Читать книгу Shinobi - Die Auslöschung - Danny Seel - Страница 23
Оглавление17. Vernichtende Neuigkeiten
November 1581
Yujiro wartete, bis die zwei Männer aus dem Geheimgang herausgeklettert waren. Dann folgte er ihnen aus dem Fluchtweg heraus und ließ das dunkle Loch hinter sich, bevor er in den langen Korridor trat. Diese Nacht hatten sie erneut die Oda angegriffen. Die Letzteren waren dieses Mal jedoch vorbereitet gewesen, sodass ihre Verluste minimal waren. Es war bereits die zwölfte oder dreizehnte Nacht, die Kiyonori in Kashiwara verbrachte und es war ihm nur schwer vorstellbar, dass sie den Oda noch länger würden standhalten können.
Der Chūnin rieb sich die Seite, wo ihm ein streifender Pfeil ein Stück Haut abgeschürft hatte und ging den Korridor entlang. Er öffnete die Schiebetür eines Zimmers, in dem selbst in der Nacht schmerzvolles Stöhnen zu hören war. Sich umschauend, nahm er die vielen verwundeten Männer kaum wahr. Diejenigen, die gerade erst hereingetragen worden waren, hatten Schwierigkeiten damit, ihre Schreie zu unterdrücken, sodass nicht wenige aus dem Schlaf gerissen wurden.
Auf einmal überkam Yujiro eine Ermüdung, die so groß war, dass er einfach neben einer Wand erschöpft zusammensackte. Er lehnte sich an einen Balken, wobei er die Schreie der Verwundeten ignorierte. Geistesabwesend begann er, ins Leere zu starren.
Aus einem unbekannten Grund überfielen ihn die Erinnerungen eines Geschehnisses, das lange, sehr lange, her stattgefunden hatte …
Der Elfjährige wischte sich den Schweiß von der Stirn, nachdem er seine Reisgarbe vor sich abgeworfen hatte. Still stand er da und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Die strahlende Sonne schien heiß auf ihn herab und ließ ihn die Arbeit auf den Reisfeldern nur noch mehr hassen.
„Wieso stehst du da untätig herum?“, vernahm er die fragende Stimme seines älteren Bruders hinter sich.
Als Jiro, wie Yujiro damals hieß, den Kopf drehte, erblickte er Izuya, der auf ihn zuging und in den Händen scheinbar mühelos ein Reisbündel trug.
„Ich ruhe mich kurz aus“, antwortete der Junge in einem Ton, der auf die Offensichtlichkeit hindeutete.
Izuya, der größer als Jiro war, sowohl aufgrund seines Alters als auch seines muskulösen Körperbaus, schüttelte den Kopf. „Vater wird nicht sehr erfreut sein, dies zu sehen. Du weißt doch, was er darüber denkt.“
Jiro nickte ernst. Obwohl zwei Reisgarben genauso viel wogen wie ein gesunder, erwachsener Mann, war Jiraiya, ihr Vater, schonungslos in dieser Art von Training gegenüber seinen Söhnen. Wenngleich Jiro eigentlich ein Reisbündel mit der Hilfe eines Freundes tragen sollte, hatte sein Vater ihm dies verboten und gesagt, dass er harte Umstände dulden musste, um sich im Leben durchzusetzen und dass ihm diese schwierige Aufgabe dabei helfen würde, muskulös zu werden. So muskulös wie Izuya.
Doch innerlich war Jiro anderer Meinung, obwohl er sich nie getraut hätte, es laut zu äußern. Er besaß nicht so einen robusten Körperbau wie Izuya. Seiner war schmaler und egal wie sehr er sich auch bemühte, Izuya schien immer stärker als er zu sein.
„Jiro-kun!“, hörten beide Jungen plötzlich Jiraiyas Stimme hinter sich und sahen ihren Vater mit zusammengekniffenen Augen auf sie zukommen.
Izuya warf seinem Bruder einen entschuldigenden Blick zu.
„Ich habe dich gewarnt“, murmelte er, bevor er seinen Weg fortsetzte.
Jiro beobachtete, wie Izuya wegging. Als er sich umdrehte und Jiraiya bereits direkt vor sich sah, zuckte er erschrocken zusammen.
„Wer hat dir erlaubt, eine Pause zu machen?“, wollte Jiraiya wissen.
„E-es ist n-nur, dass mein Rücken sehr wehtut“, stotterte Jiro.
Missvergnügt schüttelte sein Vater den Kopf. „Du tust was ich sage, außer wenn du eine Tracht Prügel von mir bekommen möchtest, ist das klar?“
Mit vor Angst weit geweiteten Augen nickte Jiro. Plötzlich verpasste ihm Jiraiya eine Ohrfeige.
„Wie oft muss ich dir sagen, dass du eine höfliche Antwort geben sollst? Wieso verweigerst du mir deinen Gehorsam? Möchtest du noch eine Strafe?“
Instinktiv schüttelte Jiro in übertriebener Weise den Kopf, bevor er sich daran erinnerte, dass sein Vater eine mündliche Antwort haben wollte, und ergänzte schnell: „N-nein, Vater.“
„Jetzt trag den Reisbündel dahin, wo er hingehört, aber dieses Mal trödle nicht so viel herum und mach keine Pausen. Hast du mich verstanden, du kleiner Taugenichts?“
„J-ja, Sir“, erwiderte der Junge, wobei er den Blick seines Vaters mied.
Jiraiya wollte sich umdrehen, blieb jedoch stehen, als er die Furcht in den geweiteten Augen seines Sohnes sah. Seine Miene erweichte ein wenig.
„Jiro-kun“, begann er, diesmal etwas sanfter, „ich tue dies nur, weil es das Beste für dich ist, verstehst du?“
Jiro nickte aus Reflex, obwohl er es gar nicht verstand. Jiraiya runzelte missfallend die Stirn, worauf sein Sohn ängstlich den Kopf einzog und vor Angst erschauderte.
„Lüg mich nicht an, Jiro-kun! Wenn du mich nicht verstehst, dann sag es einfach.“
„I-ich habe Sie n-nicht verstanden, Vater“, stammelte Jiro furchtsam.
Jiraiya streckte die Hand nach seinem Sohn aus, der aus Furcht vor einer weiteren physischen Strafe verängstigt zusammenzuckte. Sein Vater ignorierte die Reaktion des Jungen und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Sieh mich an.“
Jiro zögerte einen Augenblick, bevor er in Jiraiyas ernsten Augen blickte.
„Ich bereite dich auf die kommenden Zeiten vor. Je älter du wirst, desto mehr Verantwortungsbereiche wirst du übernehmen müssen und desto mehr Schmerz wirst du erleiden.“ Er hielt inne und schien Schwierigkeiten damit zu haben, seine nächsten Worte zu sagen, als traurige Erinnerungen vor seinen Augen aufblitzten. „Egal was du in deinem Leben hast, das dir nahe am Herzen liegt, sei es deine Heimat, deine Freunde, deine Familie oder auch dein Leben selbst … nimm nie etwas für selbstverständlich an. Nie.“
Mein Vater hätte wahrscheinlich nie geahnt, wie zutreffend seine Worte genau jetzt, zwanzig Jahre später, sein würden, dachte Yujiro. In den letzten Monaten – und vor allem Tagen – hatte er einfach zu viel aus seinem Leben verloren: Freunde, Verwandte und Nabari: sein Geburtsort, sein Heimatdorf und den Ort, in dem er beinahe sein ganzes Leben verbracht hatte.
So vieles hatte er für selbstverständlich gehalten und nun verloren. So vieles, was er nicht mehr zurückbekommen würde. So viele Menschen, die nicht mehr unter den Lebenden weilten …
Nie wieder würde er Teruo oder Izuya wiedersehen. Beim bloßen Gedanken daran wurden seine Augen feucht und ihm wurde schwer ums Herz.
„Yujiro.“
Dieser Ruf ließ ihn in die Gegenwart zurückkehren. Er schaute auf und sein Blick fiel auf Suzaku, der neben ihm stand. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich auf einmal alt, als er seinen jungen Freund ansah, obwohl er immer noch im besten Mannesalter war. Oder war er es nicht mehr?
Es muss der Krieg sein, sagte er sich melancholisch.
„Yujiro“, begann Suzaku mit einiger Dringlichkeit in der Stimme, „Ich weiß nicht, ob du jetzt zu erschöpft bist nach dem Angriff, aber könntest du vielleicht Mineyo und mir dabei helfen, einen der Verwundeten zu behandeln? Es geht um eine Wunde, mit der wir nur wenig Erfahrung haben … Ich glaube, ein Knochen wurde von dem Pfeil getroffen.“
Der Chūnin seufzte und erhob sich. „Bring mich zu ihm.“
Suzaku nickte und führte ihn durch eine Tür in ein anderes Zimmer, das bis zum Bersten voll mit Verwundeten war.
„Mineyo!“, flüsterte Suzaku, um nicht die schlafenden Menschen zu wecken.
Einen Moment später erreichte er seine Schwester, die sich neben einem Mann kniete, der in seinen Dreißigern zu sein schien. Ein Pfeil steckte in seinem Rücken und Mineyo drückte ein Tuch auf die Wunde. Sie schaute auf und blickte ihren älteren Bruder kurz an. Dann wandte sie sich an Yujiro und gab eine flüchtige Verbeugung von sich.
„Werden Sie uns helfen, Kiyonori-san?“, fragte sie, wobei sie kaum noch ihre Augen offen halten konnte.
Ihr Blick wies deutlich auf ihre Erschöpfung hin und sie schien damit kämpfen zu müssen, um auf der Stelle nicht einzuschlafen. Der Chūnin nickte kurz, bevor er sich neben Suzaku niederließ, der sich neben seiner Schwester hingekniet hatte. Dann untersuchte er den schwer atmenden Verwundeten. Der Pfeil hatte sich rechts in seine Schulter gebohrt und steckte womöglich tatsächlich in seinem Schulterblatt. Yujiro runzelte die Stirn und blickte zu Minyeo.
„Bringt mir bitte einen Verband, ein sauberes Tuch, eine Schale Wasser und etwas Saké, Nakazawa-chan.“
„Ja, Kiyonori-san“, erwiderte die junge Frau und wollte gerade das Zimmer verlassen, als sie plötzlich Schreie von irgendwo im Haus vernahmen. Doch dies waren keine Schmerzensschreie. Sie hörten sich mehr wie Schreie eines Konflikts und der Aggressivität an. Suzaku und der Chūnin wechselten alarmierte Blicke aus.
„Du bleibst hier“, sagte Suzaku bestimmt zu Mineyo, die sich gerade erheben wollte.
„Wir kommen gleich zurück“, versprach Yujiro.
Die beiden Shinobi standen auf und verließen das Zimmer. Sie betraten einen Gang und erblickten mindestens ein Dutzend Männer, die sehr angespannt wirkten und von denen die meisten ihre Waffen gezogen hatten. Sie alle standen im Korridor vor der geheimen, geöffneten Drehtür in der Wand, die den Eingang zum Geheimgang verborgen hielt.
„Wer sind Sie und woher wissen Sie von diesem Fluchtweg?“, hörten Suzaku und Kiyonori eine feindselige Stimme.
Schnell erreichten die beiden Shinobi ihre sechs Kriegskameraden, die sich vor der Drehtür versammelt hatten. Hinter diesen erblickten sie einen Mann, den sie als Urata, einen ihrer Chūnin, identifizierten, der die Klinge seines Dolchs an die Kehle eines Unbekannten hielt und ihn gegen die Wand drückte.
„Ich sage Ihnen doch, ich gehöre zu Hattori-samas Männern!“, behauptete der Fremde.
„Weshalb sind Sie dann mitten in der Nacht gekommen?“, knurrte Urata, wobei er die Klinge noch fester gegen den Hals des Unbekannten drückte. „Sie haben doch sicherlich nur versucht, Euch unbemerkt unter uns zu schleichen!“
Anstatt von Furcht, zeigte die Miene des Fremden Frustration. „Bin ich hierhergekommen, um von meinen eigenen Leuten ermordet zu werden?“, fragte er verärgert, bevor er einen sarkastischen Ton annahm. „Ich bringe wichtige Neuigkeiten und das ist der Dank dafür? Mir den Tod anzudrohen?“
Der Ton seiner Stimme schien Urata ein wenig zu verwirren, obwohl er sich Mühe gab, es nicht zu zeigen. „Weshalb sollte ich Ihnen glauben? Ihr könntet ein Spion im Dienste von Lord Nobunaga sein.“
Bevor der Unbekannte antworten konnte, erschien auf einmal Tanba und ging an den Männern vorbei, bis er neben Urata stehen blieb.
„Wer sind Sie?“, wollte er vom Fremden wissen.
Yujiro bemerkte, dass der Unbekannte sich ein wenig entspannte.
„Sie müssen Momochi-sama sein“, vermutete der Letztere. „Ich bin Dokite Chizuo, ein Genin gesandt nach Kashiwara von meinem Jōnin Hattori-sama. Ich bringe dringende Neuigkeiten von Hijiyama.“
Tanba blickte den Mann, der sich als Chizuo ausgab, argwöhnisch an. „Was für Beweise hätten Sie von Ihrer Identität?“
Darauf schmunzelte Chizuo und sagte etwas, das Kiyonori aufgrund eines Schmerzensschreis im Nebenzimmer nicht ganz vernehmen konnte. Als er Suzaku einen Blick zuwarf, stellte er fest, dass auch er es nicht mitbekommen hatte. Sobald er sah, dass Tanbas Misstrauen schwand, nahm er an, dass Chizuo einen Codesatz benutzt haben musste, um seine Worte zu bekräftigen.
Momochi schaute Urata kurz an. „Steckt Euren Dolch weg.“
Urata gehorchte widerstrebend und beäugte Chizuo immer noch unsicher. Der Letztere entspannte sich etwas und wagte es endlich, in Ruhe aufzuatmen.
„Was für Neuigkeiten sind das?“, erkundigte sich der Jōnin.
„Ich habe Seite an Seite mit den Iga-Truppen in der Festung von Hijiyama gegen die Oda gekämpft, Sir. Nun verwüstet der Großteil des Oda-Heeres unsere Provinz. Sie zerstören, plündern und brennen alle Schreine und Dörfer in Iga nieder und töten alles, was sich bewegt.“
„Warten Sie, warten Sie“, unterbrach ihn Tanba mit solch einem Ernst, den Yujiro meinte, noch nie zuvor auf dem Gesicht seines Vorgesetzten gesehen zu haben. „Wie kann das nur möglich sein? Die restliche Oda-Armee belagert doch Festung Hijiyama … oder etwa nicht?“
Chizuo blickte Momochi betrübt an und hielt zögernd inne. Er senkte den Blick in deprimierter Traurigkeit. Zornig fletschte er die Zähne, bevor er antwortete.
„Die Festung Hijiyama ist gefallen, mein Herr. Kashiwara ist nun der letzte Widerstand in ganz Iga. Und ein großes Oda-Heer marschiert direkt auf Kashiwara zu.“
Unverzüglich breitete sich Stille unter den Anwesenden aus, als sie versuchten seine Worte vollständig zu begreifen. Kiyonori spürte, wie im Angesicht dieser Neuigkeiten seine letzten Hoffnungen schwanden. Es war bereits schlimm genug, dass sie von einer Armee von zehntausend belagert wurden. Doch jetzt waren sie nicht nur die letzten, sich noch wehrenden Truppen in ganz Iga, sondern würden dazu noch bald Tausende weitere Oda-Soldaten vor ihren Mauern ihr Lager aufschlagen. Sie würden die Festung Kashiwara mit ihrer Masse einfach überrollen.
Nun hatten sie wahrhaftig verloren. Sie mochten vielleicht noch Momochi Tanba, ein strategisches Genie, auf ihrer Seite haben, doch nicht einmal Japans raffiniertester Taktiker wäre in der Lage, so eine riesige Armee mit einer Handvoll von Kriegern in einer winzigen Festung zu schlagen.
Schließlich wagte es Yujiro, das zu sagen, was sie alle dachten: „Wir sind erledigt.“