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Fronteinsatz

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Wir wissen weniger über Mengeles Zeit als Angehöriger der 5. SS-Panzerdivision „Wiking“, einer Einheit der Waffen-SS, als über die meisten anderen Abschnitte seines Lebens. In fast allen Büchern über Mengele sind die grundlegendsten Fakten über Ort und Dauer seiner Stationierung unkorrekt. Doch da sie fast unmittelbar vor seiner Versetzung nach Auschwitz kam, war sie ein wichtiger Übergang vom jungen Wissenschaftler zum SS-Offizier auf der Rampe in Auschwitz.35 Auch wenn wir Mengeles Versetzung zum Truppenarzt beim Pionierbataillon der Division „Wiking“ nicht völlig zweifelsfrei datieren können, fand sie höchstwahrscheinlich Ende 1940 statt, und es ist nahezu sicher, dass er bis Anfang 1943 ohne Unterbrechung bei dieser Einheit blieb und dann nach Berlin versetzt wurde.36


Mengele beim 5. Pionierbattalion der Waffen-SS-Division „Wiking“ in der Ukraine, Oktober 1942.

Sammlung Hermann Abmayr

Der Kern der Division Wiking bestand aus drei motorisierten Regimentern: „Nordland“ aus schwedischen, dänischen und norwegischen Freiwilligen, „Westland“ aus holländischen und flämischen Freiwilligen und „Germania“ weitgehend aus Volksdeutschen. Zu diesem Kern kamen ein Artillerieregiment und weitere Teile einer integrierten Kampftruppe. Die im Dezember 1940 „SS-Division Wiking“ getaufte Einheit stand unter dem Kommando von SS-Brigadeführer Felix Steiner, einem Veteranen des Ersten Weltkriegs, der für seine Führung der SS-Standarte „Deutschland“ bei der Invasion Polens 1939 und Frankreichs 1940 das Ritterkreuz erhalten hatte. Steiner war ein frühes SS-Mitglied und wurde von Himmler für die Führung der neu aufgestellten Division „Wiking“ ausgesucht, die den NS-Glaubenssatz verkörperte, dass Blut und Nation dasselbe seien und dass Deutschland in einem Rassenkrieg stehe.

Die offensiv wie defensiv geschulten Pioniere legten Minen und räumten sie, bauten Befestigungen und zerstörten sie, bauten Straßen und überwanden künstliche Hindernisse wie Panzergräben ebenso wie Flüsse und andere natürliche Hindernisse. Neben diesen Spezialaufgaben war das 5. Panzer-Pionier-Bataillon eine Kampfgruppe und sollte an der Front operieren; in vieler Hinsicht waren dies die Pfadfinder, die den Weg wiesen. Zwar sind Pioniere für jede Armee und in jeder Strategie wichtig, doch für den Blitzkrieg, in dem es um Geschwindigkeit und Flexibilität ging, spielten sie eine immens wichtige Rolle.

Mengele begann bei der Einheit als Hilfsarzt unter dem Vorgesetzten Dr. Waldemar Ültzhöffer und wurde Mitte Oktober 1941 Sanitätsoffizier, als Ültzhöffer wegen der Schimmelbildung in den feuchten Unterkünften an Asthma litt.37 Obwohl Mengele akute Gefechtsverwundungen behandeln sollte, die von den Sanitätseinheiten der Division oder den Feldlazaretten nicht behandelt wurden, lag seine Hauptaufgabe in der allgemeinen medizinischen Betreuung der Soldaten, was ein breites Spektrum von Krankheiten einschloss. Für einen Arzt mit begrenzter klinischer Erfahrung war die Verantwortung besonders groß. In einem Brief an Irene schrieb Mengele: „Ich [wäre] Dir sehr dankbar, wenn Du mir das ‚Diagnostische und Therapeutische Vademecum‘ antiquarisch besorgen könntest. Man soll hier alle Fachrichtungen beherrschen und das ist für einen Rassehygieniker etwas zu viel. Wenn man so ein kleines Nachschlagewerk hat, kann man sich doch wenigstens über besondere Erkrankungen schnell informieren.“38

Im April 1941 trat für die Soldaten der Division „Wiking“, deren Einheiten im Gebiet um Dresden zusammengezogen waren, eine Änderung in Intensität und Aktivität ein. Am 4. April wurden alle aus dem Heimaturlaub zurückgeholt. Am 8. April wurde Mengeles Bataillon in drei Transportzügen nach Westen in die Umgebung von Ulm transportiert, wo es an der Donau den Brückenbau übte. Mengele und der Stab wurden im Rathaus von Sigmaringen untergebracht, nur eine Stunde von Günzburg und seiner Familie entfernt. Anfang Juni 1941 bekam das Bataillon den Marschbefehl, und bald wurden Soldaten und Ausrüstung in Züge verladen und fuhren nach Osten an Prag vorbei nach Freudenthal (heute Bruntal) im Protektorat Böhmen und Mähren, nur 140 Kilometer westlich von Auschwitz. Von Freudenthal aus fuhr das Bataillon nach Nordwesten an Breslau vorbei und erreichte am Abend des 7. Juni Steinau an der Oder (heute Ścinawa). Hier bezog es Quartier in einer Kaserne des Reichsarbeitsdiensts. Am 18. Juni bewegte es sich weiter nach Osten, überquerte bei Groß-Wartenburg die Grenze zum Generalgouvernement und durchquerte Westpolen in drei Tagen. Ab Parzsów fuhr es nur noch bei Nacht und ohne Beleuchtung, bis es das Aufmarschgebiet erreichte, und war schnell in den kleinen Dörfern und Wäldern südöstlich von Lublin direkt an der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie „verschwunden“, bis der Befehl zum Vorrücken kam.39

Am späten Abend des 21. Juni 1941 rief der Bataillonskommandeur, SS-Sturmbannführer Klein, seine Männer zusammen, von denen einige schon schliefen, und verlas den Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht über die kurz bevorstehende Invasion der Sowjetunion. Unternehmen Barbarossa sollte am nächsten Morgen auf einer Linie vom Baltikum im Norden bis nach Bessarabien im Süden beginnen. Mengele und die Division „Wiking“ gehörten zur Heeresgruppe Süd und sollten mit rumänischen Truppen an ihrer rechten Flanke in die Ukraine vorstoßen. Nur einige Teile der Divisionsartillerie und das Regiment „Germania“ nahmen am ersten Angriff am 22. Juni teil, der Hauptteil der Division rückte erst am 30. Juni in die Ukraine vor. Kurz darauf führte sie die ersten Gefechte mit der Roten Armee und beging ihre ersten Gräueltaten, die typisch für die Brutalität dieses Krieges waren, dessen Ausmaß und Intensität alles frühere übertraf.

Die Soldaten der Waffen-SS zeichneten sich nicht nur durch ihre militärische Haltung und Disziplin, sondern auch durch ihre ideologische Hingabe aus. Der Historiker Kai Struve schreibt dazu:

In die Division „Wiking“ kamen größtenteils Rekruten, die in den Schulen, der Hitlerjugend und anderen Organisationen des NS-Staates sozialisiert worden waren und die die radikalnationalistische, rassistische Weltsicht des nationalsozialistischen Regimes in besonderem Maße verinnerlicht hatten. Sie meldeten sich zur Waffen-SS, weil sie der Elite dieses Staates angehören wollten. … Die hohe ideologische Motivation, die der Meldung zur Waffen-SS zugrunde lag, wurde durch die „weltanschauliche Erziehung“ in dieser Truppe weiter verstärkt. … Die Notwendigkeit eines brutalen, rücksichtslosen Kampfes gegen den Bolschewismus gehörten dabei ebenso wie antisemitische Themen zu den zentralen Inhalten dieser Schulungen.40

Struve zitiert eine Rede Himmlers bei einer Gruppenführer-Tagung vom November 1938:

Kriege der Zukunft sind nicht ein Geplänkel, sondern eine Auseinandersetzung der Völker auf Leben und Tod. … Wir würden … ohne jedes Erbarmen sein, wenn es darum geht, ein Volk vor seinem Tode zu bewahren. Da ist es dann gleichgültig, wenn in einer Stadt 1000 auf die Decke gelegt werden müssen. Ich würde es tun und ich würde es von Ihnen erwarten, dass Sie das ausführen.41

Diese Ausbildung und Indoktrination wie auch die Erwartungen an ihre Anführer machten aus der Waffen-SS eine Vorhut, die den Krieg ebenso als rassischen wie als militärischen Kampf ansah.

Am Morgen des 2. Juli wurde Standartenführer Wäckerle, der beliebte Kommandeur des Regiments „Westland“, von einem Heckenschützen nahe dem Dorf Slowita erschossen. In den folgenden Tagen führten Soldaten der Division „Wiking“ Aktionen von extremer Grausamkeit aus, bei denen schätzungsweise mehrere Tausend Juden ermordet wurden. Struve führt Dokumente mehrerer deutscher Heereseinheiten in der Gegend an und zitiert etwa das Tagebuch eines Leutnant Kaesburg vom Pionierbataillon 295: „Überall Geschieße. Es zischt nur so. Die SS legt alles um, was in ihre Hände fällt. Es ist grausam.“42 Der Chef des Stabes des IV. Armeekorps beschwerte sich: „Einzelne Angehörige der Division [Wiking] gehen inzwischen auf Juden jagen.“ Das Kriegstagebuch einer Einheit in diesem Gebiet hielt fest, „daß die SS wahllos russische Soldaten und auch Zivilisten, die ihnen verdächtig erscheinen, in Massen erschießen“. In einer eidlichen Aussage nach dem Krieg behauptete Hans Günther Otto, der einer Versorgungseinheit der Division angehörte, man habe seine Einheit informiert, Wäckerle sei von einem Juden getötet worden und ihre Teilnahme an den Racheaktionen stelle den „Beginn der Teilnahme der Einheit an dem Ausrottungsprogramm der Juden“ dar.43 Otto beschrieb einen Befehl, der nach Wäckerles Tod vor seiner Einheit verlesen wurde: „In dem Befehl hieß es weiter, dass dem zu Folge wir nicht mehr zur Verantwortung gezogen wuerden, fuer die Toetung von irgendwelchen Juden, deren wir habhaft werden koennten und dass wir in der Tat jeden Juden [,] den wir sehen [,] erschiessen koennten.“44

Das erste große Massaker der Division „Wiking“ fand in Zoločiv statt, das die Division nach Slowita als Nächstes erreichte. In einem dortigen Gefängnis hatten die Sowjets vor dem Rückzug ein Massaker begangen. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurden zwei Massengräber mit fast 650 Leichen in der Stadt gefunden, und zwei Tage später wurden mindestens 1000 Juden bei einem von den Deutschen angefachten Pogrom getötet, an dem auch Angehörige der Division Wiking teilnahmen. Ein während des Progroms gedrehter Film zeigt, dass die Opfer vor ihrem Tod geschlagen wurden. Schlomo Wolkowicz, der aus Lwów (Lemberg) zu Verwandten nach Zoločiv geflohen war, wo er die Schule besuchte, beschrieb später die Szene:

Es war ein heißer Tag, und unter dem scharfen Geruch der Leichen wurden viele ohnmächtig, aber unsern Wächtern machte das nichts aus. Die SS-Leute standen um die Grube herum, und von Zeit zu Zeit befahlen sie jemandem – sie hatten es besonders auf Männer mit Bärten und Schläfenlocken abgesehen – herauszukommen und sich vor ihnen auf die Knie zu werfen. Mit sadistischem Vergnügen schlugen sie dann auf ihr Opfer ein, bis es bewußtlos am Boden lag und sie es mit Fußtritten wieder in die Grube stießen. Manchmal versuchten Familienangehörige, den Armen zu helfen, aber dann traf sie das Schicksal oft noch schlimmer. Einige wurden aus der Grube herausgeholt und mit unvorstellbarer Brutalität zu Tode geprügelt. Die Mörder ließen die Verwundeten langsam, unter Schmerzen und Qualen, ihren Verletzungen erliegen. Das ging den ganzen Tag so. Ich war zutiefst erschüttert von Grausamkeiten, die ich später nie wieder gesehen habe.45

Von Zoločiv aus zog die Division weiter nach Zboriv, wo sie in einer weiteren „Eskalation“ der Gewalt, wie Struve sagt, 600 Juden „liquidierte“. Im Gegensatz zum Pogrom in Zoločiv, wo die SS zusammen mit einheimischen Ukrainern nur einen kleinen Teil der jüdischen Einwohner ermordete, wurde in Zboriv die Mehrzahl der jüdischen Männer ermordet. Soldaten der Division „Wiking“ übernahmen das Töten selbst, Hilfe von ukrainischen Milizen erhielten sie nur beim Zusammentreiben der Juden und dabei, sie zum Mordplatz zu führen, einem Bombenkrater, der dann ihr Grab wurde. Am 4. Juli 1941 war den ganzen Tag Maschinengewehrfeuer zu hören.46

Nachdem sie in Jezierna (Oserna) bis zu 200 weitere Juden ermordet hatte, zog die Einheit weiter nach Tarnopol, der drittgrößten Stadt Ostgaliziens mit 40 000 Einwohnern, davon 40 Prozent Juden. In seinen nach dem Krieg geschriebenen Memoiren erinnerte sich August von Kageneck, der bei der 9. Panzerdivision diente, wie er vom Massaker in Tarnopol erfuhr. Ein Soldat seiner Einheit hatte ihm gesagt, er solle sich mit einem Kameraden namens Reiff treffen, der gerade aus Tarnopol zurück war und unglaubliche Geschichten erzählte:

Reiff sagte: „Sie [die Divison Wiking] sind zwei Tage geblieben und haben die Gelegenheit ergriffen, alle Juden in der Stadt umzubringen.“

Alle Juden?

Ja, alle Juden.

Woher wussten Sie, dass sie Juden waren?

Das sieht man doch, nicht? Die Nasen, die Bärte, die komische

Kleidung …

Wie viele Tote waren da?

Ich weiß nicht, aber überall waren Leichen, Leichenhaufen, an den

Mauern von einem Platz, entlang einer Brücke … Da waren Zivilisten, Polen oder Ukrainer, die bei der Jagd mitgemacht haben. Es hat einen ganzen Tag gedauert, und am nächsten Tag haben sie wieder angefangen. Ein Offizier hat ihnen gesagt, sie sollen Munition sparen und Spaten und Pickel benutzen.47

Bis zu 4000 Juden wurden in Tarnopol ermordet, und Zeugen berichteten von vielen Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten. Struve hat kalkuliert, dass Angehörige der Division „Wiking“ in der Woche nach ihrem ersten Eingreifen an der Ostfront an der Ermordung von 4280–6950 Juden beteiligt waren.

Obwohl es keine Hinweise gibt, dass Mengele selbst an diesen Verbrechen beteiligt war, wusste er sicherlich davon, und sie waren ein Teil des Kontextes von extremer Gewalt, der seinen Dienst als Truppenarzt in der Waffen-SS charakterisierte. Seit ihrem Einmarsch in die Sowjetunion Ende Juni war die Division bis Ende des Jahres fast ständig in Kämpfe verwickelt. Im Gegensatz zu den Heeresgruppen Nord und Mitte, die weiter nördlich operierten, stieß die Heeresgruppe Süd von Anfang an auf Widerstand, und während sie sich im Juli und August durch die Westukraine vorkämpfte, kam sie nur langsam voran. Die Division „Wiking“ stieß von Tarnopol aus nordöstlich nach Schitomir vor und dann weiter südöstlich zum Dnjepr. Sie setzte ihren Weg nach Süden bis nach Dnepropetrowsk fort, das sie am 25. August besetzte. Am 14. Juli erhielt Mengele das Eiserne Kreuz II. Klasse, ebenso wie 14 andere Divisionsangehörige; sie waren die erste Gruppe, die seit dem Beginn der Invasion für Tapferkeit ausgezeichnet wurde.48 Wir wissen nicht, warum er ausgezeichnet wurde, aber er war offensichtlich erfreut und berichtete Irene davon, denn sie schrieb am 15. August an einen Freund:

Nun hat er endlich seinen ersehnten Einsatz! Er liegt in der Ukraine, ich muß annehmen, ziemlich an der Hitze. Schon in den ersten Tagen erhielt er das EK II. Die Strapazen müssen unheimlich sein, trotzdem kann ihre Begeisterung nun endlich im Kampf und gerade noch gegen diesen „Erbfeind“ zu stehen kein Ende finden!49

Kurz nach der Verleihung des Eisernen Kreuzes begaben Mengele und sein Kollege, der Bataillonszahnarzt Wilhelm Müller, sich in Gefahr, um verwundete Kameraden zu versorgen, wie Müller in seinem Tagebuch schreibt:

In Ostroff beginnt plötzlich ganz nahe ein feindl. Granatwerfer zu schießen … Es hat einen Volltreffer in der Schule gegeben, in der die 2. Kp. [Kompanie] wohnte. Dr. Mengele und ich fahren sofort zur Hilfeleistung hin. Inzwischen wird auch aus den Querstraßen geschossen. In der Schule liegen 3 Verwundete und 1 Toter.50

Die Schlacht in Ostroff kostete das Bataillon 17 Tote und 60 Verwundete.

Eberhard Heder, der letzte Kommandeur des 5. Pionierbataillons, beschrieb die ersten beiden Monate der Division an der Ostfront:

Im Marsch und im Angriff, oft von zum Teil schweren Abwehrgefechten, wie bei Taraschtscha, unterbrochen, gab es für die Div „Wiking“ und ihre Pioniere den ersten längeren Halt vor der großen Industriestadt Dnepropetrowsk.

Bis dahin waren 700 km auf meist kümmerlichen Straßen, armseligen aufgeweichten Sandwegen, in endlosen Staubwolken oder durch tiefen Schlamm, nach vielen – manchmal harten – Angriffs- und Abwehrgefechten, die Opfer und Zeit kosteten, überwunden.

Das bedeutete Strapazen in Hitze, Staub und Schlamm, Verzicht auf Schlaf, und manchmal auch entnervendes Warten.51

Einen weiteren Monat lang waren sie in Dnepropetrowsk (heute Dnipro) zeitweise in schwere Abwehrkämpfe verwickelt, dann stießen sie Ende September südlich ans Asowsche Meer vor. Mitte November waren einige Einheiten der Division an der Besetzung von Rostow am Don beteiligt, einem wichtigen Hafen und Bahnknotenpunkt, der zehn Tage später von der Roten Armee zurückerobert wurde. Die Division zog sich nach Uspenkaja am Fluss Mius zurück, wo sie bis zum folgenden Frühjahr blieb.

In den ersten fünf Monaten verlor die Division über 20 Prozent ihrer Mannschaftsstärke.52 Einer der Gefallenen war der Bataillonskommandeur, Hauptsturmführer Kurt Albert, als sein Fahrzeug direkt von einer Granate getroffen wurde. Er selbst und ein Kompaniekommandeur, Obersturmführer Maas, waren sofort tot.53 Auch das Wetter war ein Hindernis. Als schwerer Regen die Wege schlammig machte, mussten die Deutschen Pferdegespanne einsetzen, um voranzukommen, und auch diese blieben manchmal stecken. Die Pioniere spielten bei den Operationen der Division eine entscheidende Rolle, indem sie Hindernisse räumten und Brücken bauten.

Die Division überwinterte in Uspenskaja, wo sie Häuser von Einheimischen requirierte. Am 4. Januar 1942 schrieb Mengele an seine Frau:

Wir haben unser neues russisches Quartier ganz gemütlich eingerichtet. Das hiesige Krankenrevier ist ordentlich ausgestattet, und seit gestern habe ich eine Station mit fünf Betten. … Es ist hart für die Infanterie in diesem kalten Wetter (-36 Grad). Es scheint ihnen aber besser zu gehen als den Russen, wenigstens sagen uns das die russischen Kriegsgefangenen.54

Am 17. Januar schrieb er erneut, nachdem er erfahren hatte, dass ein Unteroffizier des Bataillons zu einem Ausbildungskurs nach Deutschland zurückfuhr und einen Brief für ihn mitnehmen konnte. Dies war ein Wunschzettel mit Dingen, die er haben wollte: Zucker („regelmäßig“), Marmelade, einen Kamm („sehr notwendig“), eine Nagelschere und Schuhcreme („nicht wegen des Hochglanzes, sondern wegen der Nähte. Die platzen ohne Pflege!“). Er dankte Irene auch für ein kleines russisch-deutsches Wörterbuch, das er nützlicher fand als ein von der Wehrmacht herausgegebenes, das sich auf militärische Begriffe konzentrierte und im Alltag nicht viel weiterhalf.55

Einen Monat später schrieb Mengele an Irene aus demselben Winterquartier und erzählte keine Neuigkeiten, ließ aber zwischen den Zeilen sein Heimweh erkennen. Einmal fragte er sich, wann sie wieder zusammen sein würden: „1943? 1944? 1945? Wer weiß wann?“, und träumt davon, was er gerne tun würde: „Nun, wenn [wir] jetzt zusammen in O.[berstdorf] sein könnten, würden wir auch ohne Ski glücklich sein. Ja? Ja, was täten wir dann? Nun lange ‚Schlafen‘, Spazierengehen, gut Mittag essen, wieder ‚Schlafen‘, Kaffee trinken …, Spazierengehen, gut Abend essen, ins Bauerntheater oder Kino gehen und wieder ‚Schlafen‘. Ja? Bist du damit einverstanden? Nun, wir stellen uns halt vor, es wäre so.“ Er dankte ihr dafür, einen warmen Pelzmantel geschickt zu haben, der ihn vor der Kälte schützte. Am Abend zuvor hatte er Adalbert Stifters Waldsteig „beim Licht einer Autobatterie“ ganz durchgelesen: „Welch eine andere Welt. So zart, lieblich, anmutig, schön, gut und rein, aber auch weich und unmännlich“, und er sinnierte: „Nun, nach dem Krieg kann man sich vielleicht – auch mit Recht – dieser Welt des Nur-Schönen mehr hingeben. Aber unsere Zeit wird doch nur wenig Raum lassen für solche Dinge.“56

Da es den angestrebten schnellen Sieg nicht erreicht hatte, sah Deutschland, das seit dem 11. Dezember auch mit den USA im Krieg stand, sich neuen und großen Herausforderungen gegenüber. Die Kriegsplaner der Wehrmacht unter Führung Hitlers erarbeiteten eine Strategie für 1942, die Mengeles Division zur Speerspitze bei der Eroberung des öl- und mineralreichen Kaukasus machte. Die auf motorisierten Einheiten und Luftunterstützung beruhende Art der Kriegführung und dazu die gewaltigen Gebiete, die erobert werden sollten, machten Deutschlands Durst nach Öl fast unstillbar. Da seine Reserven schwanden und der Nachschub aus Rumänien von den Alliierten bedroht war, brauchte Deutschland so dringend Treibstoff, dass Hitler im Juni 1942 gesagt haben soll: „Wenn ich das Öl von Maikop und Grozny nicht bekomme, dann muß ich diesen Krieg liquidieren.“57

Das Oberkommando der Wehrmacht entwickelte eine Sommeroffensive mit dem Namen „Fall Blau“, die den Schwerpunkt der Angriffsbewegung auf den Süden legte, mit dem doppelten Ziel der Eroberung der Ölfelder von Baku und der Stadt Stalingrad, die strategisch und symbolisch wichtig war. Die Sowjets hatten geglaubt, die Deutschen würden sich auf Moskau konzentrieren und ihren Angriff auf die Hauptstadt verstärken, der im letzten Winter stecken geblieben war. Durch die falsche Aufstellung ihrer Verteidigung erlitten sie frühe und drastische Rückschläge, als die deutsche Offensive am 28. Juni begann. Binnen einer Woche hatte die Wehrmacht im Norden den Don erreicht und startete den Angriff auf Woronesch. Im Süden eroberten sie am 23. Juli Rostow zurück. Durch eine Änderung des ursprünglichen Plans wurde die Heeresgruppe Süd in Heeresgruppe A und B geteilt, wobei A die Ölfelder im Süden und B Stalingrad erobern sollte. Mengeles Division gehörte als Teil der 1. Panzerarmee zur Heeresgruppe A und stieß früh und weit vor. Am 31. Juli wurde Salsk erobert, am 9. August die Ölfelder von Maikop, die von der Roten Armee beim Rückzug schwer beschädigt worden waren. In weniger als zwei Wochen war Mengeles Einheit rund 500 Kilometer weit vorgestoßen.58

Mengele schrieb am 2. September an seine Frau, als er mit seiner Einheit in Neftjanaja in der Region Krasnodar stand, rund 100 Kilometer nördlich von Sotschi. Der Ton des Briefs ist sehr viel gedrückter als früher:

Das Waldgelände fordert tgl. Opfer, denn es ist das Paradies für Partisanen. Vorgestern hatten wir wieder drei Schwerverwundete, heute 1. Man ist gegen diese Kriegsführung machtlos, d. h. man tut zwar alles, aber solche Überfälle lassen sich kaum vermeiden.

Mir geht es gut. Ich habe diesmal viel Arbeit. Z. Zt. gibt es viele hochfieberhafte Infekte, und viele Furunkel und solches Zeug. … Gestern habe ich lange Zwiesprache mit den Fotos gehalten, wobei ich sehr intensiv Deiner gedachte.59

Einen Monat später empfahl Mengeles Bataillonskommandeur, Sturmbannführer Max Schäfer, ihn zur Beförderung zum Hauptsturmführer und gab eine kurze Bewertung seiner Arbeit:

Reifer, gerader und unbedingt zuverlässiger Mensch, der das volle Vertrauen seiner Vorgesetzten und Untergeordneten besitzt. Im Kameradenkreis beliebt. Als Truppenarzt hat er stets, auch in den schwierigsten Lagen, mit großer Umsicht und restloser Einsatzbereitschaft, erfolgreich gearbeitet, so daß die ärztliche Versorgung des Btl. stets voll gewährleistet war.60

Der oberste Arzt der Division schloss sich dieser Empfehlung begeistert an: „Besonders tüchtiger Truppenarzt. Beförderung wärmstens befürwortet!“ Mengele wurde im folgenden April befördert.

Anfang Oktober erreichte Mengeles Einheit die Bergstadt Malgobek und Mitte November Alagir, ihren am weitesten vorgeschobenen Punkt. In zwei Monaten waren sie noch einmal knapp 500 Kilometer vorgestoßen, mit häufigen Bodenkämpfen und Luftangriffen. Neben dem schlechten Wetter herrschte auch Treibstoffknappheit. Ende November wäre Mengele fast bei einem Luftangriff getötet worden. Walter Hägele beschrieb das Ereignis im Telegrammstil des Bataillonstagebuchs: „Wieder rege Fliegertätigkeit … Dr. Mengele verschüttet. Bombe neben Deckungsloch eingeschlagen u. hatte ihn zugeschüttet.“61 Die Ölfelder von Grozny waren durch die Sommeroffensive nicht erreicht worden. Als Hitler erkannte, dass dieses Ziel nicht vor dem Winter zu erreichen war, befahl er der Luftwaffe, die Ölinstallationen so stark wie möglich zu beschädigen, damit die Sowjets kein Öl fördern konnten.

Unterdessen war die 6. Armee auf Stalingrad vorgerückt und erreichte Ende August die Außenbezirke. Mitte November hatten die Deutschen fast die ganze Stadt erobert, und der Erfolg schien sicher. Die Rote Armee griff aber am 19. November mit einem Zangenangriff die Flanken der 6. Armee an, die vor allem von unterbesetzten und erschöpften rumänischen Achsentruppen geschützt wurden. Die Sowjets überwanden die Rumänen und konnten die Armee einkesseln. Ein Ausbruch wurde von Hitler untersagt. So begann eine Belagerung, die mit der Kapitulation der 6. Armee endete und einen Wendepunkt des Krieges markierte.

Zu Weihnachten erhielt die Division „Wiking“ den Befehl, aus Alagir in Richtung Stalingrad abzuziehen. Nachdem sie durch die Zerstörung der Brücken ihren Rückzug gesichert hatte, verließ sie zu Neujahr das Gebiet in Zügen und kam am 2. Januar in Salsk an, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt, der auch ein Flugfeld besaß.62 Bei der Ankunft der Division hatte die Lage sich verschlechtert, und statt nach Stalingrad vorzurücken, sollte sie den Rückzug der Heeresgruppe A aus dem Kaukasus decken. Etwa zu dieser Zeit erhielt Mengele das Eiserne Kreuz Erster Klasse (EK I), das für Tapferkeit im Kampf und nur an Träger des EK II verliehen wurde.63 Irgendwann zwischen dem 2. und 20. Januar, als die Deutschen das Flugfeld vor dem Rückzug zerstörten, wurde Mengele ausgeflogen. Man behauptet oft, er sei wegen einer Verwundung evakuiert worden, doch dafür gibt es keinen Beleg.

Wie ist Mengeles Dienst bei der Division „Wiking“ einzuschätzen? Andere Biografien Mengeles, mit Ausnahme der von Sven Keller, zeichnen ein verwirrendes und häufig widersprüchliches Bild seines Militärdiensts und beschreiben weder die ununterbrochene Dienstzeit mit ihren blutigen und andauernden Gefechten noch die Nähe zu und die mögliche Teilnahme an extremer Brutalität. Zweifellos kann es eine tiefe Wirkung auf Menschen haben, so andauernd der Gewalt ausgesetzt zu sein. Laut Robert Jay Lifton gab es in Auschwitz Gerüchte, Mengele leide unter einem „Granatenschock“.64 Wenn Mengele tatsächlich an einer Art posttraumatischer Belastungsstörung litt, lag das vielleicht an seinen Erlebnissen mit der Division „Wiking“.

Mengele

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