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Gutachten

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Seit Einführung des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im April 1933 wurde von deutschen Bürgern ein Nachweis ihrer arischen Herkunft verlangt. Nicht jeder konnte die notwendigen Dokumente vorlegen, wenn besondere familiäre Umstände vorlagen (etwa Adoptionen oder uneheliche Geburten), und auch im Fall von „Mischlingen“ fehlte eine klare rassische Einordnung. Solche Fragen sollte die 1935 im Reichsinnenministerium eingerichtete Reichsstelle für Sippenforschung (ab 1940 Reichssippenamt) klären. Der Historiker Eric Ehrenreich bemerkt: „In den zwölf Jahren des Dritten Reiches schufen staatliche Behörden und Parteistellen zusammen 2000 Erlasse und Durchführungsbestimmungen über die Rechte von Bürgern auf der Grundlage ihrer ‚rassischen‘ Einordnung.“5 Es stand viel auf dem Spiel in Bezug auf ihre Rechte, ihren Status und Beruf sowie nach den Nürnberger Gesetzen 1935 und der Gewalt der Reichspogromnacht 1938 zunehmend auch auf ihre Freiheit und Sicherheit. Verschuers Institut war eines der ersten, die von der Reichsstelle ermächtigt wurden, Abstammungsgutachten zu liefern, und laut einem Artikel Verschuers von 1941 erarbeitete es mindestens 448 davon.6

In seiner Frankfurter Zeit stellte Mengele seine wissenschaftlichen Fähigkeiten dem Staat zur Verfügung, indem er Gutachten für die Reichsstelle für Sippenforschung und die Erbgesundheitsgerichte erstellte, die dazu dienten, die Rassen- und Eugenikgesetze zur Festigung der NS-Weltanschauung sowie zum Schutz und zur „Verbesserung“ der deutschen „Rasse“ durchzusetzen.7 Mengele und Verschuer führten Untersuchungen durch und gaben professionelle Meinungen über Vaterschaft und den „rassischen Status“ einer Person ab. Die Historikerin Sheila Faith Weiss hat 120 Gutachten aus der Amtszeit Verschuers untersucht, deren Autor nachweisbar ist; sie fand heraus, dass Mengele viel mehr davon erstellte als die anderen drei Assistenten am Institut – und dass seine Einschätzungen häufig positiv für die untersuchten Personen ausfielen. In über zwei Dritteln der Fälle stufte er sie nicht als „Volljuden“ ein. Dieses Resultat besagt nicht, dass Mengele „nachsichtig“ gegenüber Juden gewesen wäre, sondern dass er sich als „objektiven Wissenschaftler“ sah, dessen Ergebnisse auf einer möglichst „gründlichen“ Analyse beruhten.8

Einer der Fälle, die Weiss detailliert beschreibt, ist der von Heinz Alexander, der wegen „Rassenschande“ angeklagt war, der verbotenen sexuellen Beziehung zwischen einer „arischen“ und einer jüdischen Person.9 Alexander war den Abstammungsdokumenten nach „Volljude“, obwohl beide Eltern zum Christentum konvertiert waren und ihn christlich erzogen hatten. Er hatte eine mehrere Jahre dauernde Affäre mit einer „arischen“ Frau zugegeben, sich aber gegen den Vorwurf der Rassenschande damit verteidigt, er sei ein uneheliches Kind und sein Vater „deutschblütig“ gewesen. Dies wurde anscheinend durch zahlreiche Dokumente wie auch durch seine blonden Haare und blauen Augen bestätigt. Der Staatsanwalt forderte die Untersuchung Alexanders durch das Frankfurter Institut, und Mengele, der den Fall in Abwesenheit Verschuers bearbeitete, schloss sein Gutachten im Juli 1937 ab, bevor er seine Assistentenstelle antrat – das sieht Weiss als Indiz dafür, dass Mengele Verschuers „großes Vertrauen“ als Gutachter genoss.

Durch eine Ähnlichkeitsanalyse, wie sie auch bei der Unterscheidung ein- und zweieiiger Zwillinge benutzt wurde, verglich Mengele Alexander mit seiner Mutter und seinem „rechtmäßigen“ jüdischen Vater, außerdem mit Fotos seines angeblichen nichtjüdischen biologischen Vaters und kam zu dem Schluss, Alexander sei „als Volljude anzusehen“. Das Gericht maß seiner Meinung aber nicht viel Gewicht bei und sprach Alexander im September 1937 von der Anklage frei. Es wies Mengeles Auffassung als „mit den Gesetzen der Logik in krassem Widerspruch stehend“ zurück, da sie im Gegensatz zu seiner mehrdeutigen Äußerung stehe, die er bei der Aussage vor Gericht wiederholte, es bestehe nur eine „Wahrscheinlichkeit“, dass Alexanders rechtmäßiger jüdischer Vater auch sein biologischer Vater sei.10

Die Lektüre von Mengeles Gutachten stützt die Wertung des Gerichts, dass Mengeles mehrdeutige Analyse in Kontrast zu seiner überzeugten Schlussfolgerung stand.11 Zu Mengeles Untersuchung gehörte, wann immer möglich, ein Vergleich von zwölf verschiedenen Bereichen, darunter Blutgruppe und Blutfaktor, Augen und Augenbrauen sowie Finger- und Fußabdrücke. Er fand nichts, was die Vaterschaft von Alexanders jüdischem Vater ausschloss, einige Bereiche der Ähnlichkeit machten die Vaterschaft „wahrscheinlich“, und es herrschte keine ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen dem Foto des angeblichen biologischen Vaters und dem Sohn. In diesem Fall fehlte für die Annahme der hohen Wahrscheinlichkeit der Vergleich von Blut oder Fingerabdrücken, denn der biologische Vater war tot. Außerdem schwächte die Verwendung von Fotos zu Vergleichszwecken jede Schlussfolgerung, weil sie zweidimensional waren und keine zuverlässigen Farbwerte für die Bewertung von Haut, Augen und Haar besaßen.

Der vom Urteil unangenehm überraschte Verschuer behauptete, es „untergrabe“ die Nürnberger Gesetze, indem es einen „Juden zu einem Halbjuden“ mache, und forderte eine definitive Bestimmungsmethode der Abstammung, die von den Gerichten anerkannt und nicht durch rassenkundlich unerfahrene Ärzte angefochten werden könne. In seiner Antwort an Verschuer kritisierte Dr. Walter Groß vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP Mengele wegen des „Mangels an klaren und präzisen Informationen“ und seiner „schwankenden“ Aussage vor Gericht. Er schloss: „Ich glaube nicht, dass das Gericht eine völlig klare Position des Assistenten [Mengele] ignoriert hätte.“12 Offenbar lernte Mengele aus seinem Fehler, bemerkt Weiss, denn sie fand kein weiteres Beispiel dafür, dass das Gericht ein Abstammungsgutachten von ihm infrage stellte.13

Mengele

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