Читать книгу Die Chroniken Aranadias II - Die Herrin der Seelen - Daniela Vogel - Страница 15
Kapitel 9
ОглавлениеRaoul stand in seiner Kajüte und beugte sich über die Seekarte. Wie sooft in den vergangenen Wochen, hatte er mittlerweile das Gefühl bereits Stunden darüber zu brüten. Sie hatten jetzt bereits alle vier Inseln seines eingekreisten Gebiets durchkämmt. Doch nirgends hatten sie eine Spur von Ruben entdeckt. Alle vier waren unbewohnt gewesen. Auf Keiner hatten sie auch nur Fußspuren oder Ähnliches entdeckt, was auf den Aufenthalt eines Menschen hätte schließen können. Noch nicht einmal Treibgut hatten sie gefunden. Es war zum Mäusemelken. Raoul war sich nicht mehr sicher, ob seine Berechnungen überhaupt stimmten. Deshalb kam er kaum noch aus seiner Kajüte heraus. Er streckte sich leicht und rieb sich über seinen schmerzenden Rücken. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, dann musste er wirklich unverrichteter Dinge nach Hause segeln und aufgeben. Er hasste es, überhaupt daran zu denken.
Es klopfte leise an der Tür.
»Herein!« Marcus Kopf erschien und er trat in den Raum.
»Raoul, ich muss mit dir reden!«
»Was ist los?«
»Lucas!« Raoul seufzte. Seitdem sie aus Hibera aufgebrochen waren, war Lucas sein Sorgenkind. Er schlief nicht und aß nicht. Oft genug hatten sie ihn völlig betrunken in irgendeiner dunklen Ecke liegend gefunden. Sie hatten versucht ihn auszunüchtern, nur um ihn am nächsten Tag noch betrunkener vorzufinden. Wenn er vollkommen benebelt war, dann faselte er ständig etwas von dieser Meerhexe, die kommen würde, um ihn zu holen. Sie hatten alles versucht, ihn von seinen Wahnvorstellungen zu befreien, doch irgendwie drangen sie nicht mehr zu ihm durch. Es schien fast, als würden alle ihre gut gemeinten Worte an ihm abprallen, wie Schwerter auf einem Schild. Raoul seufzte.
»Was hat er jetzt schon wieder angestellt?«
»Er hat versucht, sich mit seinem Dolch ein Ohr abzuschneiden. Zum Glück war Wilbur in der Nähe. Er konnte ihn gerade noch daran hindern. Aber, ich mach mir wirklich langsam Sorgen. So habe ich ihn noch nie erlebt.«
»Ich auch nicht!«
»Ich habe Angst vor dem, was er tun wird, wenn einmal keiner von uns rechtzeitig kommt.« Raoul sah ihn nachdenklich an.
»Ich dachte auch, es wäre nur eine Phase. Doch anscheinend ist es mehr als eine kurze Episode. Was meinst du? Wie können wir ihm helfen?«
»Raoul, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber ich denke, ihm ist nicht mehr zu helfen.«
»Du gibst verdammt schnell auf!«
»Tue ich nicht! Aber ... Überlege doch einmal, wie lange er schon in diesem Zustand ist. Erst die Wochen in Hibera und dann die ganzen Wochen hier auf dem Schiff. Anstatt das es langsam besser wird, verschlimmert sich sein Zustand jedoch immer mehr. Ich weiß auf jeden Fall nicht mehr weiter.«
»Eine Möglichkeit bleibt uns noch!«
»Du willst ihn doch nicht wirklich in Ketten legen?«
»Es ist nur zu seinem Schutz!«
»Raoul ...«
»Keine Sorge! Ich werde erst noch einmal mit ihm reden, bevor ich zu so drastischen Mitteln greife. Wo ist er?«
»Wilbur hat ihn unten im Warenlager eingesperrt. Das ist der einzige Raum hier auf diesem Schiff, in dem wir keine Waffen lagern. Da sich dort auch nicht die Fässer mit dem Rum befinden, besteht also keine große Gefahr, dass er nicht ansprechbar ist. Soll ich mitkommen?« Raoul nickte.
»Es wäre mir lieber! Ich weiß nicht, wie er reagieren wird, und sollte es zum Schlimmsten kommen, werde ich einen zweiten Mann brauchen.« Marcus nickte.
Die beiden Männer liefen zum Unterdeck. Vor der verschlossenen Tür des Lagers wartete Wilbur schon auf sie.
»Er hat getobt, wie ein Berserker! Jetzt ist es aber ruhig. Vielleicht ist er eingeschlafen.«
»Das hoffe ich! Lucas hat den Schlaf dringend nötig. Kein Mensch behält seinen Verstand, wenn er so lange nicht schläft.« Wilbur nickte.
»Roxane hat es in ihren Verliesen als Folter angewendet. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell man einen Menschen brechen kann, wenn man ihn am Schlafen hindert. Die meisten sind bereits nach zwei oder drei Tagen vollkommen durchgedreht. Sie haben buchstäblich ihren Verstand verloren.«
»Und du denkst, bei Lucas wäre es ähnlich?«
»Ich denke schon. Wenn wir ihn endlich dazu bringen könnten, wenigstens eine oder zwei Nächte zu schlafen, dann könnten wir ihm vielleicht helfen.«
»Wilbur, ich glaube, du hast mich gerade auf eine Idee gebracht. Marcus lauf’ in meine Kajüte. In dem Schrank dort befindet sich eine kleine Holzkiste mit einigen Phiolen. Nimm eine heraus und bringe sie mir.«
»Sind die von Rilana?« Raoul nickte.
»Sie hat sie mir mitgegeben, falls einer von uns verwundet werden sollte. Sie sagt der Trank bewirkt, dass man lange und traumlos schläft. Es hilft beim Behandeln der Wunden. Man bekommt dann nicht mehr mit, was mit einem geschieht.«
»Du willst also, dass Lucas auch nichts mehr mitbekommt.«
»Er wird wieder etwas mitbekommen, sobald er erwacht, aber vorher wird er tief und fest schlafen, und zwar so lange, wie wir es wollen. Vielleicht kann sich dann sein Körper und sein Geist etwas erholen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.« Marcus stürmte die steile Stiege hinauf zum Oberdeck. Wenig später kehrte er auch schon mit einer Phiole in der Hand wieder zurück.
»Ist es diese hier?« Raoul nickte. »Wie willst du sie ihm geben?«
»Gib mir einen Becher Rum!« Marcus grinste.
»Gute Idee. Da hätte ich auch drauf kommen können.«
Wenig später betraten Raoul und Marcus mit dem Becher bewaffnet das Lager. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Lucas hatte die gestapelten Kisten umgeworfen und auch einige Fässer lagen verstreut auf dem Boden. Ihr Inhalt hatte sich über die Planken verteilt und es stank fürchterlich nach Fisch und Salzlake. Inmitten der Pfützen hockte Lucas. Er war vollkommen durchnässt, aber das schien ihn nicht weiter zu stören, denn er starrte apathisch an die Decke und zeigte keinerlei Regung. Raoul ging auf ihn zu, dabei musste er über einige Kisten steigen. Er stand jetzt unmittelbar vor ihm. Sein Freund bot wirklich einen jammervollen Anblick. Er sah ihn lange sorgenvoll schweigend an, dann richtete er sein Wort an ihn.
»Lucas, Marcus und Wilbur haben mir erzählt, du hättest dich verletzt. Darf ich es mal sehen?«, Lucas schüttelte seinen Kopf.
»Es ist halb so schlimm!«, antwortete er ihm matt, während er seine Augen schloss. Anscheinend hatten sie ihn in einem seiner einigermaßen klaren Momente erwischt. Das war gut! So konnte man wenigstens halbwegs vernünftig mit ihm reden.
»Lucas, warum machst du so etwas?«
»Raoul, ich will es nicht tun, aber ich muss es tun!« Er öffnete seine Augen und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Niemand muss sich selbst verletzen!«
»Raoul, ich will, dass es endlich aufhört. Vielleicht hilft es ja, wenn ich mir die Ohren abschneide!«
»Bist du von Sinnen?« Lucas schüttelte müde seinen Kopf.
»Wäre schön, wenn es so wäre!«
»Was ist es dann?«
»Ich habe dir doch von unserem Schiffbruch erzählt. Der Wind war nicht natürlich. Ich habe das Gekreische einer Frau gehört.«
»Das hast du mir schon erzählt", antwortete Raoul ihm nickend.
»Raoul, ich höre es immer noch. Es ist so infernalisch, dass ich das Gefühl habe, mein Kopf würde gleich zerspringen. Ich kann Euren Worten kaum folgen, weil es alles andere übertönt. Es tut weh und ich weiß nicht, wie ich es aus meinem Kopf herausbekommen soll. Ich habe schon alles Mögliche versucht. Warum denkst du, schütte ich mir jeden Tag Unmengen an Rum in den Hals, solange bis ich fast bewusstlos in der Ecke liege? Selbst nachts im Schlaf hört es nicht auf. Es ist immer da und es wird lauter und lauter. Lange halte ich das nicht mehr durch. Wenn ich ... Raoul, wenn ich völlig durchdrehen sollte, dann töte mich besser. Ich will keinem von Euch etwas antun. Damit könnte ich nicht leben.«
»Du sagst, es wird stärker?« Er nickte.
»Seitdem wir auf See sind. Erst war es nur leise in meinem Kopf. In Hibera habe ich es sogar geschafft, es hin und wieder auszuschalten. Doch hier auf See ... Je näher wir der Meerenge von Alara kommen, desto schlimmer wird es. Sie kreischt meinen Namen. Wenn ich versuche, sie zu ignorieren, wird sie lauter und lauter. Erst lockt sie mich mit schönen Worten, dann befielt sie mir, zu ihr zu kommen. Es ist die Hölle!«
»Lucas, mir ist eine Idee gekommen. Ich möchte dich ungern in Ketten legen, um dich vor dir selbst zu schützen, deshalb ... Wie lange hast du nicht mehr richtig geschlafen?«
»Seit dem Schiffbruch!«, gab er zu.
»Dann trink das!« Raoul hielt ihm den Becher unter die Nase, während Lucas ihn fragend ansah. »Keine Sorge, es ist nur ein Schlaftrunk!«
»Du willst mir einen Schlaftrunk geben und sagst es mir auch noch?«
»Lucas, Rilana hat ihn zubereitet. Sie sagt, er bewirkt, dass man traumlos schläft. Vielleicht brauchst du nur etwas Schlaf. Den Schlaf des Vergessens! Sollen wir es versuchen?« Lucas griff nach dem Becher, setzte ihn an seine Lippen und trank.
»Wenn er mir nicht helfen sollte, dann kann ich mich ja immer noch umbringen. Aber vorher vertraue ich doch lieber auf dein Urteil.«
»Marcus bringst du ihn in eine Koje? Er wird eine ganze Weile schlafen und sag Wilbur, er soll ihn nicht aus den Augen lassen.« Marcus nickte.
»Komm«, sprach er Lucas an, »dann wollen wir dich mal schlafen legen.«
Raoul befand sich grade auf dem Rückweg in seine Kajüte, als er vom oberen Deck laute Schreie hörte. Er stürmte die Stiege hinauf und sah zum Ausguck, aus dem die Schreie kamen.
»Gerard, was ist los?«, brüllte er dem Matrosen im Ausguck entgegen.
»Land in Sicht!«, schrie dieser zurück.
»Das kann nicht sein!«
»Wenn ich es doch sage! Dort am Horizont", er deutete auf einen kleinen Fleck, »ich denke 'mal es ist eine Insel.«
Raoul rannte in seine Kajüte. Dort angekommen eilte er zu der Seekarte. Seine Augen suchten das Gebiet ab, in dem sie sich seinen Berechnungen nach, befanden, aber da war nichts außer Wasser zu erkennen. Das konnte nicht sein! Wenn hier noch eine weitere Insel existierte, musste sie auf den Karten verzeichnet sein. Diese Route hier war für viele Schiffe die einzige Ausweichmöglichkeit um Alara zu umschiffen. Es konnte nicht sein, dass die Insel noch nicht entdeckt worden war. Dennoch, wenn Gerard sagte, er sehe Land, dann sah er es auch. Der Mann hatte Augen wie ein Adler. Raouls Aufregung stieg. Er ließ die Karte links liegen und rannte schnell zurück auf das Deck.
»Welche Richtung?«
»Kapitän, Süd - Süd - Ost.«
»Männer, klar zu Wenden! Steuerbord Süd - Süd - Ost, wir haben eine weitere Insel zu erkunden.«