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Kapitel 1: „Zündende Leuchtkraft“

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(März 1911 – September 1938)

Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum „Todesengel“ werden sollte. Anzeichen für extreme politische Überzeugungen, Antisemitismus und Fähigkeit zum Mord sind schwer zu finden. Studien über den sozialen Hintergrund und die Kindheitserfahrungen von Männern, die später Verbrechen unter den Nazis verübten, beschreiben oft die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf ihre psychische und emotionale Entwicklung.1 Viele, die später für schreckliche Verbrechen verantwortlich waren, gehörten der Generation an, für die der Erste Weltkrieg eine so wichtige Rolle spielte. Laut einer Theorie raubte der Krieg vielen jungen Deutschen den Vater, und die plötzliche deutsche Kapitulation machte jene Väter, die zurückkehrten, zu schambehafteten Figuren.2 Diese psychische Last zusammen mit den Entbehrungen und politischen Umwälzungen nach dem Krieg habe eine Gruppe von Männern geprägt, die Hitlers Botschaft als machtvollen Aufruf zum Handeln verstanden. Dies ebnete ihm den Weg zum Erfolg und trieb einige an, an einem ideologischen Kampf teilzunehmen, der ihnen erlaubte, Verbrechen und Gräueltaten in beispiellosem Ausmaß zu verüben.

Obwohl Mengeles Vater Karl bei Kriegsbeginn eingezogen wurde, wurde er zwei Jahre später freigestellt, um wieder die Fabrik zu leiten, die seinen Namen trug. Sie hatte ihre Produktion von der Agrartechnik auf Ausrüstung für die deutsche Kriegsanstrengung umgestellt. Bei der Herstellung von Bleigewichten für Seeminen und einachsigen Pferdewagen für den Munitionstransport stieg die Zahl der Angestellten der Firma Mengele von 15 im Jahr 1915 auf 91 bei Kriegsende. Auch wenn sie nicht der größte Arbeitgeber in Günzburg war, entwickelte sie sich zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor in der kleinen Stadt, was Karl Mengeles Status hob und sein Vermögen mehrte.

Mengeles Mutter Walburga, drei Jahre älter als ihr Ehemann, kam aus einer angesehenen Günzburger Familie. Während Mengele seinen Vater später als „gutmütig und weichherzig“ beschrieb, war seine Mutter „äußerst resolut und energisch“. Nach Aussage eines Bekannten war das Erscheinen von Mengeles Mutter in der Fabrik viel mehr gefürchtet als das seines Vaters.3 Sie war fromme Katholikin, und ihre Frömmigkeit färbte anscheinend auf Mengele ab.4 Obgleich er nicht gläubig war, trat er nicht aus der Kirche aus und entschied sich für eine kirchliche Trauung – beides ungewöhnlich unter SS-Angehörigen.5

In seiner Autobiografie widmete Mengele über 100 Seiten seiner Kindheit und Jugend und zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit inmitten von Eltern, Großeltern und Hausangestellten. Die Familie sah seine Geburt als wichtiges Ereignis an, das im 31. Lebensjahr seiner Mutter eintrat, zumal ihr erstes Kind wenige Tage nach der Geburt gestorben war. Die Aufregung um Josef Mengeles Geburt zeigte, wie lange er erwartet worden war, und er nahm seinen Platz im Zentrum einer aufmerksamen Familie ein. Mit seinen jüngeren Brüdern Karl und Alois, die in den folgenden drei Jahren geboren wurden, verlebte er eine recht unbeschwerte und ereignislose Kindheit.

Laut einem Freund aus seiner Kindheit war die Atmosphäre in seinem Zuhause „konservativ, katholisch, konventionell“.6 Mengeles Vater gehörte zumindest zeitweise der Deutschnationalen Volkspartei an. Er war damals kein Unterstützer der NSDAP, wie einige meinen, die darauf verweisen, dass er im Oktober 1932 sein Fabrikgebäude für einen Wahlkampfauftritt Hitlers zur Verfügung stellte. Karl trat der NSDAP im Mai 1933 in Verbindung mit seiner Kandidatur für den Stadtrat bei, die ihm 1924 und 1929 nicht geglückt war. Der Historiker Zdenek Zofka ist der Auffassung, dass Karl Mengeles politisches Engagement weniger ideologisch begründet war, als dem Wunsch entsprang, das örtliche Geschäftsklima zu beeinflussen. Tatsächlich warfen Günzburger NS-Funktionäre ihm vor, seinen Sitz durch eine großzügige Spende erworben zu haben.7 Karl trat zwar 1935 der SS bei, seine Mitgliedschaft war jedoch nominell und er leistete keinen Dienst und erreichte keinen Rang. Im Rahmen der Entnazifizierung nach 1945 kam die Spruchkammer zu dem Ergebnis, sein Posten als Kreiswirtschaftsberater von 1936 bis 1945 sei fachlicher Natur gewesen; er habe keine politische Verantwortung getragen und sei kein „überzeugter und zuverlässiger Nationalsozialist“ gewesen. Die Spruchkammer befand außerdem, Karl Mengele habe sich fair und großzügig gegenüber Personen verhalten, die vom NS-Regime verfolgt wurden, darunter politische Gegner und Juden.8

Im Einklang mit den konservativen politischen Anschauungen seines Vaters trat Josef Mengele 1924 dem Großdeutschen Jugendbund (GDJ) bei, und war von 1927 bis zu seinem Austritt 1930 Ältestenführer des Ortsverbands Günzburg, dem 60 Jungen und 30 Mädchen angehörten. Mengele erinnerte sich an eine Sonnenwendfeier, die er mit seiner Gruppe organisierte:

Wir waren stolz auf unser großes Sonnwendfeuer, das auf dem Höhenrücken gegenüber der Vaterstadt in den Himmel lohte und davon Kunde gab, daß ein kleines Häuflein Jungs und Mädels heute die Sonnenwende feierten mit den heißen Gedanken und Wünschen in ihren Herzen, die Menschen ihres Vaterlandes aufzuwecken und aufzurütteln zum heiligen Kampf der Befreiung von den Fesseln des schändlichen Versailler Vertrages. Frei sollte die Flamme machen und … leuchten sollte sie uns auf unserem Weg, wärmen sollte sie uns mit der Liebe zu unserem großen Volk und seiner hohen Kultur und verbrennen sollte in ihr alle Zwietracht unter uns Deutschen.9

Der GDJ nahm keine Juden auf, wie Mengele in seinem Tagebuch erklärte, damit „das Arteigene des deutschen Volkes“ endlich hervortreten und von „Verkrustungen des Artfremden“ befreit werden könnte.10 Manche haben Mengeles deutlich nationalistisch und antisemitisch gefärbten Rückblick auf seine Zeit beim GDJ so interpretiert, dass seine Mitgliedschaft den Weg zu seiner NSDAP-Mitgliedschaft und der Übernahme von deren Ideologie und Weltbild festgelegt hätte, aber der Historiker Sven Keller hält eine solche Deutung für zu weitgehend. Soweit Mengele in seiner Kindheit eine antisemitische Haltung kennenlernte, habe es sich eher um den „für das katholische Milieu der Zeit durchaus typischen latenten kulturellen Antijudaismus gehandelt“.11 Antisemitismus war laut Keller zweifellos im GDJ präsent, so wie in großen Teilen der Jugendbewegung und anderen konservativen bis rechten Organisationen in der Weimarer Republik, doch er wurde weder als ausdrückliches Ziel in den Vordergrund gestellt, noch war er mit dem aggressiven rassischen Antisemitismus der Nazis vergleichbar.12

Die Mitgliedschaft Josef Mengeles im GDJ kann nicht als direkte Vorstufe oder als Zeichen einer bereits vorhandenen Begeisterung für die Ideen und Prinzipien des Nationalsozialismus gewertet werden …; [die neukonservativen Vorstellungen] orientierten sich an den Ideen Ernst Jüngers oder Moeller van den Brucks, nicht an denen Adolf Hitlers oder Alfred Rosenbergs.13

Mengele besuchte das humanistische Gymnasium in Günzburg, wo nach traditionellem Muster Latein und Griechisch als Grundlage der europäischen Kultur gelehrt wurden. Seine Leistungen waren bestenfalls durchschnittlich: in Religion, Englisch, Physik und Geschichte bekam er ein Befriedigend, in Deutsch, Griechisch, Latein und Mathematik ein Mangelhaft. Sein Betragen war ordentlich, aber sein Fleiß und sein Interesse für die Schule ließen zu wünschen übrig. Mengeles Schulakte zeigt, dass er seit dem Schuljahr 1927–28 eine Reihe von Infektionen wie Knochenmarkentzündung, Nierenentzündung und Blutvergiftung hatte und wegen dieser Krankheiten längere Zeit die Schule versäumte. Sie führten auch zu einem bleibenden Nierenschaden. Dies hinderte ihn daran, das Familienunternehmen zu übernehmen, was ihm als ältestem Sohn zugestanden hätte.

Obwohl die Weltwirtschaftskrise die Aussichten der Firma getrübt hatte, warf sie immer noch Gewinn ab, und es wäre natürlich gewesen, wenn Mengele ins Unternehmen eingetreten wäre, vor allem weil er stets von technischen Dingen fasziniert war und großes Interesse für das zeigte, was in den Werkstätten und der Fabrik seines Vaters passierte. Mengeles Mutter war jedoch der Meinung, die Gesundheit ihres Sohnes, die besondere Diät und Ruhe erforderte, spreche gegen einen Posten in der Firma, wo eine robuste Kondition nötig war. Stattdessen wurde der jüngste Bruder Alois, der eine Handelsschule besuchte, dazu ausersehen, in die Firma einzutreten, sodass Josef und sein Bruder Karl ihren Beruf frei wählen konnten.14 Mengele machte 1930 das Abitur, wusste aber noch nicht, welchen Studiengang er wählen würde, und zeigte keine besondere Vorliebe.

Mengele

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