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Soldat

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Fünf Wochen nach der Hochzeit von Josef und Irene Mengele reagierte Deutschland auf eine vorgetäuschte Provokation, marschierte in Polen ein und entfesselte damit den Zweiten Weltkrieg. Aus Sicht der Nazis war der Krieg nicht nur ein Feldzug zur Eroberung von Land und Ressourcen, sondern auch ein Rassenkrieg, der einen machtvollen Vorwand durch die Wissenschaft erhielt, die Mengele in den neun Jahren davor studiert und praktiziert hatte. Wegen seiner Schlüsselrolle in Verschuers Institut wurde Mengele nicht wie viele seiner Kollegen sofort zur Wehrmacht eingezogen, sondern zur „anderweitigen Verwendung“ eingestuft, was ihn zumindest vorläufig vor dem Schlachtfeld bewahrte.24

Als seine Rückstellung am 15. Juni 1940 endete, ging Mengele zum Sanitäts-Ersatz-Bataillon 9 in Kassel, wo er einen „truppenärztlichen Lehrgang“ machte und die Prüfung zum Unterarzt ablegte.25 Laut seinem Freund Kurt Lambertz war Mengeles Dienst in der Einheit sehr unangenehm wegen der Haltung eines böswilligen Unteroffiziers, der „seine Untergebenen fertig machen wollte. Zuerst stundenlang durchs Gelände robben und dann sonntags verstopfte Latrinen reinigen“.26 Mengeles Ausweg war die Meldung zur Waffen-SS, wo er am 1. August 1940 dem Sanitätsamt zugeteilt wurde. Sein erster Posten war bei der Einwandererzentralstelle (EWZ) in Posen, wo er als Experte für Erbbiologie beim Gesundheitsamt arbeitete. Die EWZ war Anfang Oktober 1939 gegründet worden, um die Eignung volksdeutscher Auswanderer für die Umsiedlung zu bewerten.

Für die Nationalsozialisten bot der Krieg die Gelegenheit, nicht nur Bedrohungen für das deutsche Volk zu entfernen, sondern auch „positive“ Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der deutschen Rassengemeinschaft zu ergreifen. Da Rasse und Nation für die Nazis dasselbe waren, erhoben sie den Anspruch, „deutsches Blut“ überall dort zu schützen, wo sie es vorfanden. In einer Reichstagsrede am 6. Oktober 1939 verkündete Hitler die Schaffung „einer neue[n] Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“, die nach seiner Meinung die Quellen weiterer Konflikte in Europa beseitigen werde. Er nannte es „utopisch, zu glauben, daß man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne“, und forderte eine „weitschauende Ordnung des europäischen Lebens“. Damit meinte er unter anderem die Umsiedlung von Volksdeutschen in die neuen Gebiete, die Deutschland im Krieg erobert hatte. Ein geheimes Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 bot die Mittel und Gelegenheit für die Art von Umsiedlung, die Hitler in seiner Rede entwarf.

Neben der Teilung Polens und der Bestimmung von Einflusssphären im Baltikum und Osteuropa erlaubten der Pakt und seine Zusätze es Volksdeutschen aus den baltischen Staaten, nach Deutschland auszuwandern, und sogenannten Weißrussen, aus deutsch besetztem Territorium in die Sowjetunion zu gehen. Der Pakt erlaubte auch die Annexion von Teilen Westpolens, wodurch sie administrativ und rechtlich Teil des Deutschen Reichs wurden. Gebiete wie Oberschlesien und der Warthegau sollten von Juden und Polen gesäubert und diese nach Osten in ein Rumpfpolen namens Generalgouvernement abgeschoben werden. In den annektierten Gebieten wollte man umgesiedelte Volksdeutsche ansiedeln, welche die leeren Häuser beziehen und enteignete Höfe und Geschäfte übernehmen würden. Die Umsiedlung der Volksdeutschen aus dem Baltikum, die sonst unter sowjetische Kontrolle geraten wären, war Teil einer gewaltigen Anstrengung, die rassische Karte Europas neu zu zeichnen. In ähnlicher Weise kam Hitler im Oktober 1939 zu einem Abkommen mit Mussolini, das Volksdeutschen in Südtirol die Entscheidung für die deutsche Staatsbürgerschaft und die Umsiedlung erlaubte.

Für diese enorme und komplizierte Völkerverschiebung war eine entsprechend große und komplexe Bürokratie erforderlich. Am Tag nach seiner Reichstagsrede ernannte Hitler Heinrich Himmler zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Himmler sah seine Aufgabe im Aufbau einer neuen Rassenordnung, bei dem er treuhänderisch für Erhaltung, Schutz und Pflege des deutschen Bluts verantwortlich war. Er war insbesondere betraut mit der Umsiedlung der Volksdeutschen, der „Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten“ und der „Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete“.27

Zwei Wochen später sprach Himmler vor SS-Führern im soeben annektierten Posen (Poznań) und enthüllte seine romantische Vision der bevorstehenden Umsiedlung:

Schon vor 3.000 Jahren und in der folgenden Zeit wohnten in den östlichen Provinzen, in denen wir heute stehen, Germanen. … Diese alten deutschen Siedlungen haben sich mehr oder weniger bis heute in geschlossenen Orten und Inseln rassisch erhalten, wenn auch zum Teil die Sprache verlorengegangen ist. Was in diesen Zeiten möglich war, muß auch heute wieder vollauf gelingen. … Seit urdenklichen Zeiten waren deutsche Kolonien ein Bollwerk für das Volkstum und brachten ein blühendes Bauerntum hervor. … Das noch ansässige, übriggebliebene Volk wurde zum Arbeiten als Knechte herangezogen.28

In der ersten Phase wurden Volksdeutsche aus Estland und Lettland umgesiedelt. Dies war durch Verträge mit diesen Ländern geregelt, die noch ihre Unabhängigkeit besaßen, obwohl die Furcht vor einer sowjetischen Invasion zu spüren war.29 Die Verträge mit Estland vom 15. und mit Lettland vom 30. Oktober 1939 regelten die Eigentumsverhältnisse und die sichere Durchreise aller Volksdeutscher, die „heim ins Reich“ wollten, wie die NS-Propaganda es nannte.

Die Umsiedlung der estnischen Volksdeutschen begann wenige Tage nach Unterzeichnung des Vertrags und endete einen Monat später mit der Ausreise von über 13 000 Menschen, von denen 96 Prozent bei der Organisation registriert waren, die ihre Interessen in Estland vertreten sollte.30 In Lettland dauerte die Umsiedlung vom 7. November bis 16. Dezember. Hier wurden über 47 000 Menschen, 88 Prozent aller Volksdeutschen in Lettland, nach Deutschland gebracht, wo sie von Vertretern der EWZ erwartet wurden.31 Ein SS-Arzt führte eine Untersuchung einschließlich eines Röntgenbilds der Lunge durch und achtete besonders auf Anzeichen möglicher Erbleiden. Auch eine Abstammungsprüfung ähnlich der von Irenes Antrag auf Eheschließung war erforderlich. Man stellte eine Liste der zurückgelassenen Besitztümer wie Häuser, Grundbesitz und nicht bewegliche Güter auf, um bei Entschädigungsentscheiden zu helfen. Am wichtigsten war vielleicht die Befragung, die herauszufinden suchte, wie erfolgreich die Umsiedler ihr „Deutschtum“ gepflegt hatten. Sprachen sie Deutsch und wie gut? Gehörten sie Organisationen an, die eine Verbindung zur deutschen Kultur pflegten? Personen mit guter Einstufung wurden in den neu eroberten Gebieten angesiedelt, die anderen kamen ins Altreich, wo sie mit staatlicher Unterstützung vollständig deutsch werden sollten.

Nur ein Bericht unter den erhaltenen Dokumenten der EWZ belegt Mengeles ersten Posten während des Krieges. Er ist von dem SS-Offizier und -Arzt Hermann Heidenreich verfasst und beschreibt, wie er und zwei Kollegen – Mengele und ein Psychiater namens Weber – ab August 1940 mindestens zwei Monate arbeiteten, um die Arbeit der EWZ bei der Umsiedlung der baltischen Volksdeutschen zu bewerten. Als Reaktion auf Besorgnis über die Qualität der Gesundheits- und Abstammungsuntersuchungen überprüften Mengele und seine Kollegen systematisch, wie Großgrundbesitzer und Bauern unter den Baltendeutschen in der ersten Umsiedlungsphase im Vorjahr eingestuft worden waren. Ihr Bericht kritisierte schlampig ausgeführte Untersuchungen und besonders die Qualifikationen und Leistungen des eingesetzten Personals. Sie nannten Beispiele für Nachlässigkeit und Ungenauigkeit, darunter eines, das gewiss von Mengele stammte und einem Arzt vorwarf, eine klassische Gaumenspalte unter einer chirurgisch geschlossenen Hasenscharte nicht bemerkt zu haben. Diese Kritik sollte die Arbeit der EWZ verbessern, denn sie erklärten, es gehe um viel. Die Einstufungen der EWZ führten zur Überschreibung von Boden als Entschädigung, und nachlässige Untersuchungen konnten schwere Folgen haben: „Aber das Land ist zu kostbar und zu knapp, als dass es Familien zugewiesen würde, die in ein oder zwei Generationen einen Stall voll Idioten, Schwachsinnigen, Epileptikern oder Szizophrenen [!] liefern würden.“32

Es mag manchen schwierig erscheinen, die Arbeit der Einwandererzentralstelle, die häufig zu positiven Ergebnissen für Umsiedler führte, im selben Kontext zu sehen wie die düstereren Aktivitäten anderer NS-Organisationen. Tatsächlich gaben SS-Rassenexperten bei Prozessen nach dem Krieg offen ihre Verantwortung für die „positive Maßnahme“ der Umsiedlung von Volksdeutschen während des Krieges zu, und die meisten entgingen schweren Strafen.33 Neben den anderen Verbrechen, die sie möglicherweise begingen, war ihre Einstufung von Umsiedlern auf der Grundlage von Gesundheit und Rasse aber ein entschiedener Akt der Selektion mit unheilvollen Folgen für die als unwert eingeschätzten. Mengeles Arbeit in Posen war ein Vorspiel für das Kommende.34

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