, so dass ihre gewaltigen Wassermassen an den Vertäuungen der Kisten, Fässer und Kanonen rissen, die sich auf Deck befanden. Es war einfach infernalisch. Die nächste Welle schwappte in seine Richtung und er musste sich mit aller Gewalt an der Halterung der Treppe festkrallen, sonst wäre er mit ihr in das untere Deck gespült worden. Lucas, der ihm gefolgt war, klammerte sich genauso hilflos wie er selbst an den nächstbesten Gegenstand, den er zu fassen bekam.
»Wir müssen die Segel einholen«, schrie Ruben gegen das Tosen des Windes an. »Sind die Männer hinter dir?«
»Ja", schrie Lucas zurück.
»Dann sag ihnen, sie sollen Anker lichten und die Segel raffen.«
»Aber ...«
»Nichts aber. Wir müssen es tun! Die Segel bieten dem Sturm zu viel Fläche, wenn wir sie jetzt nicht einholen, dann werden wir kentern. Macht schon! Ich versuche, mich irgendwie zum Steuer vorzutanzen. Wir müssen das Schiff drehen, bevor es zu spät ist.« Eine weitere Welle brach sich über Deck. Eine der großen Kanonen löste sich aus ihrer Halterung und bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer ihrer Kugeln auf die andere Seite. »Sag den Männern, sie sollen bloß vorsichtig sein. Ich würde ihnen das Ganze ja ersparen, aber, wenn wir noch länger warten, gehen wir unter. Also los! Und viel Erfolg!«
»Dir auch!«
»Ach und Lucas, eins noch! Keine Heldentaten! Wenn wir das Schiff nicht retten können, dann setzt die Männer in die Beiboote.«
»Das ist doch Wahnsinn! In den Beibooten haben sie kaum eine Chance.«
»Jedenfalls eine Größere, als die, die sie haben, wenn das Schiff mit ihnen untergeht.«
Ruben hatte sich fast bis zum Ruder durchgekämpft, als er es wahrnahm. Zunächst hielt er es für eine Sinnestäuschung, dann aber wurde es immer deutlicher und schließlich konnte selbst er nicht mehr leugnen, was er dort hörte. In das Tosen des Windes mischte sich die Stimme einer Frau. Es war kein lieblicher Gesang, sondern ein fast schon höllisches Gekreische. Die Töne waren so schrill und hoch, dass es in den Ohren wehtat. Er presste verzweifelt seine Hände auf seine Ohren, um den Klang ein wenig abzudämmen, doch je mehr er presste, desto lauter wurde die Stimme. Langsam drehte er sich seinen Männer zu, auch ihnen schien es ähnlich zu gehen. Einige standen, genau wie er, mit auf die Ohren gepressten Händen auf Deck und starrten nur noch angstvoll vor sich hin, während andere sich, wie unter starken Schmerzen leidend auf den Boden warfen und schrien. Wieder brach sich eine Welle so heftig, dass sie mit ihren Wassermassen die Hälfte seiner Männer von Bord spülte. Mehrere Verankerungen lösten sich gleichzeitig. Kisten, Fässer und Kanonen verwandelten sich in Geschosse, die alles, was ihnen im Weg stand, mit sich rissen. Er sah Lucas, der sich verzweifelt an den Hauptmast klammerte, während er sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzog und dabei so laut schrie, dass er selbst das infernalische Gekreische übertönte. Ruben nahm seine Hände herunter und versuchte in Lucas Richtung zu gelangen.
»Lucas halte durch! Verdammt!« Er sprang über eine Kiste, die auf ihn zu schlitterte, während zur gleichen Zeit ein Fass sein Bein streifte. Auch er schrie auf, doch eher aus Wut als aus Schmerz. »Lucas!« Beim Näherkommen sah er, dass sich auf Lucas Hemd rote Flecken bildeten. Etwas musste ihn verletzt haben. »Verdammt noch mal, Lucas", schrie er, »antworte mir.« Lucas klammerte sich auch weiterhin an den Mast, den Kopf gesenkt und schwer atmend. Als er Rubens Stimme hörte, blickte er kurz auf.
»Ruben?« Ruben befand sich jetzt in seiner unmittelbaren Nähe. Er packte seinen Freund und schob ihn vehement zur Seite, als er erkannte, dass eine Kanone geradewegs auf sie zu rollte. Er schaffte es gerade noch, sie beide aus der Gefahrenzone zu bringen, da hörte er auch schon ein lautes Knacken. Die Segel über ihnen blähten sich und zerrten an der Takelage, bis diese riss. Der Wind trieb die gewaltigen Stoffbahnen hin und her. Sie knallten gegen den Mast und zogen an dem massiven Holz, solange bis es schließlich nachgab und in der Mitte brach. Ruben hielt die Luft an, denn er realisierte, dass der wuchtige Pfahl sich nun langsam in ihre Richtung senkte. Er rollte sich über Lucas, um ihn zu schützen und ihn mit seinem Körper abzuschirmen. Es krachte laut, dann spürte er, wie etwas seinen Rücken traf. Der Schmerz fuhr ihm durch seine Glieder wie ein Blitz und er stöhnte auf. Er versuchte noch sich und Lucas, von der Last des Mastes zu befreien, als ihn etwas am Hinterkopf traf. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er noch, wie sich das infernalische Gekreische der Frau in teuflisches Gelächter verwandelte.