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Selektionen

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Das vielleicht abschreckendste und vertrauteste Bild, das wir von Auschwitz haben, ist die Konfrontation an der „Rampe“, wo neu ankommende Gefangene, die desorientiert und verängstigt, erschöpft und hungrig waren, aus dem Waggon steigen mussten. Diese unschuldigen Menschen waren Objekte eines gut einstudierten und effizienten Vorgangs, der als „Selektion“ bekannt wurde. Dabei wurden sie ihres letzten Eigentums beraubt, von ihren Nächsten losgerissen und in zwei Gruppen eingestuft: Arbeitsfähige, die – zumindest vorläufig – am Leben blieben, und jene, die binnen weniger Stunden ermordet wurden. Als Lagerarzt gehörten Selektionen bei der Ankunft neuer Transporte zu Mengeles Pflichten und auch das routinemäßige Aussortieren von Häftlingen, die sich schon im Lager befanden. Obwohl Selektionen nicht immer von medizinischem Personal ausgeführt worden waren, konnte Eduard Wirths diese Aufgabe im Frühjahr 1943 für sein Personal sichern, das seiner Meinung nach professioneller war und frühere Fehler wie die Verurteilung arbeitsfähiger Gefangener zum Tode vermeiden konnte.23 Der Einsatz von Ärzten verstärkte auch die Überzeugung, dass die Ermordung von Juden eine Angelegenheit der Volksgesundheit sei, ein Versuch, die Rassengemeinschaft zu schützen und zu erhalten. Mit anderen Worten, Ärzte erfüllten hier eine medizinische Pflicht zum Nutzen des Volkes.24

1982 schilderte mir Rudolf Vrba, der im April 1944 aus Auschwitz entkam, wie die Ankunft eines Zugs und seine Entladung vor sich ging. Bis zum Frühjahr 1944 war die Rampe ein Abstellgleis außerhalb des Lagers Auschwitz II – Birkenau auf dem Gelände des Güterbahnhofs Auschwitz. Wenn ein Transport angekündigt wurde, kam eine Einheit der Wachmannschaft zum Einsatz. Die Lokomotive wurde abgekoppelt, und SS-Wachen umstellten die Rampe, um zu verhindern, dass jemand flüchtete, und um Wertsachen aufzusammeln, die aus dem Zug geworfen wurden. Dann wurden die Waggontüren geöffnet und die Gefangenen herausgetrieben. Es gab eine sorgfältige Zählung, und die Gefangenen wurden in zwei Schlangen geteilt, Männer auf der einen Seite, Frauen und Kinder auf der anderen. Diese Schlangen mussten am diensthabenden Lagerarzt vorbeigehen, der die Selektion vornahm, indem er die Schlange nach links und rechts teilte – Leben und Tod. Schwache, Kranke, Alte, Kinder und Schwangere mussten sterben, ebenso Mütter mit ihren Kindern.

Danach wurden drei Gruppen gebildet: Frauen, die ins Lager aufgenommen wurden, Männer, die ins Lager aufgenommen wurden, und jene Männer, Frauen und Kinder, die sofort vergast werden sollten. Die Aufgenommenen wurden die kurze Strecke nach Birkenau getrieben, die zum Tode Verurteilten mit Lastwagen zu einem der beiden Gaskammer- und Krematorienkomplexe gebracht. Eine Gruppe von Gefangenen sammelte das Gepäck und andere Besitztümer ein und brachte sie ins Effektenlager, genannt „Kanada“, wo es registriert und zum Gebrauch vor Ort sortiert oder nach Deutschland transportiert wurde. Andere stiegen in die Waggons und reinigten sie, Schreibkräfte vervollständigten und überprüften die Unterlagen. Je nach Größe des Transports konnte die ganze Aktion in ein bis zwei Stunden vorüber sein. Man versuchte, die Angst der Gefangenen zu dämpfen, indem man ihnen Lügen erzählte und Zusicherungen über ihr Schicksal machte. Der SS-Oberscharführer Josef Erber sagte 1979 bei einem Interview, das Motto sei gewesen: „An der Rampe alles so ruhig wie möglich, daß alles in Ruhe abläuft.“25

Am 3. August 1964 sagte Richard Böck, ein Fahrer in Auschwitz, der Gefangene zu den Gaskammern transportierte, beim Frankfurter Auschwitz-Prozess detailliert über eine Selektion aus. Böck, der aus Günzburg stammte und Mengele kannte, beschrieb dem Gericht, wie er Mengele an der Rampe erlebt hatte:

Da war die Schiene, da steht der Zug, da drüben habe ich gleich den Mengele gesehen. Und ein paar Offiziere sind es gewesen, alle habe ich auch nicht gekannt. … Und da habe ich den Mengele und die alle gesehen. … Dann haben sie zuerst ein bißchen gesprochen miteinander, und ich bin an meinem Lkw so drangelehnt an den Kotflügel und habe da so zugeschaut.

Dann ließ Mengele alle Personen mit medizinischem Wissen vortreten:

Der Mengele … hat dann gesagt: „Die Ärzte und Apotheker nach vorn.“ … Und dann sind schon langsam die Herren gekommen, bessere Herren sind gekommen, vorgelaufen. Ich habe gesehen, die Anzüge sind verknittert, aber sie waren besser gekleidet, Brillenträger gewesen, zum Teil. Es waren elegante Leute, hat es den Eindruck gemacht. Und dann hat der Mengele so eine Geste gemacht.

Böck zeigte die Geste mit dem eigenen Daumen, „Dann sind sie so hingestanden bei ihm, so links, dort“, und er beschrieb eine herzzerreißende Begegnung, als Mengele mit der Trennung der Menschen auf der Rampe begann:

Und gleich als erste ist eine blonde Frau gekommen. Die Frau, die könnte ich heute noch kennen, so habe ich die angeschaut. Ich habe gleich gemeint, das sei die Lilian Harvey, die Filmschauspielerin. Und dann hat der Mengele zu ihr gesagt, wörtlich: „Wie alt?“ Dann hat sie gesagt: „29 Jahre.“ Dann hat der Mengele gesagt: „Sind Sie schwanger?“ Dann hat sie gesagt: „Jawohl.“ Dann hat der Mengele gesagt: „Im wievielten Monat?“ Dann hat sie gesagt: „Im neunten.“ Und dann hat der Mengele so gemacht [Erneut zeigte Böck die Geste mit dem Daumen], und dann ist sie so rübergelaufen, über die Bahngeleise rüber und rechts hinunter. … Dann ist gekommen ein junger Mann, 24 Jahre alt. „Gesund?, kräftig?“, hat der Mengele gesagt. Dann hat er gesagt: „Jawohl.“ Dann hat der Mengele so gemacht mit dem Daumen – immer mit dem Daumen hat er so gemacht und so –, so hinüber. Dann ist er auch da hinübergestanden, wo die Ärzte gestanden sind.

Böck fuhr fort: „Dann ist gekommen ein alter Mann, der hat einen Bart gehabt, da hat er [Mengele] nicht gefragt, da hat er so gemacht.“ Erneut zeigte Böck mit dem Daumen nach rechts. Schließlich sagte er, Mengele sei gelangweilt oder ungeduldig oder einfach müde gewesen, denn er beendete die Prozedur mit einer Art sprachlichem Achselzucken:

Und dann ist so der halbe Zug, schätze ich ungefähr, vorgelaufen gewesen, dann hat der Mengele auf einmal „Ach was“ gesagt. Dann ist alles da rübergelaufen. Dann sind gleich Frauen gekommen mit Kindern, dann sind Frauen gekommen, die haben so Chaisen geschoben, und es ist alles so da hinunter.26

Sie versammelten sich rechts vom Gleis, entfernt von den Ärzten und gesunden jungen Männern. Später sagte Böck über das Ende jener aus, die auf die rechte Seite geschickt wurden – er hatte eine Vergasung gesehen und beschrieb sie in schrecklichen Einzelheiten.27

In Vorbereitung auf den gewaltigen Zustrom von Juden, der durch die Deportationen aus Ungarn erwartet wurde, baute man im Frühjahr 1944 eine Bahnstrecke, die durchs Haupttor von Birkenau führte und im Zentrum des Lagers endete, nahe dem Krematorienkomplex II/III. Dadurch konnte das Entladen der Züge innerhalb von Birkenau stattfinden und man brauchte keine Wachkompanie und Lastwagen mehr, was die Effizienz des Vorgangs sehr steigerte.

Der ungarische Arzt Dr. Mauritius Berner sagte ebenfalls beim Frankfurter Auschwitz-Prozess über seine Erlebnisse bei der Ankunft an der Rampe in Birkenau am 29. Mai 1944 aus:

Und der Strom der Menschen ging vorwärts, und ich sagte meiner Frau – ich war mit Frau und drei Kindern, drei Töchterchen: „Tut nichts. Hauptsache, daß wir fünf zusammen sind.“ Und: „Wir werden schon sehen, wie wir weiterkommen.“ Kaum sagte ich das, tritt schon ein anderer Soldat zwischen uns und sagt: „Männer nach rechts, Frauen nach links!“ und hat uns voneinander getrennt. Ich habe nicht einmal soviel Zeit gehabt, meine Frau zu umarmen. Sie hat mir nachgeschrien: „Komm, küsse uns!“ Vielleicht aus irgendeinem Fraueninstinkt hat sie eher gefühlt, was für eine Gefahr uns droht.


Ungarische Juden bei der Selektion an der Rampe von Auschwitz-Birkenau im Mai 1944. Mengele bestimmte nicht nur, wer sofort ermordet und wer zuerst zur Arbeit gezwungen werden sollte, sondern suchte auch passende Opfer für seine medizinischen Experimente sowie gut ausgebildete Ärzte und andere wissenschaftliche Spezialisten, die ihm bei seiner Arbeit helfen konnten.

United States Holocaust Memorial Museum, mit freundlicher Genehmigung von Yad Vashem

Ich bin durch den Kordon zu ihnen gelaufen, habe meine Frau geküßt und meine drei Kinder. Und schon wieder hat man mich auf die andere Seite geschoben, und wir sind weiter vorangegangen, parallel zwar aber getrennt. Zwischen den zwei Gleisen, zwischen den zwei Zügen parallel, aber getrennt. Dann, nicht wahr, die Menge hat mich auch weitergestoßen, habe ich sie aus den Augen verloren, meine Familie.28

Dann hörte er jemanden rufen: „Ärzte und Apotheker sammeln sich hier.“ Berner schloss sich einer großen Gruppe an, die rund 70 Personen umfasste, wie er sich erinnerte. Allein aus seiner Heimatstadt waren dort 38 Ärzte und mehrere Apotheker. Zwei SS-Offiziere kamen auf sie zu, von denen Berner einen kannte: Es war Viktor Capesius, der seine Praxis als Pharmavertreter der I. G. Farben besucht hatte, Capesius übersetzte die Worte des anderen Deutschen ins Ungarische, und Berner erfuhr später, dass es Josef Mengele war.

Berner sagte Mengele, er habe sein Diplom im Koffer, der mit allen anderen an der Rampe eingesammelt worden war, und fragte, ob er es holen könne. Nachdem er den Koffer gefunden und sein Diplom und mehrere Familienfotos herausgeholt hatte, kehrte Berner zur Gruppe aus Ärzten und Apothekern zurück. Inzwischen war Mengele weitergegangen und stand 20 oder 30 Meter entfernt. Berner sah ihn vor der Menge stehen, die auf ihn zukam und die er mit einer Handbewegung teilte. Manche gingen nach rechts, andere, darunter Frauen und Kinder, nach links. Berner sagte aus:

Auf einmal sehe ich meine Frau und meine drei Kinder schon von Mengele weiter entfernt gehen. Und es fällt mir ein: Ich werde dem Doktor Capesius eine Bitte vorlegen. Ich bin zu ihm herangetreten, und ich sage ihm: „Herr Hauptmann …, ich habe zwei Zwillingskinder, die bedürfen einer größeren Schonung. Ich arbeite, was Sie wünschen, nur gestatten Sie mir, mit meiner Familie zusammenzubleiben.“ Ich wußte nicht, warum wir dort waren, wohin sie zu gehen hatten. Fragt er mich: „Zwillingskinder?“ „Ja.“ „Wo sind sie?“ Ich zeige: „Dort gehen sie.“ „Rufen Sie sie zurück“, sagte er mir.

Worauf ich meine Frau und meine Kinder, die Namen, laut rufe. Und sie kehren um, und ich zeige ihnen, sie sollen zurückkommen. Sie kommen zurück, und sogar Doktor Capesius nahm sie an die Hand, die zwei Kinder, und führt uns bis zum Doktor Mengele. Und an seinem Rücken stehengeblieben, sagt er mir: „Na, sagen Sie es ihm.“ Und ich sagte wieder: „Herr Kapitän“, ich wußte nicht seine Distinktion, „Herr Kapitän, ich habe zwei Zwillingskinder“, wollte weiter sprechen, aber er sagte mir: „Später, jetzt habe ich keine Zeit.“ Und mit einer abwehrenden Handbewegung hat er mich weggeschickt.29

Capesius machte ein Zeichen, dass Berners Frau und Kinder zurück in ihre Gruppe und er in seine gehen sollten. Dr. Berner sah seine Familie nie wieder.30

Die große Mehrheit der Menschen, die Mengele kurz nach der Ankunft in Auschwitz auf der Rampe begegneten, überlebte nicht. Die Überlebenden erinnerten sich an die kurze Begegnung mit Schmerz, denn sie bedeutete den Augenblick der Trennung von ihren Lieben. Manche erinnern sich irrtümlich an eine Begegnung mit Mengele, verwechselten ihn mit einem anderen SS-Arzt oder nahmen einfach an, es müsse Mengele gewesen sein, der die monströse Tat beging, die ihnen ihre Nächsten raubte, während sie selbst am Leben blieben. Der Historiker Zdenek Zofka bemerkt, dass viele Überlebende sich erinnern, Mengele habe auf Ungarisch zu ihnen gesprochen, was nicht stimmte, aber auf seine Kollegen, den Apotheker Viktor Capesius und den Arzt Dr. Fritz Klein zutraf. „Häufig wird Mengele von den Zeugen als groß und blond beschrieben, er war jedoch dunkelhaarig und nur 1,74 m groß.“31 „Fast alle Häftlinge“, die Auschwitz überlebten, glauben laut Zofka, sie seien von Mengele selbst selektiert worden.

Hermann Langbein, ein Auschwitz-Überlebender und Autor der umfassenden Studie Menschen in Auschwitz, schrieb über das Phänomen, das er den „Mengele-Effekt“ nannte, eine besondere Form der „Erinnerungsverschiebung“:

Wird der Name eines SS-Angehörigen in Verbindung mit besonderen Untaten immer wieder in der Öffentlichkeit erwähnt, dann kann es vorkommen, daß Überlebende ihre Erlebnisse auf ihn projizieren. ... Mehrmals hörte ich Äußerungen, Mengele hätte ihnen dies und jenes angetan, obwohl zu der Zeit, als das Geschilderte geschah, Mengele noch nicht in Auschwitz war; Olga Lengyel beschreibt ihn als blonden Engel, obwohl Mengele ein ausgesprochen dunkler Typ ist, kurz, Verbrechen eines anonym gebliebenen SS-Arztes wurden Mengele zugeschrieben, über den so viel Böses zu lesen war. …

Einzelne bekannte SSler wurden nachträglich eindeutig idealisierend beschrieben. So gibt Fania Fénelon Mengele das Prädikat „schöner Siegfried“, Thérèse Chassaing schreibt: „Mengele ist tadellos in seiner Uniform, mit einem Koppel gegürtet, groß, mit glänzenden schwarzen Stiefeln, die an Sauberkeit, Wohlstand und Menschenwürde gemahnten. Kein Muskel bewegt sich. Er ist unempfindlich.“ Elie Wiesel erwähnt als Mengeles charakteristische Attribute „weiße Handschuhe, Monokel und das übrige“.32

Langbein hatte Mengele „nahezu täglich in der Schreibstube des SS-Reviers gesehen, wo er bürokratische Routinearbeit verrichtete“, und er erschien ihm nie besonders attraktiv oder elegant. Mit einem Monokel sah er ihn nie. Doris Bergen schrieb in Zusammenhang mit der Arbeit der israelischen Historikerin Na’ama Shik vom „sogenannten Mengele-Effekt“, was bedeutete, dass Berichte von Überlebenden Jahrzehnte später von dem beeinflusst sein können, was sie „inzwischen gelesen und gehört haben“.33

Geoffrey Hartman, der ausführlich über Überlebendenberichte geschrieben hat, bemerkte: „Jeder Auschwitz-Überlebende scheint eine Selektion bei Mengele mitgemacht zu haben, so als ob dieser 24 Stunden am Tag auf seinem Posten gewesen wäre.“34 In Wirklichkeit hatte Mengele ebenso „Rampendienst“ wie alle anderen Ärzte im Lager. Es gibt keine Hinweise, dass er öfter oder länger dort arbeitete als seine Kollegen. Es scheint aber, wie Zofka sagt, „daß der Name Mengele sich von der Person gelöst hat“ und zum „Synonym“ für jeden Arzt in Auschwitz geworden ist.35 Auch der Historiker Christopher Browning nennt angesichts eines Zeugenberichts über eine Selektion durch Mengele, die nachgewiesenermaßen nie stattfand, die Begegnung mit dem Todesengel an der Rampe in Auschwitz „eine der bekanntesten archetypischen Episoden des Holocaust, die durch Bücher und Filme weit verbreitet ist“.36

Mengele nutzte seinen Dienst an der Rampe, um einen Stab außergewöhnlicher Ärzte, Anthropologen, Techniker und anderer Mediziner zu „rekrutieren“, die ihm bei seiner Forschung assistieren konnten. Er forderte nicht nur während der Selektionen Ärzte und anderes medizinisches Personal auf, sich zu melden, wie Böck und Berner beschreiben, sondern sah auch die Unterlagen der Häftlinge durch. Helen „Zippi“ Spitzer, die als Gefangene in der Lagerverwaltung arbeitete und eine Kartei führte, die Informationen über die Berufe der Häftlinge enthielt, beschrieb, wie Mengele in der Verwaltung auftauchte und nach Gefangenen mit besonderer medizinischer Spezialisierung fragte.37

Lagerärzte führten regelmäßig Selektionen im Lager und auf den Krankenstationen durch, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen und Gefangene „auszusondern“, das Lager von „unproduktiven“ Menschen zu befreien, die zu krank oder zu schwach zum Arbeiten waren oder die wegen Krankheiten die Gesundheitslage bedrohten. Wolfgang Sofsky hat geschrieben:

Lagerselektionen durchzogen die Geschichte des KZ-Systems während der Kriegsjahre. Sie waren das Instrument, um in den Konzentrationslagern ein Gleichgewicht von Arbeit und Tod, von Effektivität und Vernichtung herzustellen. Häftlinge, die schwach aussahen oder als überflüssig galten, wurden regelmäßig ausgesondert und getötet. Die Lager funktionierten wie eine Drehscheibe des Todes. Damit die Zugänge Platz fanden, liquidierte die SS entkräftete Insassen und tauschte sie gegen neue aus. Und um die Lücken, die durch den Vernichtungsdruck entstanden, zu schließen, inhaftierte man immer neue Gruppen, bis auch sie ersetzt wurden. In der bürokratischen Logik des Systems waren die Selektionen ein mörderisches Mittel zur Steuerung des organisatorischen Wachstums und zur Selbsterhaltung des Systems.38

Dr. Horst Fischer, der für seine Verbrechen in Auschwitz in der DDR vor Gericht gestellt und hingerichtet wurde, gab in seiner Aussage Einblick in die Kriterien bei diesen Selektionen:

Es gab mehrfach Besprechungen aller in Auschwitz tätigen SS-Ärzte zu dem Zweck, feste Kriterien zu den Selektionen herauszuarbeiten. Nach diesen Besprechungen ergab sich im wesentlichen folgende Merkmale zur Voraussetzung für Selektionen: Das waren Hungerödeme, das völlige Fehlen von Fettgeweben in den Gesäß-backen (um das festzustellen, ließen die SS-Ärzte die nackt angetretenen Häftlinge sich umdrehen), der Verdacht einer Tbc, eine tatsächliche Tbc war wegen der fehlenden medizinischen Geräte schwer festzustellen (offenbar schien es zu umständlich, eine Durchleuchtung in der Röntgenstation des Stammlagers durchzuführen), Unfälle mit Knochenbrüchen und schwere Eiterungen. Das waren in etwa die Fälle, in denen Selektionen angebracht erschienen.39

Viele Überlebende erzählten von dem Schrecken, den Mengeles Erscheinen hervorrief, wenn er unangekündigt zur Inspektion auf einer Krankenstation auftauchte. Hierzu schreibt Robert Jay Lifton:

Die Reaktion der Häftlinge auf Mengeles Selektionen war von einer sehr spezifischen Angst und Hilflosigkeit gekennzeichnet. Dr. Gisella Perl schrieb: „Wir fürchteten diese Besuche mehr als alles andere …, weil wir nie wußten, ob wir weiterleben durften oder nicht. … Er konnte ja mit uns machen, was er wollte.“40

In einer viel zitierten Geschichte testete Mengele bei einer Selektion die Körpergröße einer Gruppe von Kindern. Ein Strich wurde in einer bestimmten Höhe an die Wand gemalt, unter dem die Kinder sich aufstellen mussten. Wer zu klein war, um heranzureichen, wurde in den Tod geschickt.41

Obwohl es keinen Hinweis gibt, dass Mengele öfter Selektionen durchführte als seine Kollegen, scheint er denen als Beispiel gedient zu haben, die diese Aufgabe schwierig fanden. Hermann Langbein beschrieb auf der Grundlage eines Berichts von Hans Münch, eines SS-Arztes in Auschwitz, der dem Hygieneinstitut zugeteilt war, wie der neu angekommene SS-Arzt Hans Delmotte nach seinem ersten Dienst an der Rampe so mitgenommen war, dass er weitere Dienste ablehnte und die Versetzung an die Front beantragte. Delmotte wurde für „längere Zeit“ zum Begleiter Mengeles bestimmt, der ihn laut Münch von der „Notwendigkeit der Judenvernichtung“ überzeugen sollte. Er sagte, „daß ein Arzt in Ausnahmesituationen Verantwortung für Selektionen auf sich nehmen muß; auch jeder Truppenarzt müsse an der Front selektieren, denn er kann nach einem Gefecht unmöglich alle dringenden Fälle gleichzeitig behandeln. Also müsse er entscheiden, wer zuerst behandelt wird, und damit andere zurückstellen, … Mengele argumentierte ferner, an der Rampe müsse ja nur entschieden werden, wer noch arbeitsfähig sei. Daß schließlich alle Juden ausgemerzt werden, sei beschlossene Sache, also sei die Entscheidung, wer vorerst noch ins Lager komme, nicht so schwerwiegend.“42 Mit anderen Worten, die Juden waren bei der Ankunft schon tot. Berichten zufolge überwand Delmotte seinen Widerwillen und führte dann wie die anderen Ärzte Selektionen durch. Bei Kriegsende beging er Selbstmord, um nicht festgenommen und für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Christian Dirks hat beschrieben, dass der SS-Arzt Horst Fischer nach seiner ersten Selektion, an der er „lediglich passiv“ teilnahm, von Zweifeln gepackt wurde. Dieser Transport aus Galizien bestand aus „ausgesprochen ärmliche[n] und ausgehungerte[n] Menschen“. Laut Dirks „stellte sich [Fischer] im Laufe der nächsten Wochen und Monate mehrfach die Frage, warum ausgerechnet diese ausgemergelten Gestalten, ‚diese Ärmsten der Armen‘, die ja wirklich keinerlei Einfluß auf Wirtschaft oder Politik haben konnten, umgebracht werden mussten.“ Als er Mengele diese Frage stellte, erklärte dieser, er sehe das Problem falsch:

Gerade aus diesem Menschenreservoir beziehe das Judentum immer neue Kräfte und frische sein Blut auf. Ohne das ärmliche aber nur vermeintlich ungefährliche Ostjudentum seien die zivilisierten westeuropäischen Juden nicht überlebensfähig. Daher sei es notwendig, alle Juden zu vernichten.43

Laut Fischer sah Mengele „darin kein menschliches Problem, sondern nur eines der Rasse“; er war ein „fanatischer Verfechter“ seiner Ansichten in „Rassenfragen“ und „von uns allen am stärksten von der Notwendigkeit der Vernichtung der jüdischen Menschen überzeugt“.

Fischer, der Mengele als „sehr zurückhaltenden und ruhigen“ Kollegen in der Division „Wiking“ gekannt hatte, wo beide als Bataillonsärzte dienten, traf in Auschwitz auf einen „veränderten“ Mann.44

Mengele

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