Читать книгу Das Antikrebs-Buch - David Servan-Schreiber - Страница 11
Sterben? Unmöglich …
ОглавлениеUnd dann war da die quälende Frage nach dem Tod. Auf die Diagnose »Krebs« regiert man zunächst oft ungläubig. Wenn wir uns den eigenen Tod vorzustellen versuchen, begehrt unser Verstand auf: als ob der Tod nur andere treffen würde. Tolstoi beschreibt diese Reaktion großartig in Der Tod des Iwan Iljitsch. Wie viele andere erkannte ich mich darin wieder. Iwan Iljitsch ist Richter in Sankt Petersburg und führt ein geregeltes Leben, bis er eines Tages krank wird. Man verheimlicht ihm seinen Zustand, doch schließlich wird ihm klar, dass er dabei ist zu sterben, und alles in ihm sträubt sich gegen diese Erkenntnis. Unmöglich!
In seinem tiefsten Innern wusste Iwan Iljitsch, dass er sterben müsse, allein er wollte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen. Jenes bekannte Beispiel für Syllogismen, das er in der Logik von Kieswetter gelernt hatte: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich, war ihm sein ganzes Leben hindurch rechtmäßigerweise lediglich als auf Cajus anwendbar vorgekommen, keinesfalls aber auf ihn, Iwan Iljitsch selber. Jenes war der Mensch Cajus, der Mensch überhaupt, und für diesen war das Gesetz völlig gerechtfertigt; er indes war nicht Cajus und ebenso wenig der Mensch an sich, sondern er war ein Wesen völlig für sich und völlig von allen anderen verschieden; er war der Wanja mit seiner Mama und seinem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit Spielzeug und einem Kutscher, mit seiner Kinderfrau und späterhin mit Katjenka, kurz, mit allen Freuden, Leiden und Entzückungen der Kinderzeit und Jugend. War denn der Geruch des aus Lederstreifen zusammengesetzten Balles, den Wanja so geliebt hatte, etwa für Cajus bestimmt gewesen? Und hatte Cajus etwa, so wie er, die Hand der Mama geküsst? Und hatte vielleicht für jenen die Seide des Faltenkleides der Mama gerauscht? War es Cajus gewesen, der in der Rechtsschule wegen der Kuchen revoltiert hatte? Cajus, der so verliebt gewesen war wie er? Und verstand etwa Cajus so wie er eine Verhandlung zu leiten? Cajus war in der Tat sterblich, und wenn er starb, so war es ganz in Ordnung; ich dagegen, ich, Wanja, ich, Iwan Iljitsch, mit all meinen Gefühlen und Gedanken – bei mir ist es nun einmal eine ganz andere Sache. Und es kann ja gar nicht sein, dass auch ich sterben muss. Das wäre zu entsetzlich.1
Solange wir nicht ernsthaft krank sind, scheint das Leben unendlich, und wir schieben den Tod gern von uns weg. Wir denken wohl, dass immer noch Zeit ist, das Glück zu suchen. Zuerst muss ich meinen Abschluss machen, meine Schulden abbezahlen, die Kinder großziehen, in Ruhestand gehen … Über Glück mache ich mir später Gedanken. Wenn wir die Suche nach dem Wesentlichen immer auf morgen verschieben, riskieren wir, dass uns das Leben durch die Finger rinnt, ohne dass wir es jemals richtig genossen haben.