Читать книгу Mengele - David Marwell - Страница 13

Frankfurt

Оглавление

An der Universität Frankfurt lehrte ein Mann, der eine außerordentlich wichtige Rolle in Mengeles geistigem und beruflichen Leben spielen sollte: Otmar Freiherr von Verschuer, ein prominenter deutscher Arzt und Rassenhygieniker. Er war im Ersten Weltkrieg Infanterieoffizier gewesen, hatte in Marburg, Hamburg, Freiburg und München Medizin studiert und 1923 mit einer Arbeit über den Eiweißgehalt des Blutserums promoviert – ein Thema, das mit dem verwandt war, welches er 1943–44 mit Mengeles Hilfe bearbeitete.81 Er erhielt eine Stelle an der Poliklinik der Universität Tübingen dank Fritz Lenz, eines der Autoren des Standardwerks zu Vererbung und Rassenhygiene, das als „Baur-Fischer-Lenz“ bekannt wurde und das Hitler angeblich in seiner Haft in Landsberg nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch las. 1927 habilitierte sich Verschuer mit einer genetischen Studie zur Zwillingsforschung, die seine Spezialität wurde. Im selben Jahr wurde Eugen Fischer, eine wissenschaftliche Koryphäe in Deutschland, Gründungsdirektor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) und ernannte Verschuer zum Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre. Hier führte er seine Zwillingsforschung weiter, die auch von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurde.82

1935 verließ Verschuer das Kaiser-Wilhelm-Institut und wurde Direktor des neu gegründeten Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene an der Universität Frankfurt. Man kann Verschuers Einfluss auf die deutsche Rassenkunde dieser Zeit kaum überschätzen. Zwischen 1923 und 1945 veröffentlichte er mindestens 109 Artikel und Bücher, darunter Erbpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Medizinstudierende, das drei Auflagen erlebte, die letzte noch 1945. Verschuer war auch Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Der Erbarzt, die ein einflussreiches Forum für die Veröffentlichung und Diskussion von Ideen zur Rassenkunde und Gesundheitspolitik wurde, und veröffentlichte eine Reihe von Mengeles Rezensionen und anderen Aufsätzen.


Das Gebäude des Universitätsinstituts für Erbbiologie und Rassenhygiene am Mainufer in Frankfurt.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Das Frankfurter Institut wurde im Frühjahr 1935 gegründet und am 19. Juni eröffnet. Es war Teil der medizinischen Fakultät und verband als erstes Institut Forschung, Lehre und genetische Praxis.83 Seine Raison d’Être war der Gedanke, dass Genetik und Rassenhygiene notwendige Elemente der ärztlichen Ausbildung wie auch ein unabhängiges medizinisches Forschungsfeld seien. In einem großen Gebäude am südlichen Mainufer nahm es 58 Räume im ersten Stock ein: Büros, Labore, Untersuchungsräume und andere Funktionen einer Universitätseinrichtung, die auch öffentliche Aufgaben übernahm. Otmar von Verschuer beschrieb diese öffentliche Funktion so:

Wie der Pathologe Sektionen, der Hygieniker bakteriologische Untersuchungen durchführt und der Kliniker neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit Chefarzt eines Krankenhauses ist, so ist der Universitätsvertreter für Erbbiologie und Rassenhygiene Leiter einer staatlichen Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege. Er ist der erbärztliche Fachberater für die Gesundheitsämter und Obergutachter für die Erbgesundheitsgerichte und -obergerichte.84

In dieser Funktion bereitete das Institut Gutachten über die rassische Zugehörigkeit von Einzelpersonen vor.


Mengele (zweiter von links) scherzend mit Kollegen im Frankfurter Institut, 1935–36.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Durch seine Forschung wollte Verschuer sein Institut eng an den NS-Staat binden:

Die Geschichte unserer Wissenschaft ist aufs engste verknüpft mit der deutschen Geschichte der jüngsten Vergangenheit. Der Führer des Deutschen Reiches ist der erste Staatsmann, der die Erkenntnisse der Erbbiologie und Rassenhygiene zu einem leitenden Prinzip in der Staatsführung gemacht hat. Damit hat sich der Wirkungskreis unserer Wissenschaft weit über die Grenzen eines naturwissenschaftlichen Sonderfaches ausgedehnt.85

Er stellte sich ein ehrgeiziges Forschungsprogramm vor, das dem Staat dienen und von diesem unterstützt werden würde, denn er war überzeugt, „praktische Ziele“ stellten wichtige Fragen, die nur „unermüdliche Forschung“ beantworten könne. Verschuer war der Auffassung, „lebendige Wissenschaft fordert immer neues Forschen“, und verwies auf „reiche Ergebnisse der Erbforschung“, die „heute schon die Grundlage für die Rassenpolitik des nationalsozialistischen Staates und für die Erbgesundheitspflege“ seien. Er sah eine Ausweitung solcher Gesetze und ein entsprechendes Bedürfnis nach wissenschaftlicher Unterstützung voraus und machte aus seiner Haltung keinen Hehl:

[Wir können] die Maßnahmen, die bisher getroffen sind zur erblichen Gesundung unseres Volkes, nur begrüßen in der festen Überzeugung, daß sie der richtige Weg sind, der zum Wiederaufbau führen wird. Unsere Forschung soll und wird sich dafür verantwortlich fühlen, daß die Erb- und Rassenpflege, in der Deutschland in der Welt führend dasteht, in ihren Grundlagen so gefestigt ist, daß sie jedem Angriff von außen gewachsen ist.86

Zu seinen Plänen gehörte auch ein Großprojekt zur Identifizierung und Registrierung aller Zwillinge im Frankfurter Raum, was klar anzeigt, dass die Zwillingsforschung einer der wichtigsten Ansätze in der Erbbiologie war. Weitere Forschungsprojekte zur Familiengeschichte versuchten die Erblichkeit bestimmter Krankheiten zu bestimmen, indem sie so viele Verwandte einer erkrankten Person untersuchten wie möglich. Mit dieser Methode wurden Krankheiten und Leiden wie Muskelschwund und Diabetes sowie bestimmte körperliche Fehlbildungen wie Arachnodaktylie (Marfan-Syndrom oder Spinnenfinger), Polyzythämie (Vermehrung der roten Blutkörperchen) und Gaumenspalten erforscht. Außerdem startete man ein ehrgeiziges Projekt zur erbbiologischen Analyse der ganzen Bevölkerung von acht Dörfern einer hessischen Gegend.

Nachdem Mengele die erste Hälfte seines Praktikums in Leipzig absolviert hatte, kam er für die zweite Hälfte nach Frankfurt. Als es am 1. September 1937 endete, hatte Mengele alle Bedingungen für das medizinische Staatsexamen erfüllt und erhielt die ärztliche Zulassung. Er arbeitete einen Monat als Volontär am Institut und war ab dem 1. Oktober dort Stipendiat der Kerckhoff-Stiftung.87 Dann begann er mit seiner zweiten Doktorarbeit bei Otmar von Verschuer, diesmal in Medizin. Als zugelassener Arzt brauchte Mengele diesen Abschluss nicht, um praktizieren zu können, aber er war notwendig für eine akademische Karriere an einem Universitätslabor oder -institut. Es überrascht nicht, dass Mengeles Thema genau ins Forschungsprogramm des Instituts passte.


Otmar von Verschuer prüft die Augenfarbe von Zwillingen.

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Er untersuchte die Geburtsdefekte von Lippen-, Gaumen- und Kieferspalte – Missbildungen, die sich als besonders interessant im Zusammenhang der Rassenhygiene herausgestellt hatten, seit neue chirurgische Techniken sie beheben und ein Merkmal verstecken konnten, das sonst eine rassisch belastete Person identifiziert hätte. Mengele benutzte bei der Bearbeitung seines Themas die Forschungsmethode der Familiengeschichte, welche die Verwandten einer Person, die ein bestimmtes Merkmal zeigte, identifizierte und untersuchte, um zu bestimmen, ob und in welchem Maße sie dasselbe Merkmal besaßen. Frühere Forschungen hatten keine eindeutigen Antworten auf die Frage gebracht, ob die Gaumenspalte ein genetischer Defekt sei,88 und die Familienforschung, die auf einer breiten, generationenübergreifenden Untersuchung beruhte, galt als vielversprechender Ansatz, von dem sich Mengele klare und zuverlässige Resultate erhoffte. Der Vorgang war recht einfach. Nachdem man „ein bestimmtes Merkmal oder eine Anomalie“ für die Analyse ausgewählt hatte, musste der Forscher so viele Menschen wie möglich mit diesem Merkmal finden, dazu möglichst viele ihrer Angehörigen. Dann wurden die Verwandten sorgfältig auf jedes Anzeichen des fraglichen Merkmals untersucht und die Ergebnisse in einen Stammbaum eingetragen und statistisch analysiert, um zu bestimmen, „ob das interessierende Merkmal tatsächlich in einem Mendelschen Übertragungsmodus vererbt wurde oder nicht“.89

Für seine Dissertation konnte Mengele 110 Kinder identifizieren, die von 1925 bis 1935 in der chirurgischen Abteilung der Frankfurter Universitätsklinik wegen Gaumenspalten behandelt worden waren. Diese Zahl grenzte er auf 17 Kinder ein, die im Frankfurter Raum lebten und sowohl Gaumen- wie Lippenspalten (Hasenscharten) hatten. Durch Gespräche mit den Eltern der Kinder konnte Mengele Stammbäume der 17 Familien aufstellen, die insgesamt 1222 lebende Personen umfassten. Mengele untersuchte 583 von ihnen persönlich, und wenn ihm das nicht möglich war, sah er alle relevanten medizinischen Unterlagen der örtlichen Gesundheitsämter ein. Innerhalb der 17 von ihm untersuchten Familien fand er acht Fälle von „Spaltbildung“, etwa die Hälfte der Gesamtzahl, was er als klares Anzeichen von Vererbung ansah.

Dann ging er einen Schritt weiter bei der Suche in allen 17 Familien nach dem, was er „Mikromanifestationen“ nannte. Eine Mikromanifestation war eine „Mikroform“ der Gaumenspalte, die auf unterschiedliche Weise auftreten konnte, als submuköse Spalte, gespaltenes Zäpfchen, Oberlippenfalte oder falsch sitzende oder fehlende Zähne. Da er wusste, dass solche Merkmale in der Allgemeinbevölkerung nicht ungewöhnlich waren, entschied er offenbar willkürlich, das Auftreten zweier solcher Mikroformen als bedeutend für seine Studie zu betrachten.90 Mit dieser Norm bestimmte er, dass 13 der 17 Familien entweder eine voll entwickelte Gaumenspalte oder mindestens zwei von deren Mikroformen zeigten, woraus er schloss, es gebe einen „einfach dominanten Erbgang“ der Gaumenspalte. Seine Untersuchung der 17 Familien führte ihn auch zu dem Schluss, dass „eine Abhängigkeit der Manifestierung von anderen Entwicklungsstörungen besteht“, denn er beobachtete eine hohe Korrelation zwischen einer Gaumenspalte (und ihrer Mikroformen) und anderen Behinderungen wie „Poly- und Syndaktylien [Vielfingrigkeit bzw. Vielzehigkeit und Verwachsen von Fingern oder Zehen], mangelnder Spaltenschluß der Wirbelsäule und der Schädelknochen (Spina bifida und Meningocystocele), … u. a.m., sowie Schwachsinn und geistige Störungen“, aber auch harmloseren Leiden wie Leistenbrüchen.91

Mengele selbst besaß mindestens zwei der Merkmale, die er als Mikromanifestationen einer Gaumenspalte identifizierte: Diastema (angeborene Zahnlücken) und Hypodontie (fehlende Zähne). Er litt auch an einem Leistenbruch, einem Leiden, das eine relevante Korrelation zu einer Gaumenspalte hatte. Michael Kater ist der Auffassung, diese Tatsache habe vielleicht eine Rolle bei Mengeles Wahl eines Dissertationsthemas gespielt und stelle seine Objektivität infrage.92 Tatsächlich kann man sich fragen, warum der junge Forscher, der so viel Zeit mit der Untersuchung von Kieferknochen für seine erste Dissertation verbracht hatte, sich für seine zweite wieder auf diesen Bereich konzentrierte. Dass er sorgfältig die Existenz bestimmter Merkmale, die er selber besaß, als direkt mit einem körperlichen Defekt verbunden darstellte, der wiederum auf weitere schwere Entwicklungsstörungen hindeutete, muss seine Bedeutung gehabt haben.


Die 9. Tagung der Deutschen Gesellschaft für physische Anthropologie in Tübingen im September 1937. Mengele steht ganz links in der zweiten Reihe. Seine Mentoren Theodor Mollison, sein Doktorvater in Anthropologie an der Universität München, und Otmar von Verschuer stehen in der Mitte derselben Reihe (10. und 14. von links).

Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Mengele reichte seine Dissertation im Sommer 1938 ein und verteidigte sie. In seinem Gutachten schrieb Verschuer: „Bei der Dissertationsschrift von Herrn Dr. Mengele handelt es sich um eine originale, selbständig durchgeführte, wissenschaftliche Arbeit, deren Durchführung nicht nur großen Fleiß und Zähigkeit in der Überwindung aller äußeren Schwierigkeiten verlangte, sondern auch eine gute Beobachtungsgabe und Sorgfalt bei der Durchführung der Untersuchungen voraussetzte.“93 Er wiederholte diese begeisterte Einschätzung von Mengeles Leistung und Talent auch öffentlich in der Zeitschrift Der Erbarzt. In einem Artikel über die ersten vier Jahre seines Instituts hob Verschuer Mengeles Dissertation als Fortschritt gegenüber den Arbeiten anderer hervor, die vielleicht eine erbliche Grundlage der Gaumenspalte gezeigt hatten, aber nicht die unterschwelligen Indikationen dieses Leidens durch eine breit angelegte Untersuchung erweiterter Familien betrachteten und keine Verbindung zu anderen Entwicklungsstörungen herstellten.94

Mengeles Dissertation wurde ein Jahr später in der angesehenen Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre abgedruckt und fand Aufmerksamkeit im international angesehenen Handbuch der Erbbiologie des Menschen, wo sie als „sehr sorgfältige Arbeit“ bezeichnet wurde, die „einen Fortschritt in der Erforschung der Erbpathologie der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten“ darstelle.95 Eine weitere angesehene Zeitschrift veröffentlichte einen langen Rezensionsaufsatz zum Thema Gaumenspalten und nannte Mengeles Arbeit „sehr ausgedehnt und gründlich“.96 Noch 1970 wurde Mengeles Arbeit in einer japanischen Veröffentlichung über Gaumenspalten genannt und 1972 in einer britischen Zeitschrift für Zahnmedizin.97 Der Historiker Karl Heinz Roth hat die Auffassung vertreten, Mengeles Dissertation habe Verschuer „als letzter Baustein für die endgültige Errichtung des neuen humangenetischen Paradigmas gedient, … Zusammen mit den ersten Nachweisen des sog. Crossing over-Mechanismus auch beim Menschen, an denen Verschuers Institut ebenfalls führend beteiligt war, entstand eine neue humanbiologische Grundwissenschaft, die sich nun tatsächlich anschickte, die bisherigen Selektionstheorien zu verwissenschaftlichen.“98

In der Schlussbemerkung seiner zweiten Dissertation ging Mengele nicht auf die rassenhygienischen Implikationen ein, wie es ein anderer von ihm zitierter Wissenschaftler 1931 in seiner Arbeit zum selben Thema getan hatte. Das war auch unnötig wegen der Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ am 14. Juli 1933, auch als Sterilisierungsgesetz bekannt, das im Januar 1934 in Kraft trat. Dieses Gesetz erlaubte die Zwangssterilisierung aller Bürger, die nach Meinung eines „Erbgesundheitsgerichts“ an bestimmten Erbkrankheiten litten: „§ 1 (1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfurchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“ Über Gaumenspalten sagte der „quasi-offizielle“ Gesetzeskommentar: „So kann z. B. der Träger einer Hasenscharte unfruchtbar gemacht werden, wenn seine Nachkommen oder andere Blutsverwandte schwerere Formen der Spaltbildung im Bereiche des Gesichts … oder andere schwere erbliche Missbildungen aufweisen.“99

Mengeles Arbeit mit ihrem „Beweis“ eines hohen Grades der Erblichkeit von Gaumenspalten und deren Verbindung mit anderen Entwicklungsstörungen half dabei, das Gesetz zu untermauern, dessen Anwendung vom Inkrafttreten 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 zur Zwangssterilisierung von 375 000 Menschen führte. Das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ (Ehegesundheitsgesetz) vom Oktober 1935 verbot die Heirat gesunder Personen mit solchen, die an einer Erbkrankheit litten, etwa einer Gaumenspalte. Eine Änderung dieses Gesetzes verbot 1936 auch die Ehe zwischen gesunden Personen und solchen, die infolge anderer Gesetze sterilisiert worden waren.100

Mengele

Подняться наверх