Читать книгу Das Antikrebs-Buch - David Servan-Schreiber - Страница 13
Die große Wende
ОглавлениеDie ganze Zeit konsultierte ich weiter Ärzte und wog das Für und Wider der verschiedenen infrage kommenden Behandlungen gegeneinander ab. Nachdem ich mich für eine Operation entschieden hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem Chirurgen, der mir genügend Vertrauen einflößte, dass ich ihm mein Gehirn anvertrauen wollte. Schließlich entschied ich mich für einen Arzt, der vielleicht nicht unbedingt als der Spezialist mit der besten Operationstechnik galt. Aber ich hatte das Gefühl, dass er am besten verstand, wer ich war und was ich erlebt hatte. Ich spürte, dass er mich nicht im Stich lassen würde, wenn es schlecht ausgehen sollte. Er konnte nicht sofort operieren, sein Terminkalender war voll. Zum Glück befand sich der Tumor zu der Zeit nicht in einer Phase raschen Wachstums. Ich musste mehrere Wochen auf einen Operationstermin warten und las in der Zeit etliche Autoren, die sich damit beschäftigt hatten, was man aus der Konfrontation mit dem Tod lernen kann. Ich stürzte mich auf Bücher, die ich einige Wochen zuvor ungeöffnet ins Regal zurückgestellt hätte. Dank Anna, die Schriftsteller aus ihrer Heimat liebte, las ich Tolstoi, und auch dank Yalom, der ihn häufig in seinem Buch zur existentiellen Psychotherapie zitiert. Ich las zunächst Der Tod des Iwan Iljitsch und dann Herr und Knecht, das einen tiefen Eindruck bei mir hinterließ.
Tolstoi erzählt darin vom Wandel eines Gutsbesitzers, der nur seine eigenen Interessen kennt. Mit dem Vorsatz, ein überaus lukratives Grundstücksgeschäft abzuschließen, bricht der Herr in der Dämmerung ungeachtet des schlechten Wetters in seinem Schlitten auf und gerät mit seinem Knecht Nikita in einen heftigen Schneesturm. Als er erkennt, dass dies wahrscheinlich seine letzte Nacht sein wird, ändert sich seine Haltung radikal. In einer letzten, Leben spendenden Geste legt er sich auf den erfrierenden Diener, um ihn mit seiner eigenen Körperwärme zu schützen. Er stirbt, rettet aber Nikita das Leben. Tolstoi beschreibt, wie der gerissene Geschäftsmann durch diese gute Tat einen Zustand der Gnade erreicht, den er nie zuvor in seinem Leben verspürt hat. Zum ersten Mal lebt der Gutsbesitzer in der Gegenwart. Während die Kälte in ihm emporkriecht, fühlt er sich eins mit Nikita. Sein eigener Tod spielt keine Rolle, solange Nikita lebt. Jenseits des eigenen Egoismus entdeckt er eine Wahrheit, die an die Essenz des Lebens rührt, und im Augenblick des Todes sieht er das Licht – ein helles weißes Licht am Ende eines dunklen Tunnels.
In dieser Zeit kam es zu einer entscheidenden Wende in meiner Arbeit. Bis dahin hatte sich meine Tätigkeit in erster Linie auf die Wissenschaft konzentriert; im Grunde betrieb ich Forschung um der Forschung willen, doch nun rückte ich immer weiter davon ab. Wie bei einem Großteil der medizinischen Forschung hatte die Arbeit in meinem Labor nur sehr theoretisch etwas damit zu tun, Leid zu lindern. Viele Forscher stürzen sich wie ich zu Beginn ihrer Laufbahn voller Begeisterung und Naivität auf eine Arbeit, von der sie glauben, dass sie Alzheimer, Schizophrenie oder Krebs heilen wird. Aber eines Tages, ohne dass sie wissen, wie es gekommen ist, arbeiten sie mit aller Leidenschaft nur noch daran, bessere Messtechniken für die Reaktion von Zellrezeptoren auf bestimmte Medikamente zu entwickeln. Schließlich haben sie genug Material beisammen, um Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen, Förder gelder zu sammeln und ihr Labor am Laufen zu halten. Doch vom menschlichen Leid sind sie meilenweit entfernt.
Die Hypothese, der Jonathan und ich nachgingen – die Rolle des präfrontalen Kortex bei Schizophrenie –, ist heute eine allgemein anerkannte Theorie, auf deren Grundlage weiterhin weltweit in zahlreichen Labors geforscht wird. Es war sicher solide wissenschaftliche Arbeit. Aber sie trug nicht dazu bei, Patienten zu heilen, nicht einmal ihren Zustand zu verbessern. Jetzt, da ich Tag für Tag mit der Angst vor Krankheit, Leid und Tod lebte, wollte ich genau daran arbeiten.
Nach meiner Operation nahm ich meine Forschung und meine Tätigkeit im Krankenhaus wieder auf und entdeckte entgegen meinen Erwartungen, dass mir nun meine Arbeit als Arzt am Krankenbett am meisten am Herzen lag. Als ob ich jedes Mal mein eigenes Leid ein bisschen lindern würde, wenn ich einem Patienten half, der nicht schlafen konnte oder dessen dauernde Schmerzen ihn fast in den Selbstmord trieben. Ich war einer von ihnen geworden. So betrachtet war meine Arbeit als Arzt nicht länger eine Pflicht, sondern sie wurde zu einem wunderbaren Privileg. Ein Gefühl der Gnade war in mein Leben getreten.